Juan Carlos Onetti: "Für diese Nacht"
"Für
diese Nacht" ist Juan Carlos Onettis dritter Roman.
Ursprünglich unter dem Titel "Auch für den Hund kommt
der Tag" geschrieben, weigerte sich Onettis Verleger zuerst, dieses
Buch unter dem Titel zu veröffentlichen, da er Bedenken hatte,
der Titel könne als Angriff auf den Machthaber verstanden
werden und zu Repressionen gegen den Verlag führen.
Den neuen Titel lieferte die Überschrift einer Rubrik in der
Zeitung "Critica", für die Juan Carlos Onetti gelegentlich
schrieb.
Die Inspiration zu diesem Roman hatte Juan Carlos Onetti, nachdem ihm
zwei Anarchisten, ein Italiener und ein Spanier, die gegen Francos
aufständische Truppen gekämpft hatten, vom Chaos in
der Stadt Valencia, zu dem es nach dem Zusammenbruch der
republikanischen Front gekommen war, erzählten. Sie
schilderten auch die spezielle Entsendung eines Schiffes zwecks
Evakuierung der Republikaner, für das jedoch nur Kommunisten
den speziellen, heiß ersehnten Stempel erhielten, der die
Rettung und Ausreise aus Valencia bedeutete.
Onettis Roman, dessen Handlung sich auf nur eine Nacht verteilt,
beginnt mit einem
Anruf, der dem Protagonisten Ossorio eine Passage in Aussicht
stellt. Ossorio wird in eine Bar gerufen, in der sich im Laufe dieser
Nacht einige gewaltsame Tode ereignen, Hoffnungen zerstreuen und
Freundschaften an Opportunismus und mangelnder Loyalität
zerbrechen werden. Bezeichnenderweise heißt Onettis Bar, die
im Mittelpunkt des Geschehens steht "The First and the Last".
Der Autor nimmt sich der menschlichen Psyche an, im Moment der
größten Verzweiflung im Kampf ums Überleben
und an dem Punkt, an dem sich die Frage der moralischen
Integrität stellt und der Mensch bewusst oder unbewusst
entscheidet, wie weit er bereit ist zu gehen, um seine eigene Haut zu
retten.
In diesem dichten amoralischen Nebel betrügt jeder jeden, und
die Machtverhältnisse ändern sich so schlagartig,
dass der Henker binnen Sekunden zum Gejagten werden kann.
Ossorios moralische Werte werden durch die Tochter seines Freundes, den
er zu seinen Gunsten an die Machthaber ausgeliefert hatte, ins Wanken
gebracht. Juan Carlos Onetti erlaubt somit auch in dieser
nächtlichen Hölle einen schwachen Lichtstrahl, der
ein Fünkchen Hoffnung zulässt.
"Für diese Nacht" ist Juan Carlos Onettis politischster Roman
und zugleich seine wahrscheinlich eindringlichste Auseinandersetzung
mit dem von ihm geliebten Genre des "Crime Noir". Leser von Raymond
Chandler werden sich in einigen Passagen an stilistische Momente und
Stimmungen aus den Romanen um Philip Marlowe erinnert fühlen.
Nichtsdestotrotz ist schon in "Für diese Nacht" viel von der
Genialität und Originalität der späteren
großen Romane des Autors vorhanden, man spürt, wie
Onetti seine Welt behutsam baut, wie er ausprobiert, um der Kunst
willen und um des ständigen Dranges, zu schreiben.
Svenja Beckers Übersetzung ist gut, wenn auch durch die
überstrapazierte Verwendung mancher Wörter, wie zum
Beispiel "Hundsfott" mit Verlauf des Romans etwas mühsam wird.
Alles in Allem, diese deutsche Erstveröffentlichung von
"Für diese Nacht" ist eine Glanztat und ein Geschenk an die
Leser, da damit die Lücken in Juan Carlos Onettis Gesamtwerk
endlich geschlossen werden und auch die weniger bekannten Werke des
Autors zugänglich sind.
(Roland Freisitzer; 02/2010)
Juan
Carlos
Onetti: "Für diese Nacht"
(Originaltitel "Para esta noche")
Aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp, 2009. 230 Seiten.
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Leseprobe:
I
Weiss hatte am Telefon gesagt:
"Sieht aus, als gäbe es eine Passage für Sie. Nicht
sicher. Ein Junge von
droben, er kennt Sie. Im First and Last. Sagt Ihnen was? Gut, heute
abend um
neun. Viel Glück, das war's. Schicken Sie welche von diesen
Ansichtskarten mit
Bucht, auf denen oben 'die Schönheiten der Welt' steht.
Tschau."
Ossorio betrachtete den Himmel, an dem er nichts als die Sterne sah.
Kein ferner
Lärm, der erheblicher gewesen wäre als die Musik in
den Cafés und die
Satzgeflechte mit ihrem genau in der Mitte plazierten
Gelächter, die auf die
Straße drangen, wenn für einen Augenblick die
Türen geöffnet wurden. Nichts,
was dort am Himmel gewesen wäre, kein Licht außer
den Sternen, keine Bewegung
außer den kleinen, rundlichen Wolken, die langsam vor dem
Mond vorbeizogen. Er
berührte das Bündel Scheine in seiner Hosentasche und
ging geradewegs von der
Bordsteinkante auf das erleuchtete Fenster zu, das von der
Straße durch ein
Kreuz aus Stäben getrennt war. Dort war eine Frau in
gelblicher Atmosphäre vor
einem Schrank mit Spiegel. Der Arm, angehoben, um die Frisur zu
richten, zeigte
eine dicke und kräftige Schulter, und in der eingegrabenen
Mulde der Achsel
glänzten die Härchen; der Rest ihres Körpers
war halb nackt, und er war
zerbrechlich im Dunkeln und unter den runden Muskeln der
großen, angehobenen
Schulter. Ossorio glaubte für einen Augenblick, das
Parfüm der fast
unbekleideten Büste durch die Fensterscheibe zu sehen.
Einen halben Block weiter hing die Ecklaterne, die Maschine des
Erdnußverkäufers pfiff zweimal und schickte der
Laterne einen flüchtigen
Nebel entgegen. Auf dem Schild an der Bartür stand The First
and Last, und die
Tür war zweiflüglig, eine Schwingtür, die,
angestoßen, unruhig vor und
zurück klappte, die Bewegung abgeschnittener Köpfe
sehen ließ und Beine, die
keinen Körper zu tragen hatten. The First and Last, hier war
es. 'Und der
Mensch ward verurteilt, Nadeln in Heuhaufen zu suchen', dachte er.
(...)
III
Nach wenigen Schritten in der Wärme blieb Ossorio vor einer
Frau stehen, stieß
fast an ihren Bauch. Die Frau sah, aufrecht neben ihm, weiter zu ihm
hin und hob
ihre Fingerspitzen vor ein scheues Lächeln.
"Ich tanze nicht", sagte Ossorio. Sie lachte und
entblößte
unvermittelt ihren Mund.
"Heute nacht wird nicht getanzt, niemand tanzt."
"Wieso heute nacht nicht?"
Er wußte, sie würde lügen, alle logen, als
könnten die Dinge dadurch, daß
man sie beim Namen nannte, heraufbeschworen werden. Sie log und wandte
dabei den
Kopf zur Saalmitte.
"Nein", sagte sie, "es ist sehr voll, und die Tanzfläche ist
mit
Tischen zugestellt." Dann fügte sie im Tonfall einer gewagten
Frage hinzu:
"Wir finden nie und nimmer einen freien Platz", und hängte
sich bei
ihm ein.
Ossorio verlagerte das rechte Bein ein wenig, um weiter das Gewicht der
Scheine
zu spüren. Er redete und betrachtete dabei die Gesichter im
Saal. 'Ich kenne
nicht einmal den Namen', dachte er und sagte dabei zu der Frau:
"Ein Jammer, daß wir keinen Platz finden, wo es soviel zu
sagen gäbe
..."
Sie ermunterte ihn, riß begeistert die Augen auf, strich
über seinen blanken
Hals mit ihren Fingern, die kurz und rosig waren, mit geschwollenen
Gelenken. 'Jedes
Gesicht könnte es sein', dachte Ossorio weiter.
"Sind Sie sicher, daß man sich nirgends hinsetzen kann?"
Die Frau sah ihm neugierig ins Gesicht und lachte gleich darauf.
"Aber ja", sagte sie. "Gehen wir in eine Nische."
Während sie gingen, richtete sich sein Argwohn auf die Stimme
der Frau, die
tief geklungen hatte, ausländisch. Dann tätschelte er
ihr die Wange und sagte:
"Wir können uns in irgendeine Nische setzen, und ich halte Sie
fest und
wärme Ihnen die Hände. Hören Sie, eins nur.
Wir werden uns immer, in jedem
Fall, siezen."
Sie nickte. In einer Ecke stand die Bühne für das
Orchester; an der
abgewandten Seite fanden sie einen freien Tisch und setzten sich mit
dem Rücken
an die Trennwand aus schwarzem Holz. Ossorio nahm seinen Hut ab und
umfaßte die
Hände des Mädchens, um sie zu wärmen.
"Noch etwas", sagte er. "Keinen Alkohol. Ich zahle alles
mögliche. Aber keinen Alkohol."
Sie lächelte weiterhin mit seliger und verkindlichter Miene;
sie streckte eine
Hand aus und strich Ossorio übers Gesicht, duckte sich zum
Lachen zusammen.
"Du bist stoppelig."
Er zog eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus der Tasche und
ließ den Beutel
einen Augenblick an einer gelben Schnur tanzend von seinem Finger
baumeln.
"Wir hatten ausgemacht, uns nicht zu duzen", sagte er.
"Oh, ja!" antwortete sie, und der glückliche Ausdruck
verbreitete
sich über ihr ganzes rundes Gesicht, und sie schlug die Augen
nieder und schob
die gespitzten Lippen vor. "Sie, Sie, Sie ..."
Das S wand sich ein wenig, ehe es sich vom Gaumen löste. Dann
kniff sie ihm ins
Kinn und wandte sich lachend dem Kellner zu.
"Für mich Anis. Für ihn, für Sie, keinen
Alkohol."
Ohne sich umzudrehen, klopfte Ossorio mit der Pfeife gegen die
Trennwand über
seiner Schulter.
"Was ist dort?" fragte er.
Er beugte sich zum Anrauchen vor und lehnte sich mit der Pfeife
zwischen den
Zähnen, von Rauch umgeben, erneut zurück. Die Frau
gab keine Antwort; als der
Kellner kam, schob sie Ossorio den Kaffee
hin, trank den Anis zur Hälfte und saß eine Weile
schweigend nach vorn
gelehnt, die Hände vorm Gesicht, die Daumenballen
kräftig gegen den Mund
gepreßt, während die ausgestreckten kurzen Finger
kaum die Brauen erreichten.
Er konnte die schmutzigen Fingernägel sehen, die runden,
fleischigen Ohren und
die gemalten, fast verwischten Linien über den Augen, anstelle
der abhanden
gekommenen Brauen. "Viens, viens ...", flüsterte sie; ihr
Gesicht war
entschlossen und erhitzt. Sie schob ihre Finger zwischen Beine und
Sitzfläche
und wiegte sich "viens, viens" summend im Rhythmus des Orchesters.
Bedächtig, ohne sie aus den Augen zu lassen, hob Ossorio den
Arm und klopfte
erneut mit dem Pfeifenholm gegen die Trennwand; da verstummte die Frau
und saß
still, verbarg ihren Blick und sagte schließlich undeutlich:
"Die Séparées sind da."
(...)