Thomas Bernhard: "An der Baumgrenze"
Erzählungen
Negative
Idyllen
Weswegen nun eine bereits im Jahre 1969 im Residenz-Verlag Salzburg
erfolgte
Edition dreier Bernhard'scher Geschichten bei Suhrkamp neu
aufgewärmt, pardon
aufgelegt wird, bleibt zunächst unplausibel. Und bereits
damals verwunderte
sich etwa Marcel
Reich-Ranicki, weswegen man gerade diese Erzählungen
zur Veröffentlichung
freigegeben hatte. (Immerhin gab es den Band damals noch für
DM 10,80!). Nun
kann man beileibe Bernhard (1931-1989) aus biologischen
Gründen heute keinen
Vorwurf mehr machen, dass er sich so nebenbei ein wenig bereichern
wolle - was
ist aber das Motiv des Suhrkamp-Verlags? Ruhm und Ehre des Autors zu
mehren oder
mangels besseren Nachwuchses an Schriftstellern immer wieder einmal
"ältere"
aufzuwärmen (wobei diese Vokabel hierbei auch schon wieder
makaber klingen
mag). Hatte doch auch bereits damals Reich-Ranicki konstatiert, diese
Geschichten seien "nicht in jeder Hinsicht für
Bernhard typisch".
Um grundsätzliche Missverständnisse zu vermeiden: Es
spricht nichts dagegen,
Texte im Laufe der Jahre immer wieder einmal zu lesen - manchmal hat
man einen
geistigen Gewinn davon. Daraufhin seien die hier angebotenen
Geschichten
fairerweise noch einmal kurz überprüft.
Die Erzählung "Der Kulterer" stammt bereits aus dem Jahr 1962,
wir
lesen von einem Mann, der ein Verbrechen (welches?) "wie in
radikaler
selbstmörderischer Bewußtlosigkeit"
begangen hatte. Indem er nun im
Gefängnis kleine Prosastücke verfasst, die er den
Mitgefangenen vorliest, möchte
er "inmitten von Schmutz und versauertem Idealismus"
ein "Gegengewicht"
bilden. Allerdings gelingen ihm nur traurige Geschichten. Am Tag der
Entlassung
fürchtet der Kulterer die Freiheit, weil er meint, "der
Sträflingskleider
entledigt, nicht mehr schreiben zu können." In der
offenen Welt gehen
ihm die "Konturen aller Begriffe" verloren, die im
Kerker für
ihn "klar" waren, weil er hier eine Ordnung
vorfand. Eigentlich
unwichtig zu wissen, dass es sich dabei um den 1911 geborenen Franz
Kulterer
handelt, der in der oberösterreichischen Strafanstalt Suben
einsaß. Wichtig zu
erkennen ist das Psychogramm dieses mustergültigen weil
einfältigen Häftlings,
der seine Strafe akzeptiert und sich im brutalen Strafvollzugsalltag
möglichst
unauffällig und willfährig verhält. Die
Geschichte bietet ein Musterbeispiel
einer Selbstverwirklichung in einer für Bernhard typischen
negativen Idylle.
Der Kulterer fürchtet sich vor dem Verlassen dieses
Schutzraums und muss
hinaustreten in eine Landschaft, die "von Hoffnungslosigkeit
dampft".
Von dieser Geschichte gibt es eine Verfilmung aus dem Jahr 1974 mit Helmut
Qualtinger in der Hauptrolle.
Das im Jahr 1963 geschriebene Fragment "Der Italiener" zeigt eine
kontroverse Situation: eigentlich erwartet man, dass der Gutsherr wie
alljährlich
unter seiner Regie ein Theaterstück aufführen
lässt, stattdessen bekommen die
Besucher die aufgebahrte Leiche eben dieses Adeligen
präsentiert - dieser hatte
sich "auf die bekannte grauenhafte Weise in seinem Zimmer
erschossen".
Der Erzähler ist der Sohn des Toten, er führt den
"Italiener" herum
und erklärt ihm die Theaterwelt seines Vaters. In der
Nähe des Lusthauses gibt
es ein Massengrab, in dem zwei Dutzend Polen verscharrt wurden, die von
Deutschen erschossen worden waren. Den Italiener interessiert "das
Politische" allerdings nur, "insofern als es meinen
Geschäften
nützt." Allerdings bemerkt er auch, es gebe "kein
Mittel, sich
selbst zu entfliehen." Eine eigenartig krude und
unausgegorene
Geschichte, die wohl Varianten des Todes und möglicher
Reaktionen darauf
umspielt.
In der Erzählung "An der Baumgrenze" versucht ein pedantischer
Beamter in einem Dorfgasthaus im Gebirge einen Brief an seine Braut zu
schreiben. Dabei beobachtet er ein junges Paar, dessen Ernsthaftigkeit
im Umgang
miteinander ihn sehr beunruhigt. Am nächsten Morgen stellt
sich heraus, dass es
sich bei den beiden um Geschwister handelte, die zur Baumgrenze
hinaufgestiegen
waren, um ihr Leben zu beenden, da sich offensichtlich ihre Liebe
zueinander
nicht erfüllen ließ. Im Grundmuster lässt
sich die Erzählung vergleichen mit
Stifters "Bergkristall":
Zwei Geschwister gelangen auf den Berg, sie
haben sozusagen ihren Weg verloren und kämpfen um einen
Ausweg. Dabei erzählt
Bernhard eigentlich von der Hölle, Stifter
vom Himmel, aber beide ähneln sich in ihrer
Totalität. Die Gesellschaft und
die Bergwelt sind Extrembereiche, die auch nicht über den
Begriff Heimat versöhnt
werden können.
Bernhard wollte eben Gefahren und Abgründe der menschlichen
Existenz allgemein
und der österreichischen im Besonderen illustrieren, indem er
Zwangsvorstellungen und Verbrechen, Mord und Selbstmord
inszeniert. Er liefert auf manische Weise ausschließlich
Makabres - aber
bereits Reich-Ranicki erkannte, dass er häufig "wo
er erschüttern
will, nur noch ermüdet." Das Problem an Bernhards
Schreibduktus ist,
dass er zu häufig räsoniert und zu selten
erzählt. Aber das ist eben seine
Auseinandersetzung mit der als chaotisch empfundenen Welt, in der
Verbrechen,
Krankheit, Verfall und Tod dominieren. Generell betreibt Bernhard eine
provozierende Demontage gesellschaftlicher und politischer
Lebenslügen. Die
Selbstbehauptung zwischen Wahnsinn und Scheitern wird zur
Lebensleistung seiner
Charaktere, wobei Bernhards Welt eher monologisch und destruktiv
erscheint.
Bereits beim ersten Erscheinen kokettierte Bernhard damit, dass seine
Prosa
lediglich eine Beigabe zu einem "bibliophilen Band"
sei, in dem
die Zeichnungen des "phantastischen Realisten"
Anton Lehmden
enthalten sein sollten. Nun freilich stellt sich kein einfacher
direkter Bezug
zwischen den Zeichnungen und den Texten her - aber wir wissen ja, auf
einer höheren
Ebene ist in der Kunst und im Leben alles möglich. Und so
akzeptieren wir eben
die Tatsache, dass es dem Suhrkamp-Verlag wichtig erschien, diese
Edition zu tätigen
- wichtiger, als einem lebenden, aufstrebenden Autor eine Chance zu
geben.
(KS; 06/2010)
Thomas
Bernhard: "An der Baumgrenze. Erzählungen"
Mit Zeichnungen von Anton Lehmden und einem Nachwort von Raimund
Fellinger.
Suhrkamp, 2010. 107 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Ein
weiteres Buch des Autors:
"Goethe schtirbt. Erzählungen"
Bei der Begegnung zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld in Wien
am 17. Jänner
1985 herrscht, wie der Verleger notiert, eine "blendende
Stimmung".
Der Autor ist sich sicher, "Alte Meister" in wenigen Wochen
abschließen
zu können - der letzte von Thomas Bernhard abgeschlossene
Roman erscheint tatsächlich
Ende desselben Jahres. Von den Gesprächen hält Unseld
einen Wunsch Bernhards
fest: "Dann läge ihm doch sehr an einem Band 'Goethe
schtirbt'. Er
enthielte die Texte 'Goethe schtirbt'. - 'Wiedersehen'. - 'Montaigne'.
- Und
zwei Stücke, die noch keinen Titel haben."
Zu Lebzeiten von Thomas Bernhard kam die Publikation dieser Anfang der
1980er-Jahre verfassten und in Zeitungen abgedruckten
Erzählungen nicht mehr
zustande: Zu sehr war der Autor mit seinem zunächst
zurückgehaltenen Romanopus
"Auslöschung" und mit dem Theaterstück "Heldenplatz"
sowie
dem dadurch entfachten Skandal befasst.
In "Goethe
schtirbt" werden diese Erzählungen zum ersten Mal,
dem
Wunsch ihres Verfassers entsprechend, in einem Band
zusammengefügt: Sie zeigen
den ironisch abgeklärten Meister der tragischen Momente und
komischen
Situationen, der auf der Höhe seiner Kunst Motive und
Strukturen seines
Gesamtwerks aufgreift: Von den Einsamkeitsexpertisen in "Amras", 1964
publiziert, bis zur Hassliebe gegenüber Österreich im
Spätwerk. (Suhrkamp). zur Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen