Ulrike Draesner: "Vorliebe"
Manchmal
ist das doch so, dass
man im Alltag plötzlich von dem eingeholt wird, was weit
zurückliegt und dann,
so ganz unerwartet, Tiefverborgenes wieder zu Tage fördert.
Das Dasein einmal
so richtig durchrüttelt, weil der Alltag doch nicht einfach so
alltäglich
dahin quillen kann. Oder?
Dieses Buch von Ulrike Draesner wird man nicht einmal einfach so
dahinlesen können.
Zurückblättern wird man müssen, um der
verzwickten Erzählstruktur folgen zu
können. Sich in Harriet, die Protagonistin, hineinfinden wird
man müssen, möchte
man in irgendeiner Weise die Chronologie des Romans als Leser in sich
aufnehmen.
Aber gerade das könnte dieses gewitzte Spiel sein, mit dem
Ulrike Draesner mit
"Vorliebe" aufwartet. Weil doch das Leben sich auch nicht so einfach
chronologisch lebt und man nicht immer geordnet denkt und sich durch
das Dasein
hindurch bewegt.
Doch wer ist Harriet, diese Astrophysikerin, durch deren Augen der
Leser in das
pralle Leben einer "gestandenen" Frau eindringt?
"Freundinnen konnte sie nicht fragen, sie hatte keine, sechs
Jahre
Nomadentum zwischen den verschiedensten, naturgemäß
weltweit verstreuten
astrophysikalischen Forschungsinstituten hatte Kontakte entstehen und
vergehen
lassen wie Wasserpflänzchen: treibt auf, reißt ab."
Nicht nur die Erzählweise scheint ganz postmodern gelagert zu
sein, auch
Harriets Leben ist durchtränkt von jenen allzu bekannten losen
Strukturen, die
Offenheit, Flexibilität, aber auch nahtlos damit versponnen
die Einsamkeit mit
sich selbst - intakte Beziehung hin oder her - parat hält.
Und wie es im Leben auch immer die Wahrnehmung ist, die uns in den
Tiefen
unserer Gedanken und Erinnerungen versinken lässt, so
changiert der Roman von
Ulrike Draesner zwischen Hier und Vergangenheit und verbindet diese
Ebenen so
undurchschaubar miteinander, dass man als Leser niemals ganz sicher
ist, ob die
Vergangenheit nicht auch ein Momentum, im wiedergefühlten
Zustand, der
Gegenwart
ist.
Als Ashley, Harriets Freund, beim Autofahren mit seinem Sohn die Frau
ihrer
Jugendliebe anfährt, gerät Harriets Leben, eine auf
Wirtschaftlichkeit und
Erfolg getrimmte Alltagswelt, aus den Fugen.
Eine interessante Spur des Erzählens sind die
fortwährend eingestreuten
Verweise auf Märchen und Geschichten, die wir alle noch aus
unseren Kindertagen
kennen. Oder auf die oftmals so harmlos dahergesagten Reime und
Sprüche.
Die Vergangenheit, die Kindheit, die Schulung für das
spätere Leben sind es,
die Harriet im vorangeschrittenen Alter der
vielleicht-doch-nicht-ganz-so-glücklichen
Karrierefrau begleiten und sie eines Morgens im Bett mit dem
unwiderstehlichen
Gedanken in den Tag starten lassen: "Warum nicht ein wenig
schnuppern an
der alten Wolfsblume O.?" O., das ist Olvaeus, Peter Olvaeus.
Diese
Jugendliebe, der Pfarrer.
Durch die assoziativen Verbindungen entstehen gewitzte, kokette,
manchmal derbe
Dialoge zwischen den Figuren - und immer ist den einzelnen Beteiligten
anzumerken, dass das Leben ganz klar ein Streben nach der
Aufmerksamkeit des
Anderen ist. Dass man sich in den Dingen, die vergangen sind, so gerne
suhlt,
weil sie im Jetzt der Unsicherheit noch so glänzend und frisch
sind und über
die Jahre zu großen Erlebnissen geworden sind -
größer zumindest als jedes
Erlebnis in seiner Unklarheit des Nach-Vorn-Hinlebens jemals sein
könnte.
Dass die Sehnsucht, etwas Anderes als nur das Alltägliche zu
erleben, einen
auch hier und da dazu treibt, die Wahrheit in ihrer Biegsamkeit
auszunutzen,
kann man dem gemeinen Menschen wohl nicht verübeln. Auch
Harriet nicht.
"Manchmal tropfte, was man sagte, dahin. Manchmal setzte es
sich zu
etwas Neuem zusammen. Manchmal, hieß es in alten
Büchern, verwandelte es sich
in einen Wurm. Der Vogel pfiff nun wirklich sehr laut."
Harriet ist die Tochter eines Inders, der Zahlen liebt, und einer
Deutschen,
Karolin, die ihr die blonden Haare vererbt hat. Harriet hat zudem die
Schwäche
für Mathematik.
Sie lernt das Zählen vom Vater, in
Situationen, wenn man nicht
weiter weiß, helfen einem die ruhigen Zahlen. Doch: "Dann
hatte Harriet
etwas anderes erfahren: dass sie ihren Körper brauchte, damit
die Wirklichkeit
wirklich war." Das ist einer der Momente in Harriets Leben,
der klar
macht, dass Zahlen nicht alles sein können. Dass es letztlich
die Präsenz des
eigenen Seins ist, das Erleben, das Handeln, die Aktion, die es
braucht, um
Wirklichkeit zu (er)leben. Diese Präsenz, die man manchmal
forcieren muss. Denn
Peter meldet sich nicht nach dem zufälligen Zusammentreffen im
Krankenhaus.
Also muss Harriet einen Weg finden.
Und so schleicht Harriet in Peters Leben. Weil sie die Neugier treibt,
weil sie
die Wirklichkeit um ihren Körper spüren will. Dass
der Leser dabei oft auch
verdutzt vor den Wendungen der Perspektiven steht, da die
Erzählführung
willentlich nicht zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart
unterscheiden möchte,
kann man mögen, aber auch verwerfen. Es macht den Roman
zumindest zu einem die
Aufmerksamkeit, die eigene Wahrnehmung schulenden Leseerlebnis und
führt ganz
direkt und ohne große kommentatorische
Erzählführung in ein Leben, das so
ohne Weiteres beispielhaft für das so vieler Anderer sein kann.
"[Erinnerung] sei eine Art Kängurubeutel. Habe
Zitzen, nähre, was auch
immer man hineinstecke, bringe dabei Dinge hervor, die man noch nie
gesehen
habe, nein, dies zuvor nicht gab!", sagt Peter an einem der
ersten
Abende der Wiederbegegnung zu Harriet in der Küche. Und dann
beginnt das, was
man Prickeln, Geheimnisse und eine Sehnsucht nennt, die so verboten
ist, dass
man sie erleben und mit ihr dem eigenen Körper Wirklichkeit
geben will.
Geschickt konterkariert Draesner Harriets Innensicht mit
Gedankenströmen der
anderen Figuren, und so entsteht ein Panorama aus alltäglichen
Vorstellungen
und Verlustängsten.
In Harriet und Peter prallen nicht nur Mann und Frau aufeinander, es
platzen
auch das rationale, mathematische und das metaphysische System
aufeinander.
Immer im Hinblick darauf, dass beides natürlich so
feinsäuberlich nicht zu
trennen ist. Dass es sich gegenseitig bedingt. So wie Mann und Frau.
Und wenn
diese beiden aufeinander prallen, gibt es oftmals Explosionen, nicht
nur
physische. Dass diese sich aber lohnen, und/weil man das Leben nur
einmal lebt,
bleibt lange noch zurück, wenn man die letzte Seite dieser
"Vorliebe"
ausgelesen hat.
(Christin Zenker; 06/2010)
Ulrike
Draesner: "Vorliebe"
Luchterhand Literaturverlag, 2010. 256 Seiten.
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Ulrike
Draesner, am 20. Jänner 1962 in München
geboren, studierte in München
und Oxford Anglistik,
Germanistik und Philosophie.
Sie gilt als eine der interessantesten
deutschsprachigen Schriftstellerinnen.
Zur Netzpräsenz Ulrike Draesners: http://www.draesner.de/de/.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"berührte orte"
Gedichte.
Ulrike Draesners Gedichte: Das sind immer schon Reisen, Expeditionen in
die
Zentren der Wahrnehmung,
in die Grenzzonen des Körpers und in eine plötzlich
leuchtende Außenwelt. In "berührte orte" wirft
Draesner das
sprachliche Netz nach wirklich bereisten Orten aus, fischt nach den
historischen, religiösen und medialen Phantasmen von
Städten wie Damaskus
oder Casablanca und lässt deren Wirklichkeit die Sprache in
Schwingung
versetzen. Wie fängt man es ein, dieses verrückt
machende süßluftige Aroma
aus - nichts? Kluge Beobachtung, der Mut, sich Fremdem zu
öffnen, gehören dafür
ebenso zum Handwerkszeug wie der findige Umgang mit Sprache und
Dichtungstradition. Auch Städte, die dem gemeinen
Mitteleuropäer näher zu
sein scheinen, kartografiert der Gedichtband: Mit Lessings Wald und
Brechts
Dänemark
wird der leidigen, glückvollen Beziehung von Ort und Wort
nachgeforscht. Doch
wer vom Reisen spricht, darf die Bewegungslosigkeit nicht verschweigen:
inmitten
der "berührten orte" findet sich eine Hymne an den
Bürodrehstuhl. (Luchterhand
Literaturverlag)
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"Schöne
Frauen lesen. Über Ingeborg Bachmann,
Annette von Droste-Hülshoff, Friederike
Mayröcker,
Virginia Woolf u.v.a."
Wir glauben sie alle zu kennen: Droste-Hülshoff,
Virginia
Woolf oder Ingeborg
Bachmann, denn sie sind Ikonen der Literatur. Aber kennen wir
auch ihr Werk?
Ulrike Draesner versammelt Autorinnen, die für sie als Leserin
und Schreibende
wichtig sind, bringt sie uns auf klarsichtige und intelligente Weise
näher und
untersucht, inwieweit deren Werke für ein heutiges Schreiben
relevant sind. Und
sie zeigt, wie sehr die "schreibende Frau" auch immer ein Skandal war,
schön und schräg, beängstigend und
verwirrend zugleich. (Luchterhand
Literaturverlag)
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