Elisabeth Badinter: "Der Infant von Parma oder Die Ohnmacht der Erziehung"
Aufklärung und Ohnmacht - die Geschichte eines Erziehungsexperiments
Der Ort des Geschehens: Das Herzogtum von Parma. 18. Jahrhundert. Die
Handlung: Die Erziehung des Infanten. Buchtitel, Buchumschlag und
Verlagsankündigung lassen einen historischen Thriller
vermuten. Immerhin ist da die Rede von einem einzigartigen
pädagogischen Experiment, dem der junge Prinz ausgesetzt wurde
und das trotz der besten Lehrer Frankreichs statt einen Herrscher der
Aufklärung einen Sohn der Finsternis gebar. Die Autorin, die
französische Soziologin Elisabeth Badinter, bürgt
für Qualität.
Parma, nunmehr Italien, also ein Ort der Finsternis? Über drei
Jahrhunderte existierte es als Herzogtum Parma und durchlief eine
unauffällige, aber sehr europäische Geschichte. Im
16. Jahrhundert gegründet als Lehen für einen
illegitimen Sohn des Papstes, von den Bourbonen und Habsburgern
regiert, von Napoleons Truppen besetzt und schließlich Teil
des Königreichs Sardinien. Kunstkennern ist die Kunstsammlung
des ersten Herrschergeschlechts, der Farnese, wohl ein Begriff, aber
ansonsten blieben ihre Herrscher unsichtbar für die
Geschichte. Bis jetzt. Bis auf Ferdinand von Parma, Enkel des
französischen Königs und Sohn einer Mutter, die ihn
zu einem Vorzeigefürsten der französischen
Aufklärung machen wollte und damit einen Gegenentwurf zum
Einfluss des italienischen Klerus.
Zwölf Jahre lang befand sich der Infant in strenger
Abgeschlossenheit mit seinen Lehrern. Hochangesehene Vertreter der
Aufklärung wie Condillac, dessen Philosophie die
Encyclopédie von Diderot und d'Alembert inspiriert hat, die
Patres Jacquier und LeSeur, deren physikalische Abhandlungen als
Standardwerke, galten sowie Abbe Millot, Historiker und
zukünftiges Mitglied der Académie
française, der den Gedanken Montesqieus und Voltaires
verpflichtet war. Er wird unterrichtet in Astronomie, Mathematik,
Navigation, Musik und Zeichnen, in Latein, Französisch und
Englisch. Der Unterricht erfolgt praktisch rund um die Uhr, die dazu
nötige Disziplin unterstützt mit einer Vielzahl von
Strafen. Kindheit war dabei nicht vorgesehen.
Das Kind versuchte früh, sich Nischen zu schaffen. Seine
Studierstube verwandelt er heimlich in eine Kapelle, er verehrte
Reliquien und Heilige. Gekonnt und beharrlich entzog er sich damit den
Ansprüchen seiner Erzieher. Auch das ist ein Akt der
Selbstbestimmung und des Widerstandes. Nur wird es bei Ferdinand keine
Phase in seiner Entwicklung sein, sondern er blieb in dieser
pubertären Rache sein Leben lang verstrickt. Eine Zeitzeugin
bemerkte hellsichtig, dass Ferdinand mit zehn Jahren zu einem Mann
gemacht und mit zwanzig zu einem Kind wurde.
Die europäische Aufklärung basierte auf einem
Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft. Hier wird sie zu
einem verbissenen Glauben, der durch nichts, vor allem nicht durch die
Wirklichkeit, zu erschüttern ist, und erscheint deshalb um
nichts weniger irrational als der religiöse Glaube,
Frömmelei und Aberglaube, die man damit zu vertreiben hoffte.
Über Glück und Wohlergehen der Menschen setzt man
sich genauso hinweg wie über Widerstände und die
normativen Kräfte des gelebten Lebens. Die Zeit der
Aufklärung ist auch eine Zeit der Erziehung, mit der die
Finsternis des Mittelalters verbannt werden soll. 1761 erscheint
Rousseaus "Emile oder Über die Erziehung", das mit seiner
These, dass alle Mensch gleich geboren und von Natur aus gut sind, eine
zukunftsorientierte Gestaltungseuphorie anstieß, die Teil
unserer Kultur wurde. Wo die Grenzen und Mängel dieser
Philosophie liegen, das zeigt äußerst anschaulich
Elisabeth Badinter anhand des Erziehungsprojekts "Ferdinand von Parma".
Gestützt auf zeitgenössische Quellen - Briefe,
Aufsätze, Autobiografien und Biografien, Berichte von
Zeitzeugen - zeichnet Badinter ein umfassendes und anschauliches Bild
dieses Erziehungsexperiments und der Protagonisten nach. Es ist eine in
sich geschlossene Arbeit über Grenzen und Ohnmacht von
Erziehung, vielleicht gar "große Kunst"
wie "Le Monde" befindet. Der Schwachpunkt der Studie liegt aber gerade
auch in ihrem exemplarischen Charakter, indem sie auf die Einbeziehung
eines größeren historischen Kontextes verzichtet.
Badinter geht nicht weiter darauf ein, was denn nun so einzigartig an
Ferdinands Erziehung war. Die strenge, autoritäre
Pädagogik war Usus nicht nur in den Herrscherhäusern,
das Scheitern von Erziehungsmaßnahmen damals wie heute
häufig. Ein vergleichender Blick auf die Erziehungsinhalte und
Erziehungsmethoden des Adels und regierender Geschlechter wäre
sicherlich erhellend, eine Analyse der damit verbundenen politischen
Intentionen aufschlussreich. Aus der Geschichte herausgehoben wird die
Studie zu einem funkelnden Mosaikstein, der fasziniert, dem aber der
Platz noch im großen Bild fehlt.
Ferdinand von Parma, ein Sohn der Finsternis? Er wurde jedenfalls kein
alles überstrahlender aufgeklärter Herrscher.
Stattdessen verhalf er dem Klerus zur Wiedergewinnung seiner Macht und
führte erneut die Inquisition ein. Er verbrachte die
Hälfte seiner Tage in dunklen Kirchen und entwickelte eine
sinnliche Lust an Tanz und Frauen. Badinters Fazit ist
nüchtern. Sie sieht ihn als zerrissenen Menschen, als einen "frömmelnden
Aufklärer", der an die magische Kraft der Reliquien
glaubt und gleichzeitig mit Interesse den Fortschritt der
Wissenschaften verfolgt. Der Untertitel des Buches könnte
statt "Die Ohnmacht der Erziehung" auch "Die Ohnmacht der
Aufklärung" lauten. Die Erziehung des Infanten von Parma im
Namen fortschrittlicher Aufklärung ist weniger ein Beweis
für die Ohnmacht von Erziehung, sondern dessen, dass sachliche
Aufklärung gepaart mit Unterdrückung und Negierung
psychischer Bedürfnisse kein Erfolgsrezept ist. Im Gegenteil.
Es führt genau zu dem, was man vermeiden wollte. In diesem
Falle zu einem frömmelnden, wenn auch gebildeten Herrscher.
Das aufklärerische Experiment mitsamt seinen Akteuren versank
damit mit dem Herzogtum in den Tiefen der Geschichte.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 04/2010)
Elisabeth Badinter: "Der Infant von Parma oder Die Ohnmacht der Erziehung"
Aus dem Französischen von Thomas Schultz.
C.H. Beck, 2010. 144 Seiten.
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Elisabeth
Badinter, geboren 1944, lehrt als Professorin für Philosophie
an der Pariser Elitehochschule Ecole Polytechnique. Zu ihren
Arbeitsgebieten gehören die Epoche der Aufklärung und
die Geschichte der Frauen.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Der Konflikt. Die Frau und die Mutter"
Die Freiheiten, die sich Frauen einmal erkämpft haben, sind seit 30 Jahren
zunehmend bedroht - in Deutschland noch mehr als in Frankreich. Elisabeth
Badinter, Feministin, Philosophin und Erfolgsautorin, macht dafür die neuen
Ideale von der perfekten Mutter verantwortlich. Sie flößen allen Müttern ein
schlechtes Gewissen ein, die ihrem Kind nicht ständig den Vorrang vor sich
selbst, ihrem Partner und ihrem Beruf einräumen. "Ich bin eine
mittelmäßige Mutter, wie vermutlich die meisten Frauen", sagt Elisabeth
Badinter. Doch so freimütig äußern sich heute nur wenige. Dominiert wird das
neue Mutterbild vom Diktat der Natur. Natürlich sei, so heißt es, die
ständige Nähe zwischen Mutter und Kind; sie sei für die gesamte Entwicklung
des Kindes unverzichtbar. Natürlich sei das Stillen; es sei daher weit über
das erste Jahr hinaus moralisch geboten. Und überhaupt müsse man Frauen über
ihre natürliche Mutterrolle definieren. Aber was ist wirklich natürlich? Und
sollen Frauen im Namen der Natur wieder verzichten lernen? Elisabeth Badinter
scheidet in ihrer klugen Polemik die Wahrheiten von den Mythen des nur angeblich
Natürlichen. Gegen das moralische Diktat der Natur setzt sie die Freiheit der
Frauen, ihr eigenes Leben und die Beziehung zu ihren Kindern selbst zu
gestalten. Schließlich führt die Angst, keine vollkommene Mutter sein zu
können, bei vielen Frauen zum Verzicht auf Kinder. Ein
weitsichtiges Buch, das zum Umdenken zwingt. (C.H. Beck) zur Rezension ...
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