Richard Thiess: "Mordkommission"
Wenn das Grauen zum Alltag wird
Über
den Alltag in einer Mordkommission
Kann das Wort Alltag dem Arbeiten in einer Mordkommission
überhaupt in irgendeiner Weise gerecht werden? Kaum, denn: "Die
Wirklichkeit stellt jeden Krimi in den Schatten." Diesen Satz
finden wir auf der Rückseite des Buchumschlags, und wer das
Buch "Mordkommission" gelesen hat, der wird nicht umhin
können, dem beizupflichten. Kein Drehbuchautor scheint den
Fällen, die das Leben beziehungsweise in diesen besonderen
Fällen leider der Tod schreibt, Paroli bieten zu
können. Und die Fälle, über die Richard
Thiess hier berichtet, legen auf beredte Weise Zeugnis ab nicht nur von
menschlicher Grausamkeit, die sich manchmal kaum nachvollziehen und
begreifen lässt, sondern auch von der Dramaturgie des Zufalls,
der bisweilen Ereignisketten schmiedet, die von jedem Kinobesucher, der
sich einen Film anschaut, als völlig unglaubwürdig
und unrealistisch abgetan würden.
Die Härte des von Richard Thiess Geschilderten ist
nüchtern, mitunter brutal. Tatrelevante Fakten werden von ihm
sachlich aber dennoch ungemein spannend aufbereitet und dem Leser
dargeboten, so dass das Buch in seinem Unterhaltungswert beinahe jeden
Krimi schlägt. Das verlangt dem Autor allerdings eine
schwierige Gratwanderung ab, die er aber souverän meistert.
Einerseits möchte er fernab allem Pathos und ohne an die
Sensationslust seiner Leser appellieren zu müssen, die
Arbeitsweise einer Mordkommission schildern, möchte weit
verbreitete Klischees von Supermännern und Helden
ausräumen, andererseits muss er den Vorgaben des Verlages
Folge leisten, der natürlich in erster Linie auf die
Höhe der verkauften Auflage schielt.
Nun sind Sachlichkeit und eine gewisse Distanz den Dingen
gegenüber gewiss vonnöten in einem Beruf wie Richard
Thiess ihn ausübt, doch des Autors Sachlichkeit ist keineswegs
kühl, sondern wird getragen von einer sympathischen
Wärme, und das selbst angesichts der schrecklichen
Geschehnisse, über die er hier berichtet. Und es wird wohl
kaum einen Leser geben, der Herrn Thiess seine Menschlichkeit, seine
mitfühlende Wärme und Anteilnahme nicht abnehmen
würde. Befremdlich wirkt in diesem Zusammenhang manchmal nur,
wenn er vom Jagdfieber spricht, das ihn und seine Kollegen erfasst. An
anderer Stelle relativiert er das jedoch und versichert, dass es nicht
ein Gefühl des Triumphes ist, was man nach einer erfolgreichen
Ermittlung verspürt, sondern vielmehr Leere und
Erschöpfung. Und auch diese Versicherung mag man Herrn Thiess
unbenommen abnehmen.
Wenn der Leser auch nichts grundlegend Neues über die
Polizeiarbeit erfährt, viele der Maßnahmen, die im
Zuge von polizeilichen Ermittlungen zum Tragen kommen, werden hier doch
transparenter und verständlicher. Wir erfahren zum Beispiel,
dass die Vernehmung nach wie vor das Kernstück polizeilicher
Ermittlungsarbeit darstellt, sogar im Zeitalter von
DNS-Analyse und modernster Computertechnik. Und der Leser
erhält auch einen Einblick, wie so eine Vernehmung in etwa
abläuft. Ganz beiläufig verrät uns Richard
Thiess auch noch einiges über die entlarvende
Körpersprache eines Lügners.
Des Öfteren konnte ich mich während der
Lektüre des Gefühls nicht erwehren, dass auch noch
etwas Unausgesprochenes zwischen den Zeilen dieses Buches
präsent ist, eine unterschwellige Kritik an gewissen
Missständen in unserem Rechtssystem, die Herrn Thiess, seinen
Kolleginnen und Kollegen die Arbeit nicht gerade leicht machen. Wo
Richard Thiess aber explizit Kritik äußert, da tut
er das in eher moderater Form, etwa wenn er im Rahmen seiner
Reflexionen über Recht und Gerechtigkeit
Unverständnis äußert angesichts der
Tatsache, dass von ihren Partnern bedrohte Frauen sich in ein
Frauenhaus flüchten müssen, während sich der
gewalttätige Mann frei und ungehindert bewegen kann. Oder wenn
er beklagt, dass Asylbewerber sich in einer Unterkunft melden, ohne
dort einzuziehen, nur um sich so einer Strafverfolgung zu entziehen
oder gar, um weitere Straftaten zu begehen. Des Weiteren kritisiert
Richard Thiess aber auch die Lethargie des Unbeteiligtseins weiter
Kreise der Bevölkerung namentlich in den großen
Städten. Mangelndes Interesse am Nachbarn und fehlende
Zivilcourage scheinen hier wohl an der Tagesordnung zu sein.
Respekt verdient meines Erachtens, dass der Autor die Herkunft und
Nationalität der Täter nicht einfach verschweigt, was
ihm in Anbetracht seiner krassen Verbrechensschilderungen leicht den
Vorwurf eintragen könnte, einer Fremdenfeindlichkeit Vorschub
zu leisten. Ein Vorwurf, der aber völlig abwegig
wäre, so meine ich. Vermisst habe ich die oder wenigstens
einen der ungeklärten Fälle, die es doch gewiss auch
gegeben hat während Herrn Thiess' langjähriger
Tätigkeit als Mordermittler. Im Buch finden nur
aufgeklärte Mordfälle Erwähnung.
Alles in allem handelt es sich bei "Mordkommission" um ein sehr
lesenswertes Buch, ein Buch, das Spuren hinterlässt beim Leser
und nachdenklich macht, was sicherlich auch in der Intention des Autors
gelegen hat.
(Werner Fletcher; 03/2010)
Richard
Thiess: "Mordkommission. Wenn das
Grauen zum Alltag wird"
dtv premium, 2010. 240 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Buch
bei Libri.de bestellen
Noch
ein Buchtipp:
Stephan Harbort: "Wenn Frauen morden. Spektakuläre
Fälle - vom Gattenmord
bis zur Serientötung"
Eine Frau, die im Laufe weniger Jahre drei Ehemänner mit
Pflanzengift ermordet.
Eine mehrfache Mutter, die neun Säuglinge teilnahmslos ihrem
Schicksal
überlässt. Eine Altenpflegerin, die aus Habgier 17
vollbrachte und 18
versuchte Morde an Patienten zu verantworten hat.
Warum werden Frauen zu Serienmörderinnen? Der Kriminalist
Stephan Harbort
erzählt die Geschichten der spektakulärsten
weiblichen Verbrechen, spricht mit
Mörderinnen und analysiert Motive - spannend, authentisch und
mit großem
Einfühlungsvermögen. (Piper)
Buch
bei amazon.de bestellen