Sofja Tolstaja: "Lied ohne Worte"
Weltenleid
und Liebesglück!
Unschwer erkennt man, dass die Autorin ihre eigene Ehe zum Vorbild
genommen hat,
sich vieles von der Seele zu schreiben, was ihre Ehe mit
Lew Tolstoi ausgemacht
und in langen Jahren belastet hat.
Hier geht es um eine junge Ehefrau, Sascha, die mit dem Provinzbeamten
Pjotr
Afanassjewitsch verheiratet ist. Er ist ein gutmütiger aber
wenig einfühlsamer
Mensch. Nach dem Tod der geliebten Mutter ist Sascha niedergeschlagen
und
verzweifelt und fühlt sich ganz und gar verloren in der Welt.
Als sie in ihrem
Sommerhaus vom Nachbarn Melodien von Mendelssohns "Lieder ohne Worte"
hört, verliert sie ihren Kummer, und sie sieht sich
getröstet und glücklich.
Unvergleichlich sind die poetischen Betrachtungen der als feinsinnig
beschriebenen Frau in der Natur und beim Rauschen eines Baches. Sie
begegnet
ihrem Musiknachbarn bei einem Spaziergang an diesem Bach und ist
freudig bis
schamhaft erregt. Die Stille und Ruhe, die von der Schilderung des
Lebens und
den Umständen der Zuneigung von ihr zu dem Musiker ausgeht,
ist von
bestrickendem Zauber. Sätze wie diese: "(...) nur
der Bach mit seinem
eintönigen leichten Murmeln unterbrach die Stille"
bieten Einblicke in
eine ruhige Landschafts- und Seelenschau, wie sie nur das 19.
Jahrhundert
hervorbringen konnte. Jenes Glücksgefühl, das Musik
im Menschen auslösen
kann, ist in der herrlichen Beschreibung enthalten, in der "(...)
die wüste,
peinigende Verzweiflung über die Vergänglichkeit und
das menschliche Leben,
das so voller Leiden, Verführungen und Übel war, sich
löste" und "alles
wurde klar wie der Himmel nach einem Gewitter".
Wie schon in "Eine Frage der Schuld" werden von der Autorin Sofja
Tolstaja Frauenbilder geschildert, die zart, sensibel und
ätherisch den schönen
Künsten zugetan und mit grobschlächtigen und wenig
empfindsamen Männern
verheiratet sind. Parallelen zu Sofjas eigener Ehe mit dem in ihren
Augen
egoistischen Tolstoi klingen an.
Sofja hat gegen den Widerstand ihres Mannes ihre eigenen geistigen
Fähigkeiten
und Interessen verfolgt. In ihren Niederschriften findet sich das Bild
der schöngeistigen
und sensiblen Frau wieder, als die sie sich selbst sah, verheiratet mit
eigensüchtigen
Ehemännern, gegen die sie sich behaupten müssen.
In ihren Romanen bleiben diese Frauen zarte und feinfühlige
Gestalten. Sie
befinden sich weit entfernt von rabiaten Emanzipationsstrebungen
heutiger Zeiten
und scheinen sich durch Beharrlichkeit und schwärmerische
Begeisterung von
ihren Ehemännern ab- und idealisierten Künstlern in
platonischer Liebe
zuzuwenden. Dass die Geschichte hier entgleitet und zu einem tragischen
Ende führt:
Wer weiß, wie weit sich Sofja Tolstaja in ihrer Protagonistin
wiedergefunden
hat?
Die Autorin beweist mit diesem kleinen Roman erneut ihr Talent, das
hinter dem
großen Schatten ihres Mannes ganz verloren gegangen war.
Poetisch, feinsinnig
und von Gefühlsüberschwang beflügelt ist ihr
ein kleines romantisches
Meisterwerk gelungen, das jeden Literaturliebhaber begeistern
müsste.
(Claudine Borries; 05/2010)
Sofja
Tolstaja: "Lied ohne Worte"
(Originaltitel "Pesnja bes slow")
Mit Nachwort von Natalja Sharandak
Aus dem Russischen von Ursula Keller.
Manesse, 2010. 256 Seiten.
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Sofja
Andrejewna Tolstaja (1844-1919) wuchs in
Moskau als Tochter eines Arztes auf. Sie legte den
höchsten
Bildungsabschluss
ab, der ihr möglich war, als den Frauen in Russland das
Universitätsstudium
noch nicht gestattet war - das Hauslehrerinnenexamen. Im Alter von
achtzehn
Jahren heiratete sie den wesentlich älteren, bereits bekannten
Schriftsteller
Lew Tolstoi. Vor ihrer Hochzeit hatte sie selbst geschrieben, nun aber
gab sie
alle eigenen literarischen Ambitionen auf und widmete sich ganz der
Kunst ihres
Mannes. Unermüdlich übertrug sie die oftmals fast
unentzifferbaren, mit unzähligen
Korrekturen übersäten Manuskripte Tolstois in
Reinschrift.
Den größten Teil ihres Ehelebens verbrachten die
Tolstois auf ihrem Landgut
Jasnaja Poljana. Sie hatten dreizehn Kinder; fünf von ihnen
starben jedoch,
bevor sie das Schulalter erreichten. Sofja Tolstaja führte ihr
Leben lang
Tagebuch, aber erst spät begann sie wieder, literarische Texte
zu verfassen.
Weitere Buchtipps:
Sofia Tolstaja: "Eine Frage der Schuld"
Wessen Schuld ist es, wenn aus Liebe
Lieblosigkeit wird, aus
Leidenschaft Wahn,
aus Begehren
Überdruss?
Sofja Tolstajas Roman zeichnet das differenzierte Porträt
eines sich mehr und
mehr entfremdenden Paares.
Dass hochbegabte Frauen im Schatten hochbegabter Männer
stehen, ist nichts Außergewöhnliches.
Dem Angebeteten zuliebe leisten sie Verzicht, werden im besten Fall zu
Musen, im
schlechtesten zu Haushälterinnen. Dies ist auch das
persönliche Schicksal der
Sofja Tolstaja. Über Jahrzehnte hinweg war sie ihrem Mann, dem
berühmten
Tolstoi, treue Gefährtin, verständige Erstleserin und
Kritikerin seiner Werke,
Schreibkraft, "Ehefrau im althergebrachten Sinne"
(nach
Tolstois eigenem Bekunden) und nicht zuletzt Mutter von dreizehn
gemeinsamen
Kindern. Niemand konnte ahnen, dass sich hinter der Frau an Tolstois
Seite eine
exzellente Schriftstellerin verbarg, hatte sie doch ihre erste
Erzählung vor
der Hochzeit verbrannt.
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Lew
Tolstoi, Sofia Tolstaja: "Die
Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld"
Das Landgut des Ehepaars Tolstoi war häufig Schauplatz
heftiger
Meinungsverschiedenheiten. Mit der berühmten "Kreutzersonate"
verlagerte sich die Kontroverse auf eine literarische Ebene. Zum 100.
Todestag
Lew Tolstois stellt dieser Band die skandalumwitterte
Erzählung und Sofja
Tolstajas Antwort darauf gegenüber: "Die
Kreutzersonate" tritt so in einen faszinierenden Dialog mit
dem Roman
"Eine Frage der Schuld", der Entdeckung des Bücherjahres 2008.
"Die Kreutzersonate" erzählt die irritierende Geschichte eines
innerlich zerrissenen Menschen, den die Eifersucht zu einer unfassbaren
Tat
treibt - und der seine Ehefrau für sein Verderben
verantwortlich macht. Das
Buch war ein Skandal: Tolstoi offenbarte darin eine schockierende
Einstellung
der Ehe und den Frauen gegenüber; die Welt sah sich als Zeuge
einer
persönlichen Abrechnung des Autors mit seiner Ehefrau. In
ihrer literarischen
Replik zeichnet Sofja Tolstaja das Porträt eines Paares aus
der weiblichen
Perspektive und schildert eindringlich das Drama einer Entfremdung.
(Manesse)
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