Leo N. Tolstoj (1828-1910): |
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Vom Ideal völliger Keuschheit als Lebensart unbändiger
Sexualität
Im Jahre 1889 überraschte Tolstoj
seine Leserschaft mit einer gar sonderbaren Novelle, mit welcher der Autor zur
allgemeinen Verwunderung eine extreme Sexualfeindlichkeit bekundete. Es handelte
sich bei dieser Erzählung um die, während einer Zugbahnfahrt dargelegten, Geschichte
des Eifersuchtsmordes eines Mannes an seiner Ehefrau, die unter dem Einfluss
sinnenreizender Musik - Beethovens
Kreutzersonate - ihre längst schon ruinierte Ehe durch ein sexuelles Abenteuer
mit einem jungen Musiker bricht. Womit die Handlung in ihrem Grundzug auch bereits
hinreichend beschrieben ist, da "Die Kreutzersonate" eher eine Stimmung sittlicher
Verworfenheit zum Gegenstand hat, hingegen das eigentliche Geschehnis auf das
Wesentliche einer medialen Kurzmeldung beschränkt bleibt, wie man es auch im
Chronikteil von Tageszeitungen lesen kann. Das Handlungsgerüst beruht auf einer
wahren Begebenheit, die der Schauspieler V.N. Andréjev-Burlák im Juni 1887 seinem
Bekannten Tolstoj erzählt hatte und diesem somit gewissermaßen als Kurznotiz
bekannt war.
Daneben findet sich eine Fülle von moralisierenden Gedanken zur
lasterhaften sexuellen Praxis der Geschlechter, über die zur Sinnlichkeit aufstachelnden
Koketterie des Weibes und über die Ehe als Freibrief für alle niederen Lüste.
Der Geschlechtstrieb sei, wo und wie er sich auch immer äußern mag, ein Übel,
ein furchtbares Übel, das man bekämpfen müsse und nicht fördern, wie das in
Gegenwartsgesellschaften ohne Unterlass geschehe.
Die Worte im Evangelium, dass
jeder, der ein Weib ansieht, um ihrer zu begehren, mit ihr schon die Ehe gebrochen
hat in seinem Herzen, seien nicht nur auf fremde Frauen bezogen, sondern hauptsächlich
auf die eigene Frau. Und Tolstoj bezeugte unverhohlene Misanthropie, wenn er
seinem Protagonisten zu folgender Erklärung ansetzen lässt: "Die Menschheit muss untergehen? Ja, gibt es denn einen Menschen, der - seine Weltanschauung
mag sein, wie sie will - daran zweifelt? Das ist doch ebenso gewiss wie der
Tod. Alle Kirchen lehren, dass diese Welt untergehen muss, und alle wissenschaftlichen
Theorien besagen das gleiche. Warum soll es denn sonderbar sein, wenn die Sittenlehre
zu demselben Ergebnis kommt?"
Diesem generalisierenden Abgesang auf die Menschheit,
auf Ehe und Sexualität reichte Tolstoj einen 1890 geschriebenen Epilog nach,
in dem er seine schon in der Novelle geäußerte Sexualkritik in persönlicher
Stellungnahme als sein Anliegen bestärkte und darüber hinaus noch einmal
eine rigorose Ablehnung jeder Form von Geschlechtlichkeit bekundete, die nun
nicht mehr einer konstruierten Romanfigur in den Mund gelegt war, sondern ausdrückliches
Bekenntnis des Autors war. Selbst in der Ehe sollten demnach Mann und Frau aus
moralischen Gründen wie Bruder und Schwester leben und die Ehe nicht durch sexuellen
Verkehr verunreinigen. Dass strenge sexuelle Enthaltsamkeit ein Erlöschen der
Menschheit zur Folge haben würde, sei aus moralischer Gewissenhaftigkeit hinzunehmen,
sei darüber hinaus im ewigen Sittengesetz begründet und zudem ja wirklich kein
Unglück. Der Tolstoj-Biograf Janko Lavrin kommentierte diese Haltung eines
moralischen Rigorismus mit trefflicher Prägnanz als "Amoklauf puritanischer
Logik", die, kurz gesagt, nicht darauf abzielt, dass das moralische Gesetz der
Menschheit diene, sondern die Menschheit solle der Moral zum Opfer gebracht
werden. Man fühlt sich in diesem Zusammenhang an die Misanthropie des Philosophen
Schopenhauer erinnert, welcher das Leben als eine missliche Sache befand und
dessen alles Leben verneinender Pessimismus von Tolstoj als geniale Philosophie
erachtet wurde. In seinem Epilog forderte Tolstoj nachdrücklich, dass die Ansichten
über die sexuelle Liebe zu ändern seien, in dem Sinne, dass weder vor noch nach
der Verheiratung die Geschlechtsliebe als etwas Poetisches und Erhabenes betrachtet
werde, sondern als etwas, das den Menschen auf die Stufe des Tieres erniedrigt;
ferner sollte ein Verstoß gegen das bei der Heirat eingegangene Versprechen
der Treue von der öffentlichen Meinung mindestens ebenso verurteilt werden wie
Nichteinhaltung finanzieller Verpflichtungen und betrügerische Handelsgeschäfte;
aber man dürfe die eheliche Untreue nicht noch verherrlichen, so wie es der
Brauch sei. Zur Forderung einer Kriminalisierung der Sexualität fehlte jetzt
nur noch ein kleiner Schritt, und die einigermaßen geschockte russische Intelligéncija
fragte sich irritiert, was mit dem Autor von so fabelhaften Büchern wie
"Krieg und Frieden" und "Anna Karénina" für eine Wesenswandlung vor sich
gegangen sei.
Ein eingehender Blick auf Charakter
und Leben des großen Belletristen mag uns seine sonderbare Wandlung zum verbissenen
Moralisten erhellen helfen, die bei genauerem Hinsehen schon in jüngeren Jahren
einsetzte, später bloß noch eskalierte und keineswegs allein als Charakteristika
des alternden Tolstoj verkannt werden sollte.
Lev Nikolájevitsch Tolstoj wurde
am 28. August 1828 als zweitjüngstes von fünf Kindern des Grafen Nikoláj Iljítsch
Tolstoj geboren. Nach dem Tod der Mutter (1830) und dem Tod des Vaters (1837)
wurde der Vollwaise durch seine Tante Pelagéja Júschkova erzogen. Sein 1844 an
der Universität von Kasánj aufgenommenes Studium der orientalischen Sprachen,
später Rechtswissenschaften, beendete er 1847 ohne Abschluss. Der Neunzehnjährige
fühlte sich als Versager und wollte mit einem umfangreichen Programm der Selbsterziehung
und Selbstbewährung alles wieder gut machen. Im Zentrum seines Sinnens stand das
Gefühl eines moralischen Auftrags, der ihm vorerst befahl seinen Leibeigenen zu
helfen. Tolstoj stürzte sich mit Enthusiasmus in sein humanes Experiment, doch
prallten alle seine Anstrengungen an dem angeborenen Misstrauen und der Feinseligkeit
der Bauern gegenüber dem Adel ab. Im Jahre 1852 wurde Tolstoj als Kadett in die
Armee aufgenommen, nahm an Kämpfen gegen die feindseligen Zschetschenzen teil,
wobei er sich tapfer schlug, beteiligte sich am Krim-Krieg (1854-1855) und führte
bis zu seinem Austritt aus der Armee im November 1856 gemeinsam mit anderen Offizieren
ein lasterhaftes Leben, bestehend aus Trinken, Kartenspielen und einer ständigen
Jagd auf Frauen - wenn er welche finden konnte. Seine Tagebucheintragung vom 4.-7.
Mai 1853 enthält z.B. folgenden Satz: "Ich muss eine Frau haben. Die Sinnlichkeit
lässt mir keinen Augenblick Ruhe." Am 25. Juni: "Bin die ganze Woche so ausschweifend
gewesen, dass ich sehr krank und deprimiert wurde, wie es immer geschieht, wenn
man mit sich selbst unzufrieden ist." Und am 9.-15. Juli: "Gestern wurde
ich durch ein hübsches Zigeunermädchen gereizt, aber Gott rettete mich." Schon
solche kurzen Bekenntnisse genügen als Beweis dafür, dass Tolstoj kein Sensualist
mit gutem Gewissen war noch sein konnte, stellt sein Biograf Janko Lavrin fest
und fährt fort zu charakterisieren: Während Tolstoj als Mensch das Leben spontan
in einem heidnischen Sinne liebte, d.h. außerhalb von moralischen Kategorien,
forderte sein innerer fragender und suchender Doppelgänger immer nachdrücklicher
- sogar in jenen Tagen - einen Sinn des Lebens, um dessentwillen er nicht nur
seine eigene Existenz, sondern jedes Sein hätte annehmen und rechfertigen können.
Das Leben und der Sinn des Lebens! Hier berühren wir die innere Dialektik von
Tolstojs Gesamtentwicklung. Wenn das Lebensgefühl mit all seinen "tierischen Instinkten"
in ihm oftmals elementar und sozusagen jenseits von Gut und Böse beheimatet war,
so nahm seine Frage nach dem Sinn des Lebens stets einen moralischen Standpunkt
ein: was muss man tun, wie muss man handeln, um auf rechte Weise zu leben?
In
diese Zeit ausschweifender Lebensführung fallen auch die ersten Veröffentlichungen
des Schriftstellers, wobei es sich um Kriegsberichte bzw. Kriegserzählungen über
die letztlich vergebliche Verteidigung der Festung Sevastópol gegen die Franzosen
handelt. Diese patriotisch gestimmten Darstellungen brachten ihrem Autor landesweiten
Ruhm und bestärkten den späteren Antimilitaristen Tolstoj in seinem Beschluss,
seiner literarischen Berufung Folge zu leisten. In dieser Zeit keimt in ihm auch
die vermessene Idee, sein Leben der Gründung einer neuen Religion zu widmen, einer
Religion Christi, wie er in sein Tagebuch notiert, nur gereinigt von
Dogmen und Mystik - einer praktischen Religion, die nicht künftiges Heil verspricht,
sondern Heil auf Erden gibt. Vorläufig
war Tolstoj jedoch noch mit profaneren Angelegenheiten befasst. So
musste er den aus 36 Räumen bestehenden Haupttrakt seines
Herrenhauses in Jásnaja Poljána verkaufen, um seine
horrenden Spielschulden bezahlen zu können. Im Alter von 34 Jahren
überwand Tolstoj seine moralisch bedingte chronische Abscheu vor
Liebe und Frauen und ehelichte am 23. September 1862 das
achtzehnjährige Mädchen Sóphia Andréjevna
Tolstoja, geborene Behrs, welche, obwohl schon so halb einem anderen
Mann versprochen, der Aussicht nicht widerstehen konnte, Gattin des
bereits mit literarischem Ruhm beladenen und von ihr angebetenen
Schriftstellers zu werden, der nebenbei als Graf das bürgerliche
Mädchen in den Adelsstand erhob. Das gemeinsame Eheleben
gestaltete sich für das junge Mädchen jedoch
enttäuschend, welches die unbändige Libido ihres Gatten
kennen lernte und der - so verraten uns ihre Tagebucheintragungen -
seine Frau keine Liebe spüren ließ, obwohl er
ursprünglich gemeint hätte, aus liebender Leidenschaft in den
Stand der Ehe einzutreten. Was da nun zwischen den Eheleuten
tatsächlich geschah, muss von Tolstojs Seite kaum einem Akt
zärtlicher und hingebungsvoller Liebe geglichen haben. Es gelang
der jungen Frau jedoch, sich in verhältnismäßig kurzer
Zeit in ihre Lage einzufinden, und die Ehe entwickelte sich fortan als
Auf und Ab, wobei Sóphia ihr Bestes tat, um Tolstoj bei seiner
schriftstellerischen Arbeit zu halten, um derentwillen er jetzt sogar
seine ihm so bedeutsame pädagogische Tätigkeit aufgegeben
hatte (Tolstoj unterrichtete seit dem Herbst 1859 die Kinder seiner
Leibeigenen, was den größten Teil seiner Zeit und Kraft
beanspruchte). Unter diesen günstigen Umständen entstanden im
Zeitraum von 1864-1869 das grandiose Russland-Epos "Krieg und Frieden"
sowie zwischen 1875-1877 der gesellschaftskritische Roman "Anna
Karénina", womit sein Schaffen am schöpferischen
Höhepunkt angelangt war. Im letzten Teil von "Anna
Karénina" kündigt sich bereits die eigene innere Krise
Tolstojs an, der beim offiziellen Christentum keine Antwort auf sein
geistiges Fragen und Suchen findet und immer entschiedener nach
moralischer Vollkommenheit strebt. Diese Krise wird den dritten
zeitlosen Klassiker aus Tolstojs Feder zum Ergebnis haben: "Die
Kreutzersonate".
Es ist nicht richtig zu behaupten, die innere Krise wäre
gleich einem Schlag aus heiterem Himmel über Tolstoj hereingebrochen. Seit jeher
war Tolstoj ein Zweifler gewesen, der leidenschaftlich nach einem Lebenssinn suchte
und in dessen Innenwelt natürliche Neigung und moralischer Anspruch einander auf
das Heftigste befehdeten. Seine innere Zerrissenheit in triebhafte Körperlichkeit
und vergeistigte Askese, bei gleichzeitiger Lebenspraxis im Sinne triebhafter
Zügellosigkeit, veranlasste schon den jungen Tolstoj zu scharfer Selbstkritik,
wie sie sich in Tagebuchaufzeichnungen des jungen Mannes dokumentiert: "Ich
bin hässlich, unordentlich und gesellschaftlich unerzogen. ... Ich bin unkeusch,
unentschlossen, unbeständig, auf dumme Weise eitel und leidenschaftlich wie alle
Charakterlosen. ... Wenn ich die Wahl hätte zwischen Ruhm und Tugend, würde ich
oft den ersteren vorziehen." Gepeinigt durch innere Widersprüche strebte schon
der junge Mann nach moralischer Selbstvervollkommnung und gelangte solcherart
in einen krassen Gegensatz zu seiner Lebensführung, die von einer hypersexuellen
Natur getrieben, sich gerade in jungen Jahren als unersättliche Hurerei gebärdete.
Selbst noch der greise Tolstoj soll - vertraut man den Aufzeichnungen seiner Frau
Sóphia Andréjevna - der Sinnlichkeit übermäßig zugesprochen
haben.
Die Krise, welche sich nun anbahnte, war ihm wohl schon
altgewohnt, doch eskalierte sie wie nie zuvor in seinem Leben. Tolstoj wurde
plötzlich von heftigen Todesvorstellungen befallen, so dass er meinte den Verstand
darob zu verlieren. In panischer Angst vor der Vorstellung eines metaphysischen
Nichts suchte er mehr denn je nach einem Halt im christlichen Glauben. Seinem
bereits während des Krim-Krieges 1855 konzipierten Plan einer Religionsgründung
folgend, die als eine von Dogmen und Mystik gereinigte Lehre Christi gedacht
war, begab sich Tolstoj zunehmend in offenen Widerspruch zur
russisch orthodoxen Amtskirche, was die Zensurierung seiner religiösen Schriften
und letztlich seine Exkommunizierung im Jahre 1901 zur Folge hatte (staatlicherseits
stellte man ihn bereits 1882 unter geheime Polizeiaufsicht). Die Erkenntnis
der sozialen und sittlichen Verelendung proletarisierter Menschenmassen in den
großen Städten vollzog den Wandel des ehemaligen Belletristen zum religiösen und sozialen Denker. Über seine ur-christlich anarchistische Gesellschaftslehre
wurde Tolstoj zum schärfsten Kritiker der bestehenden Gesellschaftsordnung,
welche er als ungerecht und sittlich verworfen erkannte. Die Erde sei ein Jammertal,
mit dem man sich nicht abfinden dürfe. Jenseitsverheißungen seien abzulehnen,
solange sich auf Erden massenhaftes Elend breit mache. Eine Revolution der Herzen
solle Menschen und Gesellschaftsverhältnisse neu gestalten helfen. Reiche mögen
nach christlichem Gebot ihren Reichtum an die Armen verteilen und selbst ein
sittlich geläutertes Leben in materieller Bescheidenheit und Gleichheit führen.
Tolstoj, dem es immer darum zu tun war,
Anspruch und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, machte knapp vor seinem
Ableben im Jahre 1910 selbst ernst mit seinen Vorsätzen und ließ, in grobe Bauernkleidung
gehüllt, all den Luxus seines Herrensitzes hinter sich. Die ferne Gestalt des
russischen Grafen verklärte sich, für ein aufrührerischen Ideen gegenüber aufgeschlossenes
Publikum, zum Propheten, und überall in Europa entstanden Kommunen, die danach
trachteten, ihr gemeinsames Leben nach den Ideen des Tolstojanismus zu führen,
wofür man etwa im russischen Zarenreich mit Verbannung bestraft wurde. Und es
war vor allem dieser die Herzen bewegende Tolstojanismus, welcher Tolstojs Werk
zuerst in Westeuropa bekannt machte, wo alle jene gesellschaftskritischen Schriften,
deren Druck in Russland verboten war, verlegt wurden. Erst später wurde man auch
des Autors von "Krieg und Frieden" der "Anna Karénina" und der "Kreutzersonate"
gewahr.
Im Jahre 1889 beendete Tolstoj die Arbeit an einer seiner
bekanntesten doch zugleich befremdetsten Erzählung: "Die Kreutzersonate". Der
inhaltlichen Zielsetzung nach stellt dieses Buch eine drastische Streitschrift
gegen den Sexus dar, welcher den Menschen verdirbt und jeden Versuch seiner
sittlichen Entfaltung im Hier und Jetzt zunichte macht. Die Vehemenz, mit welcher
Tolstoj das Institut der Ehe attackiert, verweist auf eine unterschwellige Unzufriedenheit
mit dem eigenen Eheleben, und tatsächlich schrieb seine Ehefrau Sóphia Andréjevna
am 12. Februar 1891 in ihr Tagebuch: "In meinem Herzen fühlte ich, dass die
Erzählung direkt gegen mich gerichtet war. Sie hat mich in den Augen der ganzen
Welt verletzt und die letzten Reste von Liebe zwischen uns zerstört."
Dass die "Kreutzersonate" bei aller allgemeinen Moralkritik
auch ein Offenbarungseid über das eigene Sexual- und Eheleben ist, wenn man
Textauszüge wie den nachfolgenden betrachtet, der die erste Zeit eines - seines?
- Ehelebens beschreibt: "Sosehr ich mich auch bemühte, unsern Honigmond recht
schön zu gestalten - es kam nichts dabei heraus. Die ganze Zeit empfand ich
Ekel, Scham und Langeweile. Am dritten oder vierten Tage sah ich, dass meine
Frau ganz traurig dasaß, ich fragte sie, was ihr fehle, umarmte sie, denn ich
glaubte, das wäre alles, was sie jetzt wünschen könnte, aber sie schob meinen
Arm zurück und fing an zu weinen. Worüber? Sie wusste es nicht zu sagen. Aber
es war ihr schwer und weh ums Herz. Wahrscheinlich hatten ihre gequälten Nerven
sie die Wahrheit über unser ekelhaftes Verhältnis empfinden lassen, sie wusste
es nur nicht zu sagen. ... Ich warf ihr Launenhaftigkeit vor, und plötzlich
veränderte sich ihr Gesicht vollständig; nicht mehr Kummer, sondern Ärger sprach
aus ihm, und mit überaus giftigen Worten warf sie mir Egoismus und Grausamkeit
vor. Ich sah sie an. Ihr ganzes Gesicht drückte eine eisige Kälte und Feindseligkeit,
ja geradezu Hass gegen mich aus. Ich erinnere mich, wie entsetzt ich war, als
ich das sah. 'Wie?' dachte ich, 'Liebe soll doch ein Seelenbündnis sein, und
sieht es so damit aus? Das kann nicht sein, das ist sie gar nicht!' ... Die Verliebtheit
war durch die Befriedigung des sinnlichen Triebes aufgezehrt worden, und nun
standen wir einander in unserem wahren Verhältnis gegenüber, das heißt: als
zwei einander völlig fremde Egoisten, die voneinander möglichst viel Genuss
zu gewinnen suchen. ... Ich begriff nicht, dass dieses kalte und feindselige
Verhältnis unser normales Verhältnis war, ich begriff es nicht, weil dieses
feindselige Verhältnis in der ersten Zeit sehr bald wieder verhüllt wurde durch
die neu aufsteigende erhitzte Sinnlichkeit, das heißt die Verliebtheit."
Erinnern
wir uns angesichts dieser Textstelle an den Anbeginn der Ehe zwischen Lev Tolstoj
und Sóphia Andréjevna im Jahre 1862. Es kam ab der Eheschließung vom 23. September
1862 zu häufigen Auseinandersetzung, die junge Frau litt unter der unbändigen
und jegliche Zärtlichkeit und Hingabe meidenden Sinnlichkeit ihres Gatten, und
schon wenige Tage nach der Eheschließung, am 2. Oktober 1862, schrieb die desillusionierte
Sóphia in ihr Tagebuch: "Er liebt es, mich zu quälen und mich weinen zu sehen,
weil er kein Vertrauen zu mir hat. ... Ich werde mich allmählich in mich selbst
zurückziehen und werde sein Leben vergiften ... Gewiss, es macht ihn nicht glücklich,
mich weinen zu sehen und mir zum Bewusstsein kommen zu lassen, dass etwas in
unseren Beziehungen nicht stimmt, und dass wir früher oder später geistig verschiedene
Wege gehen werden." Und drei Tage später: "Mein Mann ist böse, übelgelaunt
und liebt mich nicht. Ich habe es erwartet, aber wusste nicht, dass es so schrecklich
sein würde. Ich begreife nicht, wieso die Leute darauf kommen, dass ich unendlich
glücklich sei." Sóphia, die sich noch persönlich beim Zaren Alexander III. für
eine Druckerlaubnis für die von der Zensur verbotene "Kreutzersonate" verwendete,
gab sich in der Tat über die Motive ihres Gatten keiner Illusion hin. Die Bitternis
ihres unglücklichen Bewusstseins spricht aus ihren Tagebucheintragungen vom
Februar und März des Jahres 1891: "Ich weiß, dass ich ihm im Wege bin, wenn
er mich nicht zu seiner Befriedigung braucht. ... Wenn nur die Leute, die die
Kreutzersonate mit solcher Hochachtung lesen, einen Augenblick das erotische
Leben sehen würden, das er führt - und das allein ihn glücklich und heiter macht
- sie würden diesen kleinen Gott von dem Sockel herunterholen, auf den sie ihn
gestellt haben ... es ist nicht schön, ein Tier zu sein, aber es ist auch nicht
gut, ein Prediger von Prinzipien zu sein, die man selbst nicht imstande ist
durchzuführen."
Den Geschlechtsverkehr mit ihrem Gatten ließ Sóphia nur mit
Widerwillen über sich ergehen, und sie sehnte sich nach einem platonischen Verhältnis,
was sie schließlich auch um 1895 in ihrer tiefen Freundschaft mit dem Pianisten
und Komponisten Tanéjev für sich fand. Tolstoj, dem eine keusche Seelenfreundschaft
zwischen einem Mann und einer attraktiven Frau unmöglich erschien, reagierte
mit rasender Eifersucht und erzwang den Abbruch der Beziehung. Man meint die
Handlung der "Kreutzersonate" in diesem privaten Geschehen des Ehepaars Tolstoj
wiederzuerkennen. Wie auch immer, die "Kreutzersonate" markiert den Anfang
des letztlich katastrophalen Endes der Ehe zwischen Tolstoj und Sóphia.
Daran
änderte auch der Umstand nichts, dass Tolstoj die Ehe in der "Kreutzersonate"
ganz allgemein als schändliches Verhältnis denunzierte, das fatalerweise im
Einzelnen immer den Eindruck hinterlässt, es wäre sein persönliches schmachvolles
Unglück, weshalb er es nicht nur vor den Anderen, sondern sogar vor sich selbst
geheim hält, es sich selbst nicht einmal eingestehen mag. Tolstoj, der laut
den Tagebuchnotizen seiner Frau Sóphia während seiner Arbeit an der "Kreutzersonate"
eine besonders sinnliche Periode durchgemacht haben soll, hinterlässt mit diesem
offenbar anstößigen Buch der Nachwelt das Dokument eines Kreuzzugs gegen den
eigenen ungezügelten Sexus, welcher die ehrlichen Ideen des großen Moralisten
vor sich selber ins Obszöne abdriften ließ und den Schöpfer großer Weltliteratur
vor seinem eigenen unbestechlichen Blick einer lebenslangen Lächerlichkeit preisgab.
(misanthropos)
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