Janet Frame: "Wenn Eulen schrein"
Eine
packende Geschichte aus Neuseeland
Die Veröffentlichung von Janet Frames erstem Roman "Wenn Eulen
schrein" in einer überarbeiteten Übersetzung ist ein
absoluter Lichtblick im Dickicht der Neuveröffentlichungen der
letzten Monate.
Es ist wahrscheinlich unmöglich und unsinnig, die Literatur
der am 28. August 1924 im neuseeländischen Dunedin geborenen
und am 29. Jänner 2004 ebenso in Dunedin verstorbenen
großen Autorin ohne Kenntnis ihrer Lebensumstände zu
betrachten, obwohl die Qualität ihrer Werke auch so unschwer
erkennbar ist. Janet Frame galt, als schüchternes,
verträumtes und introvertiertes Kind, bereits in der Schule
als Außenseiterin. Die Tochter eines Bahnbediensteten lebte
mit ihren vier Geschwistern in äußerst
ärmlichen Verhältnissen ohne Warmwasser und Strom in
einem schlecht isolierten und im Winter daher eiskalten Haus. Zwei
Schwestern ertrinken auf unterschiedliche Art und Weise, der Bruder
George ist Epileptiker. Schon während der Schulzeit versuchte
sie sich an ersten literarischen Arbeiten und Gedichten, die ihr
über die verschiedenen Widrigkeiten des Lebens hinweghalfen.
Sie wird Lehrerin, bis sie ungefähr ein Jahr nach
Dienstantritt während einer Schulstunde aus dem Klassenzimmer
läuft, da sie die Aussicht, für den Rest ihres Lebens
zu unterrichten, unmöglich findet. Als ihr
anschließender Selbstmordversuch scheitert, wird sie in eine
psychiatrische Klinik eingeliefert und dort fälschlicherweise
als schizophren diagnostiziert. Sie wird acht Jahre lang in dieser
Klinik mit entsetzlichen Methoden behandelt, von ungefähr
zweihundert Elektroschockbehandlungen bis hin zum Ziehen aller
Zähne. Hier entsteht ihre erste Kurzgeschichtensammlung, deren
Verkaufserfolg und die Verleihung des "Hubert Church Preises" eine
bereits vorgesehene Lobotomie verhindert.
Nach der Entlassung aus der Klinik beginnt sie, untergebracht beim
Schriftsteller Frank Sargeson, mit der Arbeit an dem Roman "Wenn Eulen
schrein" ("Owls do cry"), der unter Anderem natürlich eine
Verarbeitung ihrer Kindheit ist.
Ihr Roman geht allerdings ganz eigensinnige literarische Weg, fordert
den Leser auf, sich uneingeschränkt hinzugeben und auf das
Buch einzulassen. Vor allem ist der erste Teil, der Jugendteil, immer
zwischen den etwas abwegigen und fast surrealen Gedankengängen
und dem wirklichen Geschehen hin- und herpendelnd, teilweise
verwirrend, aber ungemein spannend, der jungen Protagonistin auf der
Spur zu bleiben.
Janet Frame zeichnet ein bestechend genaues und ins Mark treffendes
Bild einer armen neuseeländischen Familie, deren Mitglieder,
so meint man, allesamt etwas wahnsinnig sind, wenn man
herkömmliche Maßstäbe anlegt, die aber auch
vermuten lassen, dass die Normalität der Mitmenschen dem
Wahnsinn und der Verrücktheit möglicherweise
näher ist als die vermeintliche eigene Verrücktheit.
Während der Vater immer arbeitet, der Bruder an seinen
epileptischen Anfällen leidet, und die Mutter versucht, alle
Konflikte mit selbstgebackenen Plätzchen zu lösen,
stirbt die ältere Schwester in einem tragischen Unfall.
Gleichzeitig singt Daphne ihre Lieder aus der
Irrenanstalt.
"Und Kindheit ist nichts, sie ist nur der Wind in der
Telegrafenleitung, der dort hängt, weil er geheult hat, das
Zahnweh im schwarzen Loch der Nacht, der zu große
Körper, der sich im zu kleinen Kinderbett krümmt, die
Großmutter, die sich in der heißen Sonne Virginias
schindet, Großmutter, was hast du für
große Augen; und der Junge im Bauch des Fuchses, schnipp,
schnipp, aufgetrennt, Junge, Mädchen oder Tag gefangen im
luftlosen Bauch der Erinnerung."
Alltag pur, mit vielen Beschreibungen der ärmlichen Kleidung
der Kinder, detailgenauer Beschreibung der Müllhalden, die den
Kindern als Spielstätten dienen. Doch ist dieser Alltag, mit
allen seinen detaillierten Zuständen und Schilderungen,
spannender erzählt als ein wirklich guter Krimi.
"Ich scheine tatsächlich nie mehr als das Datum zu
wissen, seit ich mein altes Tagebuch verloren und das neue angefangen
habe. Ich kann nicht begreifen, was mit dem alten passiert ist. Tim
zieht mich auf und sagt, er habe es versteckt und lese es mit
großem Spaß; aber ich weiß, dass er mich
nur aufzieht. Ich erinnere mich, ich habe es verloren, nachdem Toby
abgefahren war, und Toby ist ganz plötzlich abgefahren, die
Kinder hätten in der Nacht glatt verbrennen können
..."
Janet Frame schafft Passagen von so ungeheuerlich evozierender, von
jeglicher Kontrolle losgelöster Angst, wie sie
wahrscheinlich nur möglich sind, wenn die Selbstkontrolle
durch Elektroschock außer Kraft gesetzt wird.
Besonders eingeprägt haben sich die Gesänge Daphnes
aus der Anstalt sowie die Tagebucheinträge der jungen Chicks
(Teresa), die nur so perfekt und angepasst sein will, wie alle
vermeintlich sind, die aber draufkommen muss, dass selbst die scheinbar
perfekten Nachbarn nicht so perfekt sind, wie sie sich gerne geben.
Janet Frames Prosa ist poetisch und extrem wandelbar, sie findet
für jede Figur eine eigene Stimme, die Neubearbeitung der
alten Übersetzung von Ruth Malchow durch Karin Nölle
hat diesen Roman nun näher an das wunderbare englische
Original gebracht.
Ein wunderbarer, trauriger, mitreißender Roman einer ganz
großen, im deutschsprachigen Raum extrem
unterschätzten bzw. viel zu unbekannten Autorin. Der Rezensent
hofft, dass durch diese Veröffentlichung und die Einladung an
Neuseeland
als Gastland bei der "Frankfurter Buchmesse" 2012 weitere
Schätze von Janet Frame in deutscher Sprache neu aufgelegt
oder gar neu- oder erstübersetzt werden.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 04/2012)
Janet
Frame: "Wenn Eulen schrein"
(Originaltitel "Owls do cry")
Aus dem Englischen von Ruth Malchow. In der Überarbeitung von
Karen Nölle.
C.H. Beck, 2012. 287 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Janet
Frame ist Autorin von zwölf Romanen sowie fünf
Erzählsammlungen, darunter "Die Lagune". Sie
veröffentlichte Gedichte und ein Kinderbuch. Ihre
Autobiografie "Ein Engel an meiner Tafel", die von Jane Campion
verfilmt wurde, gehört zu den bedeutendsten Beispielen
für dieses Genre im 20. Jahrhundert. Janet Frame
zählte zu den Anwärterinnen für den Literaturnobelpreis.
Bei C.H.Beck erschien mit großem Erfolg ihr nachgelassener
Roman "Dem neuen Sommer entgegen" zum ersten Mal auf Deutsch (2010):
"Dem neuen Sommer entgegen"
"Dem neuen Sommer entgegen", 1963 in
London geschrieben, ist erst nach
dem Tod Janet Frames veröffentlicht worden. Ihr erschien
dieser Roman zu persönlich, um ihn zu Lebzeiten zu publizieren.
Grace Cleave verbringt ein Wochenende außerhalb Londons. Die
junge Schriftstellerin aus Neuseeland wird von einem Kritiker, der es
gut mit ihr meint, zu sich in den Norden Englands eingeladen. Aber
gerade die schlichte Herzlichkeit und das Verständnis ihrer
Gastgeber stellen Grace auf eine schwere Probe. Sie fühlt sich
wie ein Zugvogel,
auch, weil das Heimweh nach Neuseeland an ihr zehrt
und ihr ganzes Leben im Ausland als flüchtig und
vorübergehend erscheinen lässt. Alles Menschliche ist
ihr irgendwie fremd, sie sucht nach ihrem Platz in der Welt - und muss
ihn erst in ihrer eigenen Haut finden, ob gefiedert oder nicht.
Wunderschön geschrieben, mit einer fast überwachen
Genauigkeit, anrührend und auch komisch, ist dieser Roman aus
dem Nachlass von Janet Frame ein weiteres Zeugnis dafür, dass
diese Autorin zu den bedeutendsten der Literatur des 20. Jahrhunderts
gehört. (C.H. Beck)
Buch
bei amazon.de bestellen