Verena Moritz, Hannes Leidinger: "Oberst Redl"
Der Spionagefall, der Skandal, die Fakten
Oberst Redl und Österreichs
größter Spionagefall
In der Nacht vom 24. zum 25. Mai 1913 verübte Oberst Alfred Redl,
Generalstabschef des 8. Korps in
Prag und ehemaliger
stellvertretender Chef des k.u.k. Nachrichtendienstes, im Hotel Klomser in der
Herrengasse in Wien Selbstmord. Einige Tage später wurde er in aller Stille
begraben. Trotz oder wegen versuchter Geheimhaltung fanden die Ereignisse bald
ihren Weg in die Öffentlichkeit und entwickelten sich zum größten Skandal der
Habsburgermonarchie.
Handelte es sich doch um Geheimnisverrat unbekannten
Ausmaßes, und außerdem spielten homosexuelle Beziehungen eine Rolle. Beides
bestens geeignet, um die Gerüchteküche anzuheizen und Stoff für unzählige Mythen
und Legenden zu bieten. Dass ein derartiger Verrat an höchster Stelle in einer
Zeit, die zwischen latenter Kriegsgefahr und kleineren Kriegsherden einem ersten
globalen Krieg zusteuerte, der die großen Monarchien Kontinentaleuropas
hinwegfegen sollte, eine Katastrophe in jeder Hinsicht darstellte, war von
Anfang an bittere Wahrheit. Welche Geheimnisse, welche Informationen Redl
tatsächlich an das Zarenreich und später auch Frankreich und Italien weitergab,
wusste man nicht. Militär, Regierung und Monarch vertuschten so gut es ging, und
die entsprechenden Akten lagen bis vor Kurzem in Moskauer Archiven unter
Verschluss. Zur hundertsten Wiederkehr des Spionageskandals bzw. des Todestages
von Oberst Redl liegt nun mit Hilfe der erstmals zugänglichen Materialien eine
umfassende Aufarbeitung und Neubewertung sowohl der historischen Fakten als auch
aller sich darum rankenden Mythen und Legenden vor. Autoren sind die Wiener
Historiker Verena Moritz und Hannes Leidinger, die schon mit ihrem Buch über den
k.u.k. Geheimdienstchef Ronge ("Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des
Geheimdienstchefs Maximilian Ronge" 2007) den Grundstein für die Beschäftigung
mit dem Redl-Skandal gelegt haben.
Mit viel Witz und Charme bewirbt der Verlag das Buch, indem er die historische
Arbeit als kriminalistische Spurensuche interpretiert und dementsprechend die
Aufmachung einer Kriminalakte bzw. Geheimdienstakte wählt. Sogar das
Rezensionsexemplar wurde entsprechend aktenmäßg geliefert. Zwar nicht von einem
Boten, aber eingepackt in braunem Packpapier, mit Spagat zugeschnürt und einem
großen Stempel "Geheim" versehen. Das Verlagsprospekt selbst ist ebenso
originell im Stil einer Akte des k.u.k. Kriegsministeriums gestaltet:
Gegenstand der Akte - Ausspähung, Hochverrat, Selbstmord. Verdachtnahme: Mythen-
und Legendenbildung, unzulässige Vermischung von Fakten und Fiktionen.
Ermittlungsziel - Präzise Rekonstruktion der Ereignisse. Ermittlungsergebnisse -
Der Fall Redl ist der größte Spionagefall der österreichischen Geschichte.
Derartig eingestimmt ist man geneigt, sich sofort in die Lektüre zu stürzen,
mit angehaltenem Atem dem Ermittlungsgang zu folgen und sich schrittweise mit
den Ermittlern, also den Historikern, der Lösung des Falls zu nähern. Zudem
kann man sich mit ruhigem Gewissen in den Fall einlesen, da die Autoren seriöse
Wissenschaftler sind und das Buch selbst höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen
genügt. Neben einer detaillierten Konstruktion der Abläufe an diesen Maitagen im
Jahre 1913 werden die Geheimdienstwesen jener Zeit mit ihren Netzwerken und
Agenten beleuchtet, eine Einführung in die Strukturen des k.u.k. Militärs und
der europäischen Bündnispolitik gegeben, über die Folgewirkungen berichtet, und
es wird tatsächlich allen erdenklichen Spuren und Verbindungen nachgegangen.
Die Biografie Redls steht interessanterweise nicht im Zentrum. Vielleicht bleibt
auch deshalb die Person Alfred Redl erstaunlich blass. Sie geht in den
Aktenbergen und anderen Informationen gleichsam unter. Aber vielleicht ist das
auch das Gute daran. Nicht seine Homosexualität steht im Mittelpunkt, nicht sein
Privatleben, sein Werdegang, ja nicht einmal seine beruflichen Kompetenzen. Es
geht allein um den Fall. Ein ungeklärter Kriminalfall. Der Spionagefall Redl,
der durch die geänderte Aktenlage einer Neubewertung unterzogen wird, die jetzt
erstmals auf sicheren Belegen über die konkreten Inhalte von Redls
Spionagetätigkeit beruhen.
Der Skandal Redl ist aber mehr als ein Spionagefall. Damals wie heute sind für
die Öffentlichkeit die Umstände, die die Tat begleiteten, noch viel
interessanter. Da gab es zum Einen den Selbstmord, zu dem Redl nach seiner
Enttarnung genötigt wurde, und zum Anderen sein Privatleben. Nicht nur, dass er
ein luxuriöses Leben führte, das weit die Mittel eines Obersten überstieg, er
lebte auch seine Homosexualität, die ja in Österreich bis 1971 strafrechtlich
geahndet wurde. Verrat und Sex - gibt es authentischere Bestandteile eines
Skandals, der umgehend für wohlige Empörung sorgt? Und unaufhörlich Vermutungen,
Unterstellungen, Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügen nach sich zieht?
Einen großen Teil ihres Buches widmen die Autoren gerade dieser Verquickung von
Tatsachen und Fantasien und versuchen, dieses hundertjährige Gschichtl-Erfinden
zu entwirren. Schon der erste Aufdecker des Skandals, der berühmteste
Journalist der Monarchie, der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch, band Fakten
in fantasiereiche Geschichten ein und legte damit den Grundstein für eine
ausufernde Legendenbildung. Da der Fall so monströs erschien - ein Oberst verrät
geheime Kriegspläne an den Erzfeind und ist noch dazu schwul - war er wie
geschaffen für eine fiktive Weiterverarbeitung in Romanen und Filmen. Schon 1925
wurde der Stoff zum ersten Mal verfilmt, nach dem Zweiten Weltkrieg nahm
sich zuerst Franz Antel mit Ewald Balser und
Oskar Werner
in den Hauptrollen der Materie an, und 1985 schließlich brillierte
Klaus Maria
Brandauer als Oberst Redl in dem gleichnamigen Film. Dazu kamen Romane und
(halb)historische Sachbücher.
Fazit der umfangreichen Recherchen: Der militärische Verrat war monströs, aber
Redl wurde dazu nicht aufgrund seiner Homosexualität erpresst, da sie den
ausländischen Geheimdiensten gar nicht bekannt war. Bleibt als Motiv
schlichter Geldmangel bzw. Geldgier. Geld, das er ursprünglich benötigte, um
Schulden zu zahlen, dann, um ein Luxusleben samt junge Geliebte zu finanzieren.
Es ist durchaus beeindruckend, wie es den Autoren gelingt, in detailgetreuen
Rekonstruktionen diese "Vermischung von Augenzeugenberichten mit
authentischem Aktenmaterial, verschiedenen Zeitungsberichten und
Fantasiekonstrukten aus eigener Produktion" sichtbar zu machen. Man
verstrickt sich gelegentlich in den Details, in diesen und jenen Indizien und
verliert bisweilen den Überblick. Nicht nur die Geschichte Redls, sondern auch
die Nachwirkungen sind verwirrend. Ebenso wie das Leben auch ist. Denn, wie sie
im Vorwort betonen: "Diese Transparenz der Arbeitsweise an die Leserinnen und
Leser weiterzugeben, ist die einzig mögliche und sinnvolle Herangehensweise an
die Darstellung einer rätselhaften Affäre. Bei alldem bleibt erstaunlich, wie
abgründig, spannend und schier unglaublich der Fall Redl ist - auch ohne
fantasievolle Finalsätze, die im Grunde höchst zweifelhafte 'Gewissheiten'
anbieten." Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht: Der ungeklärte
Kriminalfall ist gelöst. Vorläufig.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 11/2012)
Verena Moritz, Hannes Leidinger: "Oberst Redl.
Der Spionagefall, der Skandal, die Fakten"
Residenz Verlag, 2012. 320 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Johann Szegö: "Bekannte österreichische Selbstmörder. Schicksale von Ferdinand Raimund bis Jack Unterweger"
Den Österreichern sagt man ein inniges Verhältnis zum Tod nach. Sind "a schöne Leich'" und Lieder wie "Der Tod, das muss ein Wiener sein" so typisch für das Land wie der Stephansdom und die Mozartkugel? Warum findet sich Österreich angeblich regelmäßig in der Spitzengruppe diverser Selbstmordstatistiken?
In seinem Buch geht Johann Szegö sowohl diesen Fragen als auch dem Schicksal von 55 österreichischen Selbstmördern nach. Mit spitzer Feder, aber niemals pietätlos, beleuchtet er das Leben und Sterben von Dichtern und Denkern, Unternehmern und Politikern, Militärs und Mordverdächtigen aus drei Jahrhunderten.
Weshalb die beiden berühmtesten österreichischen Selbstmörder bewusst ignoriert werden, warum ein Zuckerlpapier Anlass zum Suizid sein kann, und bei welchen Prominenten lange nicht geklärt wurde, ob es wirklich Selbstmord war, sind nur einige der spannenden Fragen die der Lösung harren.
Mit Porträts von Ludwig Boltzmann, Egon Friedell, Franz Fuchs, Richard Gerstl, Carl Moll, Ferdinand Raimund, Oberst Alfred Redl, Adalbert Stifter, Jack Unterweger, Stefan Zweig und vielen Anderen. (Ueberreuter)
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Florian Illies: "1913. Der Sommer des Jahrhunderts"
Die Geschichte eines ungeheuren Jahres, das ein ganzes Jahrhundert prägte: Florian Illies entfaltet virtuos ein historisches Panorama.
1913: Es ist das eine Jahr, in dem unsere Gegenwart begann. In Literatur, Kunst und Musik werden die Extreme ausgereizt, als gäbe es kein Morgen. Zwischen Paris und Moskau, zwischen London, Berlin und Venedig begegnen wir zahllosen Künstlern, deren Schaffen unsere Welt auf Dauer prägte. Man kokst, trinkt, ätzt, hasst, schreibt, malt, zieht sich gegenseitig an und stößt sich ab, liebt und verflucht sich.
Es ist ein Jahr, in dem alles möglich scheint. Und doch wohnt dem gleißenden Anfang das Ahnen des Verfalles inne. Literatur, Kunst und Musik wussten schon 1913, dass die Menschheit ihre Unschuld verloren hatte. Der Erste Weltkrieg führte die Schrecken alles vorher schon Erkannten und Gedachten nur noch aus.
Florian Illies lässt dieses eine Jahr, einen Moment höchster Blüte und zugleich ein Hochamt des Unterganges, in einem grandiosen Panorama lebendig werden. Malewitsch malt ein Quadrat, Proust begibt sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, Benn liebt Lasker-Schüler, Rilke trinkt mit Freud, Strawinsky feiert das Frühlingsopfer, Kirchner gibt der modernen Metropole ein Gesicht, Kafka, Joyce und Musil trinken am selben Tag in Triest einen Cappuccino - und in München verkauft ein österreichischer Postkartenmaler namens Adolf Hitler seine biederen Stadtansichten.
Ein Buch so farbig, so schillernd, so vielgestaltig wie der Sommer des Jahrhunderts.
Florian Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Oxford. Nach einigen Jahren als Redakteur übernahm er bereits Ende der 1990er-Jahre die Leitung des Feuilletons einer der renommiertesten deutschen Tageszeitungen sowie deren Sonntagszeitung. Florian Illies war darüberhinaus Mitgründer der Kunstzeitschrift "Monopol" und ihr Herausgeber. 2008 wechselte er als Ressortleiter Feuilleton und Literatur zur "Zeit". Illies ist jetzt Partner des Berliner Auktionshauses "Villa Grisebach" und dort für die Kunst des 19. Jahrhunderts verantwortlich. Seine bislang vier Bücher verkauften sich über 1 Million Mal. (S. Fischer)
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Verena Moritz, Hannes Leidinger, Gerhard Jagschitz: "Im Zentrum der Macht. Die vielen Gesichter des
Geheimdienstchefs Maximilian Ronge"
Drei anerkannte Zeithistoriker auf den Spuren des wichtigsten österreichischen
Geheimdienstmannes, von der Redl-Affäre bis zum Kalten Krieg. Eine packende
Biografie - spannender kann Geschichte nicht sein!
Maximilian Ronge war der letzte k. u. k. Geheimdienstchef. Er spielte in der
Monarchie und der Republik mit: Er nutzte seine Agentennetzwerke gegen "Verräter
aller Art", gegen "abtrünnige" Nationen, gegen Sozialisten und Bolschewiken. Bis
1938 gab es in Österreich keinen Spion, der an ihm vorbeikam. Aber auch nach
seiner Haft im KZ Dachau machte Ronge weiter. Nach dem Krieg baute er gemeinsam
mit den US-Amerikanern im besetzten Österreich einen neuen Geheimdienst auf.
Das sind nur einige der unglaublichen Stationen im Leben dieses
Verwandlungskünstlers, der seinem Kaiser im Grunde immer treu blieb. Das
Historikerduo Leidinger/Moritz deckte dank akribischer Archivforschung seine
Arbeit hinter den Kulissen auf. Denn zu Ronges absoluter Stärke gehörten nicht
nur seine ausgeklügelten Methoden der Spionage und Intrige, sondern vor allem
die Kunst, seine eigenen Spuren zu verwischen. Gerhard Jagschitz, Enkel
Maximilian Ronges, lieferte einen privaten Einblick. (Residenz Verlag)
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