Michail Schischkin: "Briefsteller"
Eine Liebesgeschichte in einer Zeit, die erwiesenermaßen aus den Fugen
geraten ist ...
"Am Anfang wird wieder das Wort sein. Während sie den Kindern in der Schule
immer noch die alte Geschichte auftischen, dass es zuerst einen großen Knall gab
und alles, was da war, in Fetzen flog."
Alexandra und Vladimir, kurz: Saschenka und Wolodenka, sind ein Liebespaar. Sie
schreiben sich, da ihre Liebe durch einen Krieg unsanft unterbrochen wurde,
Worte. Worten in Briefen. Briefe, in denen sie von ihren täglichen Erlebnissen
erzählen, von kleinen Nichtigkeiten, Erinnerungen, Freuden, Leiden,
Erinnerungen, Glück, Schmerz und existenziellen Fragen. Worte in Briefen, durch
die sie ihre Verbindung erhalten wollen. Briefe, die, wie man rasch etwas
irritiert bemerkt, offensichtlich auch gar nicht auf das vom jeweils Anderen
Geschriebene eingehen, aber doch aus einer innigen Verbindung heraus entstanden
zu sein scheinen.
"Ich muss mir nur noch einen Krieg aussuchen. Aber daran wird es nicht
scheitern. Solcher Segen liegt dem keuschen Vaterland ja doch am Herzen und
genauso den befreundeten Reichen: Kaum blätterst man die Zeitung auf, schon
werden Babys aufs Bajonett gespießt und alte Frauen vergewaltigt ..."
Weitere Zweifel an Zeitabläufen und Gegebenheiten schleichen sich konsequent
ein. Die Durchschaubarkeit des Ganzen scheint nicht die Absicht des Autors zu
sein, vermeint man beim Lesen zwischen den Zeilen zu verstehen.
"Saschenka, mein Liebes! Hieltest Du es für möglich, sag, dass das alles
ringsumher in Wirklichkeit gar nicht existiert?"
Saschenkas Leben läuft vor dem Leser in mehr oder weniger geregelten Bahnen ab,
sie heiratet, wird schwanger, bekommt ihr Kind, verliert es wieder, um am Ende
erneut als unschuldige Braut da zu sein, ein kleines Mädchen an der Hand.
Wolodenkas Erzählungen werden immer drastischer, seine Erlebnisse sind hart und
grausam, nehmen mit Verlauf des Buches stark an Intensität zu.
Nach einiger Verwirrung wird klar, dass Wolodenka zur Zeit der Boxeraufstände lebt und seine Saschenka in der Gegenwart.
"Existiere ich denn wenigstens vor mir selbst? Existieren, was heißt das
überhaupt? Genügt es, am Ende zu wissen, dass man auf der Welt war? Und beweist
es sich mit den Erinnerungen, die man hat?"
Momente wie diese sind prägend für dieses delikate Buch, das sich durch die
diversen Zeitsprünge und Abwege, Unklarheiten und bewussten Irreführungen nicht
leicht liest. Ein Einsatz, für den der Leser am Ende, wenn vieles, aber
definitiv nicht alles, klar wird, jedoch fürstlich belohnt wird. Aus vielen
kleinen Fragmenten baut der Autor mühe- und schwerelos einen zeitunabhängigen
Raum, der, egal wie filigran er auch sein mag, unzerstörbar durch äußere
Elemente ist. Weder ein Jahrhundert Zeitunterschied, noch der Tod können dieses
feine literarische Kunstwerk zum Einstürzen bringen.
Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren, studierte Linguistik,
unterrichtete Deutsch und emigrierte 1995 in die Schweiz, wo er seither,
abwechselnd mit Moskau und Berlin, lebt. Sein vor ein paar Jahren erster in
deutscher Sprache erschienener Roman "Venushaar"
war bereits ein sprachgewaltiges Romankunstwerk, das auch in Russland mit allen
großen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. "Briefsteller" ist fast noch größer
und gewaltiger. Ich wage zu behaupten, dass Michail Schischkin in naher Zukunft
nicht nur einer der wichtigsten, sondern möglicherweise der wichtigste lebende
Autor Russlands sein wird. Ein Autor, der nahtlos dort anknüpft, wo seine großen
Vorgänger Dostojewski, Tolstoi und Nabokov, wenngleich er ihnen stilistisch
überhaupt nicht ähnelt, auch nicht im russischen Original, aufgehört haben. Ein
Autor, der sich mit den Dingen beschäftigt, die sich eigentlich nicht in Worte
fassen lassen, um daraus große Literatur zu schaffen.
Von Andreas Tretner kongenial übersetzt, ist die Lektüre dieses Romans eine
absolute Bereicherung, auch wenn man möglicherweise ein paar Anläufe brauchen
sollte, um in der Strömung dieses wundersamen literarischen Flusses zu
schwimmen.
Es bleibt die Hoffnung, dass bald weitere Werke dieses Autors folgen mögen.
(Roland Freisitzer; 11/2012)
Michail
Schischkin: "Briefsteller"
(Originaltitel "Pis'movnik")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
DVA, 2012. 378 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
DVA, 2012.
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