Vladimir Nabokov (1899-1977) |
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" ... Auch gewährt es ein inniges
Vergnügen, wenn man sich das Rätsel der Entstehung des menschlichen Geistes
erklärt, indem man eine sinnenfrohe Pause im Wachstum der übrigen Natur
annimmt, eine Ruhe und Muße, die erst die Bildung des homo poeticus erlaubte,
ohne den der
sapiens niemals entstanden wäre. 'Kampf ums Dasein', ach was!
Der Fluch des Kampfs und der Plackerei lässt den Menschen wieder zum wilden
Eber werden, wirft ihn zurück auf die besessene Futtersuche des grunzenden
Viehs."
(Vladimir Nabokov; Auszug aus einer
Polemik gegen Karl Marx und Charles Darwin)
Vladimir Nabokov wäre der Welt wohl
kein Begriff, hätte er nicht jenes skandalumwitterte Buch geschrieben, das von
der Leidenschaft eines schon älteren Mannes zu einem gerade erst einmal
zwölfjährigen Nymphchen erzählt. In seiner unbekümmerten Verspieltheit scheut
sich das Mädchen nicht, den gelehrten Mann vom alten Kontinent sexuell
aufzureizen. Es ist die lustvolle Erfahrung erotischer Machtausübung, die sie
dazu anhält sein Verlangen mehr und mehr anzustacheln. Ihr Name ist Lolita und
dieser so sinnlich klingende Name "Lo-li-ta" wurde seit Erscheinen des Buches
weltweit zu einem Synonym für frühpubertäre Versündigung am Sexus, für
phallisches Begehren nach der erblühenden weiblichen Knospe. Man untertreibt
nicht, wenn man sagt, dass Lolita heute nicht einfach nur irgendein harmloser
Frauenname (genau genommen ein Kose- oder Rufname) ist, nein, Lolita ist in
unseren Tagen ein gängiges Vokabel aus der pornografischen oder auch nur
erotisierenden Umgangssprache, nichts Weniger als eine allgemein verständliche
kindfrauliche Verheißung unschuldiger und doch schon verderbter genitaler
Körperlichkeit, die der Menschheit immer schon vertraut war, doch welche von der
zivilisierten Menschheit heute als Verstoß gegen die guten Sitten geächtet und
mit Strafe bedroht wird. Man erachte diesbezüglich nur einmal die diversen
nationalstaatlichen Strafrechtsbestimmung zum Schutze psychosexuell Unmündiger
vor sexueller Ausbeutung - Beischlaf oder Unzucht mit Minderjährigen -, welche
je nach gesellschaftlicher Wertung ein Schutzalter zwischen 12 (Vatikanstaat)
und 14 (Republik Österreich) Lebensjahren festlegen. Zumindest nach geltendem
österreichischen Sexualstrafrecht würde die in "Lolita" beschriebene
Sexualbeziehung demnach einen mit mehrjähriger Haftstrafe bedrohten Tatbestand
verwirklichen.
Die Welt der russischen Aristokratie
schien noch heil, als Vladimir Nabokov am 22. April 1899 als Angehöriger dieser Kaste
von Wohlgeborenen in St. Petersburg das Licht der Welt erblickte. Frostige Jahreszeiten
verbrachte man im St. Petersburger Stadthaus, die heißen kontinentalen Sommer
am Landsitz Wyra, immer von einer emsigen Dienerschaft umsorgt. Europäisch und
liberal gesinnt, bemühte sich das Elternpaar Nabokov um die Erziehung der Kinder
zu modernen Europäern, wozu insbesondere auch der Kontakt mit englischen und
französischen Pädagogen und Gouvernanten sowie das frühe Erlernen westeuropäischer
Hochsprachen gehörte. Gegenüber dem industrialisierten Elend jener Tage verhielt
man sich noch abgewandt, wollte es bei aller gewohnten Wohllebigkeit nicht wahrhaben,
doch sollte bald schon zudringlich werden, was noch verdrängbar schien. Die
Tage des Umsturzes kündigten sich in Gestalt vielerlei Andeutungen an, etwa
in der Revolte von 1905 (1906 Konstituierung eines Staatsparlaments, der Duma),
wie auch in den revolutionären Schriften eines Leo Tolstoi, dessen gleichermaßen aufrührerische
wie populäre Ideen schließlich weniger verhaltenen Tatmenschen den Weg
bereiteten. Nachdem Millionen Russen auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs
verblutet waren und das menschliche Elend insgesamt ungeahnte Ausmaße erreicht
hatte, kam es 1917 in Russland zur
Oktoberrevolution, in Folge derer die Familie Nabokov als Angehörige der zaristischen
Herrenschicht 1919 das Land zu verlassen hatte. Die Nabokovs emigrierten nach
Berlin, wo der betont liberale Vater 1922 in Zuge eines politischen Konflikts
von russischen Faschisten erschossen wurde. Der junge Vladimir studierte derweilen
an der Eliteuniversität von Cambridge russische und französische Literatur und
verbrachte sodann die Jahre 1922 bis 1937 in der exilrussischen Gemeinde von
Berlin, wo er wiederholt unter dem Pseudonym V. Sirin als Dichter in Erscheinung
trat. 1925 heiratete er Véra Jewsejewna Slonim, welche ihm 1934 den Sohn Dmitri
gebar. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zwang Nabokov
erneut zur Flucht, zuerst nach Paris und, nach der Niederlage Frankreichs, schließlich
in das us-amerikanische Exil, wo er als Professor für Literatur am Wellesley
College russische Philologie lehrte und gleichzeitig, von 1942 bis 1948, am
zoologischen Museum der Harvard-Universität sich mit Lepidopterologie (Schmetterlingsforschung)
befasste. Von seiner Erziehung her Russe und Europäer, hatten ihn die Zeitumstände
letztlich zum Weltbürger werden lassen, nirgendwo und überall zu Hause.
Schon 1926 hatte Nabokov seinen ersten Roman
"Maschenka" fertig, der das Schicksal russischer Emigranten abhandelt, die zu
jener Zeit in linkslastigen und mit der russischen Revolution sympathisierenden
Intellektuellenkreisen einfach nur als unverbesserliche Konterrevolutionäre ohne
soziales Gewissen galten. Dem Erstlingsroman "Maschenka" folgten "Lushins
Verteidigung" (1929/30), "Der Späher" (1930), "Einladung zur Enthauptung"
(1935/36) und "Die Gabe" (1937/38), womit er neuerlich das, für ihn gerade
wieder aktuelle, Schicksal der Emigration thematisierte. All diese Werke mögen
von hohem literarischen Wert gewesen sein, doch zu Weltruhm brachte es Nabokov
erst mit dem 1955 erschienen Skandalroman "Lolita". Diese Geschichte einer
unglücklichen Leidenschaft brachte dem Exilanten aus Europa viel Schelte ein,
sie wurde als pornografische Anleitung zu schändlichem, ja - je nach
Schutzalter - gar kriminellem Handeln denunziert, so dass Nabokov gezwungen war,
sich von dem eigenen Text inhaltlich zu distanzieren, ihn zur bloßen
Belletristik zu verharmlosen und das, obgleich die Person des Humbert Humbert
deutlich persönliche Züge Nabokovs trägt und dessen Verhalten vom Autor
keineswegs etwa als tugendwidrig - lediglich als verfallen - gebrandmarkt wird.
Viel mehr reflektiert Humbert Humbert seine Begierde nach halbwüchsigen Mädchen
in einer Weise, die seine brünstige Neigung vor der Geschichte und der Natur
(allein nicht vor dem Strafrichter, der die herrschende Sittenordnung vertritt)
als legitim erscheinen lässt. Und handelt es sich dabei nicht um Gedanken
Nabokovs, der sich wenig um die Kreation eines eigenständigen Geschöpfs für den
männlichen Part der Geschichte bemüht, wie schon aus der ganz offenkundig betont
einfallslosen Namensgebung zu ersehen ist? Kann es nicht sein, dass die fiktive
Person des Humbert Humbert nicht mehr als ein Platzhalter ist, eine aus
moralischen Gründen erforderliche oberflächliche Tarnung der epischen
Rekonstruktion des eigenen Ichs und seiner geheimsten Wünsche und
Begierden?
Nun ist es zwar so, dass sich der Mensch gerne über
Manifestationen des Unsittlichen empört, doch gleichzeitig in aller Stille
verlangend danach greift. "Lolita" war sodann auch ein großer Markterfolg, und
der Geldregen, welcher über den Autor hernieder ging, ermöglichte diesem die
Rückkehr in seine alte kulturelle Heimat Europa, wo er bis zu seinem Tod, am 2.
Juli 1977 in Montreux, bleiben sollte. Seine "Lolita" überlebte und überlebt den
Tod ihres Schöpfers nun schon um Jahrzehnte, wurde zu zeitloser, mittlerweile
schon zweimal verfilmter Weltliteratur und ganz nebenbei zum Inbegriff
mädchenhafter Erotik, der diverse Pornoangebote dominiert. Vladimir Nabokov hingegen
geriet in weitgehende Vergessenheit, wurde von seinem ewig jugendlichen Geschöpf
überlagert, in dessen Gefolgschaft er gerade noch als Randnotiz zur Wahrnehmung
gelangt. Es gilt, was er einst selbst über seine "Lolita" sagte: "Bekannt ist
Lolita, ich bin es nicht."
Dem ist wohl nicht zu widersprechen, obgleich es ein
arges Unrecht darstellt, diesen großen Romancier allein an diesem einen, gewiss
vorzüglichen, Roman zu messen, denn Nabokov war einer der Größten seiner Zunft,
der es verdient wegen seines Gesamtwerks in den Olymp göttlicher Epiker
aufgenommen zu werden.
(haschu)
Lesen Sie nun mehr über die kleine rotzfreche
Lolita:
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von Nabokovs "Lolita".