Karl Ove Knausgård: "Spielen"
Die Leiden des Schülers Knausgård
Karl Ove Knausgårds in sechs Teilen episch angelegter, autobiografischer
Romanzyklus hat mittlerweile fast Kultstatus erreicht. In mehr als dreißig
Sprachen übersetzt, warten Leser überall auf dieser Welt geduldig auf das
Erscheinen des jeweils nächsten Teils.
Nach dem ersten Teil "Sterben", in dem Knausgård auf bittere und erlösende Art
und Weise mit dem soeben verstorbenen Vater abrechnet, folgte "Lieben", eine selbstzerfleischende Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst in den Rollen
Ehemann und Vater. Im dritten Teil "Spielen" geht Karl Ove Knausgård ganz an den
Anfang zurück.
Mit der Übersiedlung der Eltern Knausgårds auf eine südnorwegische Insel beginnt
dieser Text der Erinnerungssuche. Die erste Wahrnehmung des kleinen Karl Ove ist
eine, die der Autor bewusst inszeniert, da er sich natürlicherweise nicht an
Geschehnisse erinnern kann, die in den ersten paar Jahren seines Lebens passiert
sind.
"An diese Zeit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern. Es ist mir völlig
unmöglich, mich mit dem Kleinkind zu identifizieren, von dem meine Eltern Fotos
machten, ja, es fällt mir so schwer, dass es beinahe verrückt erscheint, für
dieses Baby das Wort 'Ich' zu benutzen ..."
So entsteht das Bild einer glücklichen, durchschnittlichen norwegischen Familie,
die mit zwei kleinen Kindern aufs Land zieht, um dort ein ruhiges, idyllisches
Leben abseits der Stadt zu führen. Eine damals offensichtlich weit verbreitete
Tendenz in Skandinavien. Ein Bild, das bewusst fiktiv gestaltet ist, bis es, mit
Einsetzen der ersten wirklichen Erinnerungen des Autors, von diesen immer
häufiger unterbrochen wird, so lange, bis die vermeintliche Erinnerung zur Gänze
übernimmt und der Weg für die Aufarbeitung der Leiden des Schülers Karl Ove Knausgård
geebnet ist.
"Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem
einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist.
Niemals ist der Wahrheitsanspruch entscheidend dafür, ob das Gedächtnis ein
Ereignis richtig oder falsch wiedergibt. Entscheidend ist der Eigennutz. Das
Gedächtnis ist pragmatisch, hinterhältig und listig, allerdings nicht in
feindseliger oder boshafter Weise; es tut im Gegenteil alles, um seinen Wirt
zufriedenzustellen ..."
Von der Vorfreude auf die Schule und den Erwartungen des Schülers Karl
Ove erzählt Karl Ove, der Schriftsteller hier, aus unterschiedlichen
Perspektiven, vom über dreißig Jahre entfernten analytischen Erzähler, bis hin
zur Perspektive des unsicheren Jungen, der wahnsinnige Angst vor seinem Vater
hat. Ein Vater, der jeden Fehltritt des Sohnes mit todsicherer Genauigkeit zu
riechen scheint, ungefähr so unfehlbar wie der Geruchssinn der Hunde, der ihnen
verrät, wer vor ihnen Angst hat und wer nicht.
Von den Demütigungen der Schulzeit wird hier erzählt, vom Schwimmunterricht mit
Blümchenbadehaube, die Karl Oves Mutter für ihn besorgt hat. Die Reaktionen der
Mitschüler sind vorhersehbar und prägen diese Zeit, die für den jungen Karl Ove
alles Andere als einfach ist. Vom Lernen des sozialen Gefüges in der Klasse, in
der Schule und in der Familie erzählt Knausgård, von erster Liebe, so wie sie in
dem Alter praktiziert und gelebt wird.
Auch die Erinnerungen an die teilweise recht bedenklichen Streiche des
jungen Karl Ove, der einfach zu wenig abgebrüht ist und deshalb immer erwischt
wird, sind erheiternd und unterhaltend, in erster Linie dadurch, dass Karl Ove Knausgård
es mit seiner changierenden Prosa schafft, den Leser immer interessiert und
fasziniert zu halten, egal, wie banal und unspektakulär das Geschehen auch sein
mag.
Worin liegt eigentlich die Faszination dieses autobiografischen
Romanzyklus? Alles, was dem jungen Karl Ove passiert, werden die meisten Leser
in irgendeiner Art und Weise selbst erlebt haben. Die Zumutung der Demütigungen
der Schulzeit, das vermeintlich fehlende Verständnis der Eltern, die
Peinlichkeiten, die man in dieser Phase erlebt, einfach weil man selbst erst
verstehen muss: das sind die Achsen, um die sich dieser Roman dreht. Also
eigentlich weder ein neues Thema, noch außergewöhnliche Ereignisse.
Interessanterweise ist genau das der besondere Reiz dieser Texte. Das und die
Sprache des Autors, nüchtern und doch sehr variabel in den Schattierungen, die
der Übersetzer offensichtlich wirklich kongenial getroffen hat.
Immer wichtiger wird der zunehmende Konflikt mit dem aufbrausenden und
brutalen Vater, der mit den ersten Anzeichen der absehbaren Scheidung sukzessive
zunimmt. Eine Vater-Sohn-Beziehung, die erst nach dem Tod des Vaters Ruhe finden
wird.
Es ist sehr verständlich und nachvollziehbar, dass Luchterhand den Originaltitel
nicht übersetzt übernehmen konnte, auch wenn der Originaltitel dem Sinn des
Autors sicherlich mehr entsprechen würde, als die gewählten Titel der sechs
Teile. Der Untertitel der englischen Ausgabe trifft das allerdings sehr gut:
"My Struggle 1-6". Ein Versuch, hier eine passende Variante ohne Ähnlichkeit
mit dem den Originaltitel verbietenden Machwerk des Bösen zu finden, wäre
vielleicht besser gewesen. Die einzige Kritik, die der Rezensent, wenn
überhaupt, hier erwähnen möchte.
Mit großer Vorfreude kann man nun hoffen, dass die nächsten drei Bände nicht so
lange auf sich warten lassen, im Juni 2014 soll ja bereits "Leben" erscheinen.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 12/2013)
Karl Ove Knausgård: "Spielen"
(Originaltitel "Min Kamp III")
Deutsch von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 571 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des Autors:
"Im Winter" zur Rezension ...
"Leben"
Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Veränderungen. Das Abitur hat er in der
Tasche, die Eltern haben sich getrennt, die Begegnungen mit dem Vater sind
spannungsgeladen, die ersten Schritte hinein in ein selbstbestimmtes Leben
begleitet von Alkoholräuschen, die der junge Karl Ove in seiner Not immer öfter
sucht, weil er diese mit einem Gefühl von Freiheit verbindet - verheißen sie ihm
doch Befreiung von all den Komplexen, Unsicherheiten und Nöten, die ihn plagen
und noch lange Jahre plagen werden. Lebenslust sieht anders aus.
Unschlüssig, was er mit seinem Leben beginnen soll, beschließt Knausgård ein
Jahr als Aushilfslehrer an eine Dorfschule nach Nord-Nowegen zu gehen. Dabei
wird er nicht nur mit Schülern konfrontiert, die ihn verständlicherweise als
Autoritätsperson nicht ernstnehmen, sondern auch mit einer überwältigenden, für
ihn ebenso neuen wie faszinierenden Natur. Bald bildet sich ein Lebensmuster
heraus. Die Arbeit erledigt er mit möglichst wenig Aufwand, danach versucht er
sich mittels Schreibversuchen an der Etablierung einer Autorenidentität. An den
Wochenende wird hemmungslos getrunken, wobei die älteren Kollegen keinerlei
Versuche machen, ihren jugendlichen Aushilfslehrer zu mäßigen. Stattdessen
trinken sie mit. Am Ende des Jahres steht die Rückkehr in südlichere Regionen an
- und die Aufnahme an der neu gegründeten Akademie für Schreibkunst in Bergen
...
Was war das für ein Jahr? Und inwiefern ist es exemplarisch für andere Anfänge?
Für unseren Start ins Erwachsenenleben? Wer Knausgård liest, wird schnell
gefangengenommen von eigenen Erinnerungen, die Fragen aufwerfen, die weit über
eine gewöhnliche Lektüre hinausgehen. (Luchterhand Literaturverlag) zur Rezension ...
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