Marie-Renée Lavoie: "Ich und Monsieur Roger"
Mut für außergewöhnliche Freundschaften
Hélène- naja, eigentlich Joe, aber nur weil das
Skelett aus dem Biologieunterricht und irgend so ein revolutionärer Besen
bereits Oscar heißen - wird täglich aufs Neue beflügelt durch ihre Fantasie.
Sie sieht sich selbst wie Lady Oscar, ihre Heldin aus einer Zeichentrickserie.
Lady Oscar hilft ihr, das Leben jeden Tag zu meistern. Mit ihren nur acht
Jahren hat sie sich selbst die schwere Bürde auferlegt, ihre Familie - Vater,
Mutter, Jeanne, Catherine und Margot - zu unterstützen. Eine Aufgabe, die
bereits größer ist als sie selbst.
Dann zieht Roger in die Straße. Bald wächst
dem alten Mann mit "dem Hang zu bizarren Flüchen" die kleine Joe ans Herz. Sie
werden Freunde und retten einander auf die eine und andere Weise. Roger wird
aus seiner selbstauferlegten Einsamkeit befreit, und Joe - naja, oder manchmal
doch Hélène - findet einen einfühlsamen Schutzpatron auf dem Weg zum
Erwachsenwerden. Roger und
Hélène verbindet mehr als sie erkennen. Sie sind
zwei unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Generationen, die
vielleicht gar nicht so unterschiedlich sind.
Marie-Renée Lavoie begeistert in ihrem
Debütroman auf 249 Seiten mit Wortwitz von Anfang bis Ende sowie mit großen
und kleinen Gefühlen. Sie bringt ihren Leser nicht nur zum Schmunzeln, sondern
ruft auch hin und wieder eine Träne hervor. Mit unbeschreiblicher
Einfühlsamkeit schildert sie das Erwachsenwerden
Hélènes, die es nicht immer
leicht hat. Mit einer Mutter, die sich mit Durchsetzungsvermögen, manchmal
auch Härte und doch liebevoll gegen ihre Kinder behauptet, und einem Vater,
der immer mehr den Anstrengungen des Alltags erliegt und sich kaum Abhilfe zu
schaffen weiß, wird die Bürde des jungen Mädchens immer schwerer.
Es ist jedoch unbeschreiblich faszinierend wie Lady Oscar und Roger ihren Weg
bereichern und ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen, sie in ihrem Vorhaben
stärken. Weder Begegnungen mit dem Tod noch mit den Schattenseiten des Lebens
können Hélène am Weitergehen hindern. Sie ist eben eine echte Kämpfernatur,
gesegnet mit Intelligenz, strategischem Talent und einer Menge Mut - genauso
wie Lady Oscar.
Die Autorin verleiht ihren Charakteren eine
unglaubliche Vielschichtigkeit, Einfühlsamkeit und jedem von ihnen eine kleine
Prise Humor. Sie alle widersetzen sich auf ihre eigene Art den Widrigkeiten
des Alltags mit viel Mut und Vertrauen in sich selbst. Vor allem Monsieur
Roger und Hélène bewirken mit ihrer Menschenkenntnis und ihrer versteckten
liebevollen Art Sprachlosigkeit beim Leser.
Fazit:
Absolut empfehlenswert für Jung und Alt und all jene, die außergewöhnliche Freundschaften zu schätzen wissen.
(Sabrina Brugner; 07/2013)
Marie-Renée Lavoie: "Ich und Monsieur
Roger"
(Originaltitel "La petite et le vieux")
Übersetzt aus dem Französischen von Norma Cassau, Andreas Jandl.
Hanser Berlin, 2013. 249 Seiten.
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Marie-Renée Lavoie wurde 1974 geboren. Sie unterrichtet Literatur am Collège de Maisonneuve in Montréal. Für ihren Debütroman wurde sie mit dem "Prix Archambault" ausgezeichnet.
Leseprobe:
In dieser Zeit zog Roger in unsere Straße. Als ich schlaftrunken von einer
meiner Touren heimkehrte, nach denen ich nie wusste, ob ich tatsächlich
Zeitungen ausgetragen hatte, kam mir plötzlich dieses gestrandete Wrack vor die
Füße. Die Anwesenheit eines Fremden auf meinem Nachhauseweg brachte mich schnell
zurück in die Welt der Irren.
Er saß auf einem kleinen Stuhl mit geblümtem Kunstlederbezug, auf dem
Parkplatz des Hauses nebenan, eine schlecht gerollte Zigarette im dichten,
weißen Bart, in den der Tabaksrauch karamellfarbene Strähnen eingefärbt hatte.
Man hätte meinen können, er wäre schon immer da gewesen. Ein Mann der einfachen
Viertel, die perfekte Inkarnation dessen, was man sich unter armen Leuten
vorstellt. Kleidung aus einer anderen Zeit: ein kariertes Hemd über brauner Hose
über weißen Socken in ausgelatschten Slippern. Er musste nur den Arm
fallenlassen, um mit den Fingern an die O'Keefe-Flasche zu kommen, die als
Verlängerung seines eigenen Körpers zu seinen Füßen stand. Ohne mit der Wimper
zu zucken, griff er nach ihr mit der Genauigkeit eines Elektrikers, versenkte
den Hals in seinem behaarten Schlund und rülpste laut. Das Echo hallte von den
benachbarten Gebäuden zurück, bevor es sich, ohne weiteres Aufsehen oder Panik
zu erregen, auf der um diese Zeit verlassenen Straße verlor. Verlassen bis auf
mich, die ich noch einen Moment an der Straßenecke stehengeblieben war, um
überstürzt aus Versailles zurückzueilen und diesen kümmerlichen Weihnachtsmann
zu verarbeiten, der sich wie zu Hause fühlte.
Und er war tatsächlich hier zu Hause. Im Souterrain bei den Simards, direkt
nebenan, plötzlich sehr nah. Und ich würde an ihm vorbeimüssen, um zu mir ins
Haus zu kommen.
Ich zerzauste mir die Haare.
Ein neuer Nachbar. Schon wieder. Noch einer, der sich dank der Mietergesetze an
drei Monaten mietfreiem Wohnen erfreuen würde, während die Hauseigentümer dazu
verdammt waren, sich das Nicht-Zahlen der Miete gefallen zu lassen. Und danach?
Würde er bei Nacht und Nebel abhauen, wie die anderen auch, mit seinem Plunder
in einem gemieteten Laster, den er ebenso wenig bezahlen würde. Oder er tarnte
seine Flucht mit viel Hin- und Herfahren in einem alten, bis unters Dach
vollgepackten Auto. Wie ein Feigling. Wie die anderen.
"Hallo, Hühnchen! Bist ganz schön klein für so ’n großen Sack!"
Roger wurde bald zum festen Bestandteil unseres Alltags, er und seine Flüche,
mit denen er die kleinen Unwägbarkeiten des Lebens in Worte fasste, ein wenig
zurechtgestutzt durch den messerscharfen Blick meiner Mutter, wie auch sein
"Hallo, Hühnchen!", das zu meiner Begrüßung und zum Abschied immer laut ertönte,
damit die ganze sich hier herumtreibende Fauna ihn auch hörte. Während er also
historische Sehenswürdigkeit spielte, vor seinem kümmerlichen Palast, schlug
sein Körper auf dem Parkplatz der Nachbarn langsam Wurzeln. Die Haut in seinem
Gesicht und an den Händen, die unablässig der Sonne ausgesetzt war, wurde rot
wie Laub im Herbst.
Die Abende hingegen wurden immer lauter. Monsieur Rogers Stimme dröhnte und
donnerte zunehmend mit jedem vernichteten Bier - der Haufen ausgebluteter
Flaschenleichen zu seinen Füßen bezeugte die schwere Schlacht des Tages gegen
die Langeweile. In diesen methanolisierten Momenten kreuzte er bei uns auf, ohne
anzuklopfen, mit der Sanftheit eines Feldbataillons auf der Flucht: Er brauchte
"mal eben 'nen Zehner, bis zum nächsten Ersten", suchte ein Stück Holz, um
irgendeinen Plunder zu reparieren, musste uns dringend erzählen, was ihm eben
eingefallen war, usw. Kurzum, er wollte mit jemandem reden und tat dies
ohrenbetäubend laut.
"Schrei nicht so, die Kleinen schlafen!"
"Heilige Sacklaus, das stimmt!"
"Nein, ich schlafe nicht."
"Was machst du denn da noch? Leg dich hin."
"Ja, aber ..."
(...)
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