Joaquim Maria Machado de Assis: "Dom Casmurro"
Hat sie oder hat sie nicht?
Der anno 1899 erschienene Roman "Dom Casmurro" ist ein hervorragendes Werk der
brasilianischen Literatur. Ein Roman, der sich nicht nur als eine überzeugende
Zeit- und Sittenstudie entpuppt, sondern auch als opulenter, hinterhältiger und
fesselnder Familien- und Liebesroman.
Chronologisch, aber gespickt mit Rück- und Vorblenden, erzählt der Ich-Erzähler
Bento Santiago, von allen nur Dom Casmurro genannt, seine Geschichte. Die
Geschichte, warum er vom verliebten Jugendlichen mit Aussicht auf den
Priesterberuf zum eigenbrötlerischen und mürrischen alten Kauz geworden ist. Er
will einfach glücklich sein. Er baut das Haus seiner Kindheit originalgetreu
wieder auf. Doch all das hilft nicht, er muss sich andere Abhilfe schaffen. Er
greift, ermutigt durch eine Eingebung, zur Feder und schreibt drauf los. Am
Anfang scheinbar ohne Plan, erklärend, tastend, langsam vorwärts gehend. Man
erfährt viel über die Familie und die unterschiedlichen Verbindungen innerhalb
des Familiengeflechts.
Mit feinem erzählerischen Impetus zieht Joaquim Maria Machado de Assis den Leser
ins Geschehen, vermittelt ihm verschwörerische Nähe, indem er ihn per Du und
quasi persönlich anspricht. Dadurch entsteht eine Nähe, die dieser sehr
persönlichen Beichte sehr zugutekommt.
Vielschichtig ist auch die Figurenzeichnung des Brasilianers, von der Mutter bis
zum im Hause lebenden Freund der Familie und seiner nie ganz durchsichtigen
Rolle im Geschehen; die Nachbarsfamilie - beiläufig werden alle vorgestellt,
vermeintlich frei drauflos erzählt, leicht und unbeschwert zeichnet Machado de
Assis tiefgehende Persönlichkeiten, die sich auf unterschiedliche Weise den
damals üblichen Sitten entweder widersetzen oder beugen.
Lange dauert es, bis man zum Kern der Erzählung durchdringt. Auch das
architektonisch fein gelöst, da sich die zweite Hälfte, in der eigentlich viel
mehr als in der ersten passiert, dann regelrecht wie eine Lawine
verselbstständigt und den Leser definitiv nicht mehr loslässt.
Capitu - die Jugendliebe und später Frau unseres Helden, sie ist der Impetus
dieses Klassikers der brasilianischen Literatur. Dom Casmurro erzählt, wie sich
aus der Freundschaft eine zuerst schüchterne Verliebtheit entwickelt, die dann
zu blühen beginnt und kurz unterbrochen wird, während der Protagonist ein paar
Jahre im Priesterseminar verbringen muss. Ein Versprechen seiner Mutter zwingt
ihn dazu, doch mit viel List, Überzeugungskraft und Bargeld schafft er es,
frühzeitig von dort auszutreten.
Dann die Hochzeit, das erste Kind, Glück und anschließend die ersten trüben
Momente. Bento, prinzipiell mit einer Tendenz zur Eifersucht, wird immer
eifersüchtiger. Dazu kommt noch, dass sein Sohn Bentos Freund immer ähnlicher
sieht.
Akribisch geht Bento (oder eben Don Casmurro) nun vor. Er listet alle Punkte
auf, die für oder gegen einen Betrug sprechen. Er bohrt nach, dringt in
verdrängte Ritzen seines Gedächtnisses ein und beschäftigt sich nunmehr
hauptsächlich mit der Frage: hat Capitu ihn mit dem Freund betrogen oder nicht?
Was den Roman an dieser Stelle vom Trivialen wegholt, ist die große
Unsicherheit, die Joaquim Maria Machado de Assis in diesem Text leben lässt.
Eine Unsicherheit, die künstlerisch inspirierend ist, da sie seine Gedanken so
zum Rundumschauen zwingt. Literatur, Sitten, Klassenschranken und die
Nachwirkungen des vor erst einem Jahrzehnt zusammengebrochenen Kaiserreichs; das
alles polyphon mit eifersuchtsgetränkten Zweifeln instrumentiert, ergibt eine
spannende und vielschichtige Lektüre, die sich literarisch mit den feinsten
europäischen Texten der Zeit messen kann.
148 teilweise extrem kurze Kapitel benötigt Bento, um der Sache auf die Schliche
zu kommen. Doch Machado de Assis verweigert dem Leser die Aufklärung, und so
muss sich dieser Leser dem gleichen Schicksal beugen wie Dom Casmurro. Die
Unwissenheit siegt. Und das ist gut so, künstlerisch auf jeden Fall. Auch wenn
man, der Rezensent will das nicht verschweigen, schon gerne wissen würde, ob
Capitu nun hat - oder eben nicht.
Blendend von Marianne Gareis übersetzt, stilistisch sehr überzeugend, ist "Dom
Casmurro" eine der wichtigen Neuerscheinungen des Buchherbstes 2013. Brasilien,
das ja Gastland bei der "Frankfurter Buchmesse" war, war mit vielen
literarischen Juwelen vertreten . "Dom Casmurro" ist einer der ganz großen und
funkelnden Steine.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 11/2013)
Joaquim Maria Machado de Assis: "Dom Casmurro"
(Originaltitel "Dom Casmurro")
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis.
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 2013. 445 Seiten.
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Joaquim Maria Machado de Assis (1839-1908) wurde in Rio de Janeiro geboren. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, war Autodidakt, zunächst Druckerlehrling, dann Journalist und schließlich hoher Regierungsbeamter.