Ursula Keller, Natalja Sharandak: "Madame Blavatsky"
Eine Biografie
Helena Petrowna Blavatsky: Ein
Medium ihrer Zeit
Okkultistin, Schriftstellerin, Weltreisende, Philosophin, Religionsgründerin:
Helena Petrowna Blavatsky. Madame Blavatsky, auch kurz H.P.B. genannt, war Ende
des 19. Jahrhunderts die weltweit berühmteste, einflussreichste, wenn auch nicht
unumstrittene Esoterikerin ihrer Zeit. Geboren 1831 als Aristokratin in
Russland, 1875 Mitbegründerin der Theosophischen Gesellschaft, 1878 zur
us-amerikanischen Staatsbürgerin geworden, ging sie schließlich in die
Geschichte als Stammmutter der modernen Esoterik ein.
Mit ihren Hauptwerken, "Isis entschleiert" (1877) und "Die Geheimlehre" (1888)
wurde sie zur international berühmten Erfolgsautorin. Gemäß ihrer theosophischen
Lehre ging es jeweils darum, "die Sammlung und Verbreitung von Wissen über
die Gesetze, welche das Universum lenken", zu betreiben. Obwohl ihre Bücher,
die nach ihren eigenen Angaben dank der Inspiration und Anweisung der Meister
aus dem Jenseits entstanden sind, sich dadurch auch jeder nüchtern-fachlichen
Kritik entzogen, wirkten sie doch weit über die engere Anhängerschaft hinaus.
Sie trugen wesentlich zur Popularisierung fernöstlicher Philosophien und zu
einer Relativierung zentroeuropäischer Sichtweisen bei. In "Isis entschleiert"
versucht Blavatsky auf mehr als tausend Seiten eine Synthese des Okkultismus
des Westens mit dem Mystizismus des Ostens. Der Erfolg war überwältigend: Zehn
Tage nach dem Erscheinen war die erste Auflage vergriffen. Die ebenso
umfangreiche "Geheimlehre" gilt bis heute als Bibel der Theosophie und legt die
Evolution von Menschheit und Kosmos dar, wobei die spirituelle Evolution der
Menschen im Zentrum steht. Mit Hilfe von Karma und Reinkarnation sei für das
geistige Individuum Selbstvervollkommnung möglich. Eine Höherentwicklung, die
durch eine Abfolge von Reinkarnationen ermöglicht wird, wobei "das Schicksal
in einem gegenwärtigen Leben entsprechend dem Gesetz des Karma die Folge der
eigenen Taten und Gedanken in früheren Leben und das Ziel ein Stieg zu immer
höheren spirituellen Ebenen" sei. Eine Theorie, die nicht nur zu einer
Offenbarung für ihre Anhänger wurde, sondern auch in den Salonzirkeln der
Reichen und Mächtigen für Furore sorgte. Beide Werke sind übrigens nach wie vor
im Buchhandel erhältlich.
Wer war nun Madame Blavatsky? Sie war eine reiche junge Dame aus bester
russischer Gesellschaft, die sich schon von Kindesbeinen an unabhängig und
unorthodox gebärdete und sich früh für Okkultismus und Spiritismus zu
interessieren begann. Nach einer frühen und kurzen Ehe führte sie das
abenteuerliche Leben einer Reisenden auf der Suche nach dem Schlüssel zur
Welterkenntnis durch alte mystische Weisheiten. Bis zur Gründung der
Theosophischen Gesellschaft führte sie das Leben einer Abenteuerin und
Weltenbummlerin, immer auf der Jagd nach okkultem Geheimwissen der Menschheit
und geheimen Naturgesetzen, immer aber auch bestrebt, ihre persönlichen Spuren
zu verwischen.
Die Autorinnen Ursula Keller und Natalja Sharandak, die schon mit einer
Biografie von Sofja Tolstaja, der Ehefrau Tolstojs, auf sich aufmerksam machten,
haben nun das Wagnis unternommen, eine umfassende Biografie dieser "Sphinx
des 19. Jahrhunderts" zu erarbeiten, die in ihren Worten nicht die
letztendlich gültige Wahrheit sei, die aber zumindest die Begründerin der
Theosophie "weder überhöht noch herabsetzt". Schon das allein ist kein
leichtes Unterfangen. Blavatsky gefiel sich Zeit ihres Lebens in der Rolle einer
geheimnisvollen Persönlichkeit, deren Leben von Gerüchten und Legenden umrankt
war, und die unermüdlich an ihrer Selbstinszenierung, in der Fiktion und
Realität miteinander verschwimmen, mitwirkte. So beschied sie auch ihrem ersten
Biografen und Weggefährten Alfred Sinnett, dass ihr Privatleben eigentlich
niemanden etwas angehe. "Es war mein eigenes Leben, das mir heilig und
geheiligt ist." Ihr Lebensweg sei für die Öffentlichkeit erst ab der
Gründung der Theosophischen Gesellschaft interessant. Insofern hatte sie auch
nie irgendein Interesse daran, Ungereimtheiten, Widersprüchlichkeiten und
Unstimmigkeiten richtigzustellen.
Bestimmend für ihr Leben war jedenfalls ihre Suche nach den Weltgeheimnissen,
der sie alles Andere unterordnete. Sie suchte ihn überall, den Stein der
Weisheit. Im Nahen Osten genauso wie in Amerika, bis Indien schließlich zum
Endpunkt ihrer spirituellen Suche wurde. Und sie war überzeugt, die allwissenden
und allmächtigen Wesen, die das Weltengeschick leiteten, erkannt zu haben: Die
Mahatmas, wie sie sie nannte, die durch sie ihr Wissen weitergaben. Von da an
stellte Blavatsky rückwirkend ihr ganzes Leben als von ihnen geleitet dar.
Derart legitimiert und eingebettet durch die Gewissheit der Führung und des
Schutzes von Meistern, entwickelte sie eine unglaubliche Bestimmtheit und
Energie, um ihre selbst gestellten Aufgaben zu erfüllen. Angstfrei und voll
Optimismus stürzte sie sich in jedes noch so abwegig anmutende Abenteuer, das
ihr in ihren Augen von den Meistern befohlen wurde. Dementsprechend vertraute
sie auch ihrem weltlich-materiellen Geschick, lebte von familiärer Hilfe,
Erbschaften, eigenen Unternehmungen, journalistischen Arbeiten, Unterstützungen.
Der große Erfolg Blavatskys und der Theosophie werden im Kontext der westlichen
Gesellschaft im 19. Jahrhundert verständlich, vor allem als Reaktion auf den
Positivismus und Materialismus der exakten Wissenschaften. Leider konzentrieren
sich die Autorinnen fast ausschließlich auf die Person der Helena Blavatsky. Das
Resultat ist zwar eine gut recherchierte Biografie, die aber teilweise etwas
mühsam zu lesen ist. Die Darstellungsweise, penibel chronologisch und
überfrachtet mit Details, lässt für die Leser kaum das Bild einer schillernden
und charismatischen Persönlichkeit aufblitzen.
Heute sind ihr Werk und ihre Person in durchaus unterschiedlicher Weise präsent.
Sie ist ja nicht nur Ikone in den esoterischen Kreisen. In der Horror- und
Fantastikliteratur stellt sie einen wohlbekannten Bezugspunkt dar. So erdachte
der us-amerikanische Schriftsteller H.P. Lovecraft in seinem "Cthulhu-Mythos"
sehr mächtige außerirdische Wesen, deren Existenz und Auswirkungen auf die
Menschen in okkulten Büchern offenbart werden und die auch jene magische
Praktiken enthalten, die es uns ermöglichen, mit diesen Wesen in Kontakt zu
treten. Bedeutsamer ist aber vielleicht das Wirken ihrer direkten Nachfolgerin
Annie Besant, die in der indischen Abspaltung der Theosophischen Gesellschaft
tätig war und sich in der indischen Unabhängigkeitsbewegung engagierte. Heute
ist dort die Theosophische Gesellschaft nach wie vor durch Kulturinstitute,
Verlage und Bibliotheken aktiv am kulturellen und geistigen Leben Indiens
beteiligt. Zuguterletzt sind auch die Waldorf-Schulen in Europa zu erwähnen, die
sich auf Rudolf Steiner und seine Anthroposophie berufen und ebenfalls eine
Abspaltung von Blavatskys Theosophischer Gesellschaft sind. Und für
Kulturwissenschaftler besonders interessant ist wohl der Einfluss, den ihre
Ideen auf zeitgenössische Künstler hatten. Darunter sind so bedeutende Namen wie
Hermann Hesse,
James Joyce, T. S.
Eliot, William
Butler Yeats, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Paul Gauguin,
Gustav Mahler
und Jean Sibelius.
Das Leben der Helena Petrowna Blavatsky war ein Leben zwischen
Selbstermächtigung, Selbstinszenierung und Mission. Die Spuren, die sie
hinterließ, sind vielfältig. Ihrer Lehre nach müsste ihr Geist nun auf höherer
Ebene eine Reinkarnation erfahren haben. Aber egal, ob man ihrer "Geheimlehre"
etwas abgewinnen kann oder nicht, Helena Blavatsky bleibt als außergewöhnliche
Frau in Erinnerung, der es tatsächlich gelang, ihr Leben selbst zu gestalten.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 08/2013)
Ursula Keller, Natalja Sharandak: "Madame Blavatsky. Eine Biografie"
Insel, 2013. 357 Seiten.
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Ein Lektüretipp:
"Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja. Eine Ehe in Briefen"
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben
von Ursula
Keller und Natalja Sharandak.
Lew Tolstoj und seine Frau Sofja führten während ihrer fünfzigjährigen Ehe einen
ausgedehnten Briefwechsel. Diese Briefe geben Einblicke in das Alltags- und
Familienleben der Tolstojs und in die Entstehung von Tolstojs großen Werken wie
"Krieg und Frieden", "Anna Karenina", "Die Auferstehung" oder "Die
Kreutzersonate". Vor allem aber sind sie Dokument einer großen und zugleich
schwierigen Liebe. (Insel)
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