Henning Mankell: "Mord im Herbst"
"Und
jetzt? Da ich mit ganz anderen Büchern arbeite? Ich werde oft gefragt, ob er mir
fehle. Dann antworte ich so, wie es ist: 'Er sollte nicht mir fehlen, sondern
dem Leser.'" (Henning Mankell)
Henning Mankell hat den Vorhang zugezogen, und Kurt Wallander lebt nunmehr
unbemerkt bis an sein Lebensende. Wie es mit ihm weitergeht, bleibt uns Lesern
verborgen. Und es ist vielleicht gut so, dass Mankell einen Schlussstrich
gezogen und seine Frau gebeten hat, den letzten Punkt zu setzen. Doch im Leser
wird Kurt Wallander weiterleben. Auch in mir, der erstmals Ende der 1990er-Jahre
mit einem Krimi von Henning Mankell konfrontiert wurde. "Mittsommermord" hat mir
so gut gefallen, dass ich innerhalb der nächsten zwei Jahre sämtliche bis dahin
erschienene Krimis mit Kurt Wallander in der Hauptrolle verschlang. Henning
Mankell wird im Nachwort zu "Mord im Herbst" persönlich. Er schreibt davon,
warum er begonnen hat, Krimis zu schreiben, und wie es dazu kam, dass er seinen
Kommissar Kurt Wallander nannte. Dem Autor galt es, wichtige gesellschaftliche
Probleme anzusprechen. Mit "Mörder ohne Gesicht" setzte er den Rassismus in den
Fokus, der sich auch in Schweden immer mehr ausbreitete und ausbreitet. Für Mankell ist die Geschichte vorrangig, erst dann kommt Kurt Wallander ins Spiel.
Und dieser Kurt Wallander zeichnet sich dadurch aus, dass er Geheimnisse hat,
keine Figur ist, die einfach so erklärt werden kann. Dieser Kommissar hat
Beschwerden, Vorlieben, Eigenarten, Schwächen. Er begeht grobe Fehler,
entscheidet sich manchmal für die falsche Abzweigung. Gerade diese
Uneindeutigkeit macht ihn zu einem von uns. Der Leser hat es hier mit keiner
Figur zu tun, die dem Märchenwald entstiegen ist. Er findet Gefallen an
Wallander, weil er sich ihn als Menschen vorstellen kann, der ihm an der
nächsten Ecke begegnen könnte.
"Mord im Herbst" und dessen Entstehungsgeschichte sind schnell erzählt. Im Jahre
2004 gab es eine Aktion in Holland. Ein bestimmter Monat, der Monat des
spannenden Buchs getauft wurde, sollte potenzielle Leser dazu animieren,
Kriminalromane zu kaufen. Und wer einen Kriminalroman erstand, sollte ein Buch
gratis dazu bekommen. Dieses Gratisbuch war "Mord im Herbst". Somit war es bis
zum Jahr 2013 nur in Holland bekannt. Da sich aber der Kreis des Wallander-Universums einmal schließen soll, erobert es nun auch den
deutschsprachigen Raum. Henning Mankell schließt nicht vollkommen aus, dass
Linda Wallander irgendwann einen weiteren Fall (nach "Vor dem Frost") lösen
wird. Er hatte ja einmal geäußert, Linda zu einer Hauptfigur machen zu wollen,
die mehrere Fälle löst. Aber es kommt oft anders, als der Leser denkt. Mich
würde es nicht stören. "Vor dem Frost" hat einen eigenen Charme, und nachdem ich
"Mord im Herbst" gelesen hatte, kam schon ein wenig Wehmut in mir auf, womit wir
beim Persönlichen des Rezensenten sind. Ja, ich war mir bei der Lektüre stets
bewusst, ein letztes Mal eine Geschichte zu lesen, bei der Kurt Wallander sich
mit einem mysteriösen Kriminalfall herumschlagen muss. Freilich besteht
jederzeit die Möglichkeit, alte Fälle ein weiteres Mal zu lesen, doch das ändert
nichts am Ende einer Ära.
"Mord im Herbst" ist chronologisch unmittelbar vor "Der Feind im Schatten"
einzuordnen. Wallanders Tochter Linda wohnt bei ihm. Kurt fühlt sich
ausgebrannt, würde am liebsten schon alles hinschmeißen, träumt von einem
Häuschen auf dem Lande. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ein Kollege,
dessen alter Cousin verstorben ist, bietet ihm dessen Häuschen auf dem Lande zum
Kauf an. Der Preis ist für Kurt Wallander leistbar. Doch schon bei der ersten
Besichtigung stolpert er im Garten und bemerkt beim zweiten Hinschauen, worüber
er da gestolpert ist: Eine skelettierte Hand. Anstatt sich zum Kauf des
Häuschens zu entschließen, stellt er natürlich Ermittlungen an. Wallander möchte
wissen, was es mit dieser Hand auf sich hat, und ob vielleicht irgendwo ein
komplettes Skelett vergraben ist. So ist es dann tatsächlich. Eine Geschichte
nimmt ihren Lauf, die Wallander so gar nicht schmeckt. Denn bis er die
Hintergründe dieses unheimlichen Fundes entdeckt, vergeht der gesamte Herbst,
und Weihnachten steht vor der Tür. Er will mit aller ihm verbliebenen Energie
den Fall lösen und begibt sich hierbei in große Gefahr. Mehr sei an dieser
Stelle natürlich nicht verraten.
Die Geschichte "Mord im Herbst" wird einigen Zeitgenossen bekannt vorkommen. Die
Idee wurde nämlich als Grundlage für ein Drehbuch hergenommen, welches mit
Kenneth Branagh als Wallander kongenial von der "BBC" produziert worden ist.
Henning Mankell fand diese Verfilmung durchaus ansprechend, ich kann ihm in
diesem Sinne nur beipflichten. Der Roman, besser noch die längere Erzählung, ist
keine allzu komplizierte Geschichte, das Buch liest sich so schnell, dass es
schon vorbei ist, kaum dass es begonnen hat. Nur anfangs wird die Beziehung von
Wallander zu seinem verstorbenen Vater fast schon romantisiert, weil er die
Entfernung seiner möglichen baldigen Wohnstätte zum ehemaligen Haus seines
Vaters als zu gering empfindet. Dann entwickelt sich aber bald ein Kriminalfall,
und außer ein paar Gesprächen mit Linda bleibt Wallanders private Seite fast
ausgespart, dafür ist der Raum im Buch wohl auch zu knapp bemessen. Dennoch
besticht diese Geschichte durch einen leicht nachvollziehbaren Aspekt: Wallander
geht auf Spurensuche, und er gibt nicht nach, bis er die Spuren zuordnen und in
die Ereignisse aus der Vergangenheit eintauchen kann. Der Leser wandelt
gleichermaßen noch einmal auf den Spuren eines alten Helden. Er nimmt leise
Abschied von einer Figur, die ihm ans Herz gewachsen ist. Ja, dem Leser wird
Kurt Wallander fehlen, während Henning Mankell an anderen literarischen
Projekten zu arbeiten versucht ist.
Und ich habe das Gefühl, dass es mir gut getan hat, noch einmal mit Kurt
Wallander einen Fall gelöst zu haben. Damit bleibt mir dieser schrullige
Kommissar aus Ystad in Erinnerung wie ein Freund, der sich entschieden hat, den
Rückzug in eine Welt anzutreten, wo er nicht mehr mit Verbrechen konfrontiert
ist, die ihm den Schlaf rauben.
Gönnen wir Leser Kurt Wallander den Luxus, in Würde abzutreten. Und danken wir
Henning Mankell dafür, uns den Zugang in eine Welt eröffnet zu haben, die wir
bis dahin nicht kannten.
(Jürgen Heimlich; 11/2013)
Henning Mankell: "Mord im Herbst"
Übersetzt von Wolfgang Butt.
Zsolnay, 2013. 144 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Kirsten Jacobsen: "Mankell über Mankell"
An die verschiedensten Orte der Welt ist Kirsten Jacobsen
Henning Mankell gefolgt. Und sie hat den eher verschlossenen Schriftsteller dazu
gebracht, von sich zu erzählen: wie er ohne Mutter aufwuchs, mit sechzehn Jahren
die Schule verließ, einen Posten beim Theater fand und mit dem Schreiben anfing.
Der Schöpfer der berühmten "Wallander"-Romane berichtet über seine erste Reise
nach Afrika, sein Theater in Maputo und die Beweggründe, die Menschen morden
lassen. Zusammen mit Beiträgen von Desmond Tutu, Kenneth Branagh, Horst Köhler
u. A. ist so eine sehr persönliche Biografie Mankells entstanden, dessen Leben
zwischen Schweden und Afrika so ungewöhnlich ist wie sein Werk. (Zsolnay) zur Rezension ...
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