William T. Vollmann: "Europe Central"
Krieg, Liebe und Musik im
blutigen 20. Jahrhundert
Die Übersetzung des von William T. Vollmann im Jahr 2005 veröffentlichten Romans
"Europe Central", für den er mit dem "National Book Award"
ausgezeichnet wurde, hat ganze acht Jahre gedauert. Eine Tatsache, die die
verschiedenen Schwierigkeiten beim Übersetzen dieses extrem vielschichtigen und
umfangreichen Romans mehrfach unterstreicht. Nun vollbracht, muss man vorweg den
Übersetzer Robin Detje loben, der die Prosa William T. Vollmanns wunderbar
kongenial ins Deutsche transferiert hat.
"Europe Central" - dieser Originaltitel wurde bewusst für die deutsche
Ausgabe beibehalten, da er die Schaltstelle Europas, quasi die Telefonzentrale,
andeutet und so sinnvoller für das Verständnis des Romans ist, als z.B. eine
Übersetzung des Titels.
In jeweils streng abwechselnden Kapiteln erzählt Vollmann aus deutscher und
sowjetischer Sicht; da die Nazis, da die Schergen Stalins. Weil der
us-amerikanische Autor penibel recherchiert hat, kann man die Eckpunkte der hier
vorkommenden Geschichten und Schicksale relativ genau mitverfolgen, wenn man
will. Allerdings ist es wahrscheinlicher, eher weniger genau die Fakten zu
kennen und sich auf die von William T. Vollmann verfremdet-fiktive-wahre
Handlung zu konzentrieren.
In diesem Roman ist auch die Liste der Protagonistinnen und Protagonisten
beeindruckend, von Vladimir Iljitsch
Lenin und
seiner Geliebten Krupskja, oder auch Hitler und Stalin höchstpersönlich, (die
als "der Schlafwandler" und "der Realist" auftauchen), bis hin zu
diversen Konterrevolutionären, dem Komponisten Dimitri Schostakowitsch in einer
Hauptrolle, diversen parteifreundlichen Komponisten wie z.B. Tichon Khrennikov,
der Künstlerin Käthe Kollwitz und der Dichterin Anna Akhmatova oder auch dem
Filmemacher Roman Karmen, sowie dem SS-Mann Gerstein und dem Wehrmachtsgeneral
Friedrich Paulus. Die größte fiktive Verfremdung, so gesteht der Autor im
Nachwort selbst, ist die Liebesgeschichte zwischen Dimitri Schostakowitsch und
Elena Konstantinowskaja, die zwar existierte, aber sicher nicht so, wie hier
beschrieben. Erst in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist man auf Briefe
gestoßen, die, in den Jahren 1933-34 geschrieben, von der Liebe der beiden
zeugen. Allerdings hatte der Autor trotzdem nur ganz wenige Anhaltspunkte, um
ihrer Figur Leben einzuhauchen, da von Schostakowitschs Geliebter nicht einmal
ein Foto zu existieren scheint. Ihre Ehe mit dem Filmemacher Roman Karmen ist
historisch betrachtet auch unspektakulär verlaufen, sodass William T. Vollmann
hier ganz auf seine schöpferische Kraft zurückgreifen musste. So wurde die
Geliebte Schostakowitschs zu einer Art Muse des Autors, die, ganz sein geistiges
Eigentum, zu einer Romanfigur wurde, in die sich der Autor selbst verliebt
hatte, wie er im Nachwort zugibt.
William T. Vollmanns Prosa ist, stilistisch betrachtet, nüchtern distanziert,
allerdings auf eine sehr poetische Art und Weise. Durch die scheinbar
unerschöpfliche Anzahl der Erzählperspektiven diktiert, wechselt Vollmann
ständig zwischen allen möglichen Erzählformen, auch die Über-Kapitel sind
unterschiedlich lang, das kürzeste drei Seiten, das längste um die
hundertfünfzig. Dazwischen Unter-Kapitel, die meist relativ kurz sind, mitunter
auch nur drei oder vier Zeilen. Ein im Mittelpunkt stehendes "Ich" fehlt hier,
wie auch eine das Geschehen wirklich bestimmende Figur. Dafür rücken Gewalt,
Blutvergießen, Unterdrückung und die politische Entgleisung in die dunkelsten
Kapitel unserer europäischen Geschichte in den Mittelpunkt, werden so als Europa
zur Hauptfigur, die sich anhand diverser Schicksale definiert.
Ein wichtiger Bestandteil dieses Romans ist auch die Musik von Dimitri
Schostakowitsch. Verschiedene Werke, z.B. die Cellosonate op. 40, die jeweils
als Schostakowitschs Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen definiert sind.
Schostakowitsch, der ständig durch das Regime gefährdet war, unbeugsam und
ungehorsam als Mensch, obwohl er am Ende seines Lebens doch in die Partei
eingetreten ist.
Immer wieder streut Vollmann bewusst gesetzte Abweichungen von den wirklichen
Ereignissen ein, wie zum Beispiel, dass Adolf Hitler den Kriegsbeginn in Berlin
erlebt hätte (statt in Wahrheit in München), oder er lässt Goebbels' Geliebte
auch Göhrings Geliebte sein, während er Stalin Hitlers "Mein Kampf" lesen lässt.
Hin und wieder schaltet sich sogar der Autor in das Geschehen ein, in dem er aus
dem Hintergrund, bzw. aus dem Jahr 2002, manches kommentiert.
Auch wenn der Roman immer wieder Längen aufweist, die übrigens in der von Robin
Detje übersetzten Ausgabe weniger ins Gewicht fallen als in der Originalausgabe,
die der Rezensent vor ein paar Monaten hinführend gelesen hat, dann liegt das
unter Anderem an der rhythmisierten Gestaltung der Übertragung. So ist dieser
Roman ein gigantisches Manifest und ein farbreiches Panorama der unfassbaren
Tragödien des vergangenen Jahrhunderts. Der Roman liest sich, ähnlich wie die
bisherigen Romane des sich in Arbeit befindenden "Seven Dreams"-Zyklus
(dessen fünfter Teil im Jahr 2013 erscheinen soll), wie eine
Chronik: distanziert, nüchtern und penibel katalogisiert, allerdings wird dieser
Duktus hier immer wieder durch die fast manischen Explosionen der Erfindung des
Autors unterbrochen und gestört, die diese Beschäftigung mit der Geschichte zu
einem faszinierenden und wichtigen Roman werden lassen, der, auch wenn im
historischen Kontext nicht alles glaubhaft wirkt, (die Bisexualität Elena
Konstantinowskajas hätte Schostakowitsch höchstwahrscheinlich nie geduldet, auch
das gibt der Autor freimütig zu), definitiv zu den wichtigsten fiktiven Texten
zu diesem Thema zählen darf.
Es bleibt nur noch zu wünschen, dass Suhrkamp sich auch den anderen Werken
William T. Vollmanns widmet, wie z.B. dem "Seven Dreams"-Zyklus, oder
auch "Butterfly Stories" und "Royal Family", idealerweise
übersetzt wieder von Robin Detje.
(Roland Freisitzer; 05/2013)
William T. Vollmann: "Europe Central"
(Originaltitel "Europe Central“)
Aus dem us-amerikanischen Englisch von Robin Detje.
Suhrkamp, 2013. 1028 Seiten.
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William T. Vollmann wurde 1959 in
Los Angeles geboren, Er ist Autor zahlreicher Romane, Erzählbände und
Sachbücher, mehrfach ausgezeichnet. Er
lebt in Kalifornien.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild"
William T. Vollmann erforscht die menschliche Existenz, schonungslos,
erfahrungshungrig und mit großem Einfühlungsvermögen. In seiner literarischen
Reportage widmet er sich einem nationalen Mythos: dem Hobo - Held und
Opfer des us-amerikanschen Traums. Der auf Güterzügen reisende Mensch auf
Wanderschaft ist spätestens seit der Weltwirtschaftskrise, als Tausende von
Wanderarbeitern durch das Land zogen, Teil des us-amerikanischen Imaginären.
Woody Guthrie und Bob Dylan haben ihn besungen, Mark Twain,
Jack London
und Ernest
Hemingway setzten ihm in ihren Büchern Denkmäler.
Vollmann, selbst ein Getriebener, kennt die unstillbare Sehnsucht nach dem
freien Leben und macht sich auf den Weg, die Realität hinter dem
geschichtlichen, politischen und literarischen Vermächtnis zu erkunden. Mit
seinem Kumpel Steve erklimmt er Güterwaggons und reist kreuz und quer durch den
us-amerikanischen Westen; er beschreibt die wilde Schönheit der Landschaft und
den Nervenkitzel des illegalen Reisens, interviewt Hobos und gibt sich
Rechenschaft über den Wunsch, seiner bürgerlichen Existenz zu entfliehen. Aus
Vollmanns Impressionen und Reflexionen entsteht so ein transitorisches Nachtbild
der heutigen USA - der Träume, Alpträume und Begierden einer Nation, deren
wichtigstes Gut einmal die Freiheit ihrer Bürger war. (Suhrkamp)
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