Eduardo Galeano: "Der Ball ist rund"
"Worin
ähnelt der Fußball Gott? In der Ehrfurcht, die ihm viele Gläubige
entgegenbringen, und im Misstrauen, mit dem ihm viele Intellektuelle begegnen."
Der Ursprung des Fußballs soll - wie eigentlich alles - in China liegen. Vor
Jahrtausenden haben sich da Dörfer einen Wettstreit geliefert, der auf Leben und
Tod ging. Wochenlang wurde die damals sicher noch nicht so ebenmäßig wie
heutzutage geformte Wuchtel von hier nach dort mit dem Fuß bugsiert.
Schiedsrichter gab es keinen, somit war alles erlaubt. Und Aufzeichnungen
belegen, dass nicht wenige Fußballer der Urzeit tatsächlich den Tod fanden. Bis
das Fußballspiel jenem Sport auch nur annähernd ähnelte, was er heute darstellt,
dauerte es eine halbe Ewigkeit. Und genau jene Geschichte zeichnet Eduardo
Galeano in vielen kleinen Aufsätzen nach. Der Humor kommt nie zu kurz. Erst in
der Zeit des "modernen" Fußballs angekommen, kann einem das Lachen schon einmal
vergehen. Der Ball als Sonne, um die sich alles dreht: So will es mancher Fan
sehen. Alles wird dem Fußball untergeordnet. Kein Spiel des Lieblingsteams soll
versäumt werden. Und die Geschichten, welche sich um die Sonne drehen, die nur
in der Meisterschaftspause kurzzeitig zur Ruhe kommt, sind vielfältig,
erstaunlich und erhellend. Was diese Geschichten verbindet ist die Genialität,
die der Autor zum Einsatz bringt. Er schafft Zusammenhänge, wo sie nicht
erwartbar sind, und erkennt Trennendes abseits der Spielfelder. Der Fußball ist
längst mehr als ein bloßes Spiel, an dem sich Zuschauer erfreuen. Er hat die
ganze Welt erobert und ist vielleicht nur jenen Völkern unbekannt, die nicht
einmal über schwarz-weiß-Fernsehen verfügen:
"Im Sommer 1916, mitten im Weltkrieg, ging ein englischer Hauptmann mit dem
Fußball zum Sturmangriff über. Hauptmann Neville sprang aus dem Schützengraben,
in dem er sich befand, und hinter dem Ball herlaufend, führte er einen Angriff
auf die deutschen Linien an. Sein Regiment, das bisher gezögert hatte, folgte
ihm nach. Der Hauptmann starb im Kugelhagel, doch England eroberte ein Stück
Niemandsland und konnte diese Schlacht als den ersten Sieg des englischen
Fußballs an der Kriegsfront feiern."
England gilt als das Mutterland des Fußballs. Die ersten Vereine wurden in
England gegründet, wobei gegen Mitte des19. Jahrhunderts von einem Profibetrieb
freilich keine Rede sein konnte. Die Engländer liebten dieses Spiel, und
überall, wo Männer aus England fremdes Territorium betraten, brachten sie mit
missionarischem Eifer die Augen ihrer Geschlechtsgenossen zum Glühen. Es folgten
in den Häfen da und dort Fußballspiele, und damit war der Siegeszug des Fußballs
eingeläutet. Im Krieg liefen nicht nur Hauptmänner einem Ball hinterher, um
damit feindliche Linien zu überrumpeln, mehr noch huldigten in Gefechtspausen
feindliche Heere dem Labsal freundschaftlichen Fußball-Spiels. Eduardo Galeano
fokussiert weitgehend den südamerikanischen Fußball. Kein Wunder, schließlich
ist er ein gebürtiger Uruguayer. Der vielleicht beste Spieler aller Zeiten, ein
gewisser Maradona, taucht gleich mehrmals auf, am Spielfeld und auch außerhalb,
wo ihn eine Urinprobe die längerfristige Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1994
kostete. Ja, es gibt sie, die unglaublichen, fantastischen, großartigen Spieler.
Aber es gibt ebenso die unterschätzten Spieler, die über magische Kräfte
verfügten. Der altehrwürdige Fußball ist europäischen Ursprungs, Südamerika hat
schnell nachgezogen. Somit ist es kein Wunder, dass sämtliche bisherigen
Weltmeister-Teams aus Südamerika oder Europa stammen. Wobei Brasilien mit fünf
Titeln knapp die Nase vorne hat. Es folgt Italien mit immerhin vier Titeln. Die
Weltmeisterschaften bilden wichtige Einschnitte und verdeutlichen nicht nur
Fußballgeschichte, sondern weltpolitische Ereignisse. Ein bis zum Ende
durchgehaltener Witz sorgt in diesem Kontext für Furore. Oh, da ist es kein
Wunder, dass der Leser nicht schon nach der Halbzeit den Heimweg antritt,
sondern bis zum bitteren Ende am Ball bleibt:
"Es gibt unter multinationalen Firmen keine mit einem ähnlich großen
straffreien Raum wie die FIFA. Die FIFA hat ihr eigenes Recht. Wie in 'Alice im
Wunderland' spricht dieses Recht des Unrechts erst das Urteil und macht dann den
Prozess, es wird schon noch Zeit genug dafür bleiben."
Galeano lässt es nicht dabei bewenden, dem Fußball zu huldigen und sich als
großen Fan in Pose zu setzen. Nein, er hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch
jene Dinge vor den Vorhang zu holen, die dem Fußball arg zusetzen. Fußball
könnte so schön sein, wenn nicht all die schmutzigen Dinge Tag für Tag passieren
würden, die ihn als Komponente der Globalisierung ins schiefe Licht setzen.
Korruption ist keine Seltenheit, sondern fast schon Voraussetzung, um Präsident
eines internationalen Verbandes oder eines Landesverbandes zu werden. Die
Bürokraten haben keine Ahnung vom Fußball, vielleicht kennen sie nicht einmal
die Regeln, und es ist ihnen fremd, dass Fußball Menschen erfreuen kann, die ihn
spielen oder beim Spielen zusehen. Es gilt, damit Geld zu machen, dieses am
besten in die eigene Tasche zu stecken und niemandem darüber Rechenschaft zu
geben, wo denn das Geld eigentlich hin ist. Gerade jene, die keine Ahnung vom
Fußball haben, ja nicht einmal eine Leidenschaft zu ihm aufbauen können,
profitieren am meisten von ihm. Von Geschichten in diese Richtung strotzt das
Buch von Eduardo Galeano. Er nennt Namen wie Blatter und Havelange. Wobei manche
dieser Geschichten derartig haarsträubend sind, dass sie dem Fußball einen
großen Imageschaden zufügen. Und wenn auch noch bedacht wird, dass es nicht
wenige Vereine gibt, die in Besitz irgendwelcher Konzerne oder Gesellschaften
sind und der einzelne Spieler dann nicht mehr als ein sehr gut verdienender
Sklave ist, dann hört sich der Spaß, der im Fußball grundsätzlich nicht zu kurz
kommen soll, definitiv auf. Wobei es weitgehend um den Profifußball geht, der
eine enorme Industrie in Schwung hält, die von ihm profitiert.
"Das durchgängigste Merkmal von Zivilisationen, die sich im Niedergang
befinden, ist die Tendenz zur Standardisierung und Uniformität. (Arnold Toynbee)"
Galeano lässt den Historiker Toynbee zu Wort kommen, weil es dieser wohl auf den
Punkt bringt. Der den Fernsehzuschauern präsentierte Fußball lebt weitgehend
ohne Überraschungen, gut organisierte Mannschaften treten gegeneinander an, doch
selten ist etwas von Freude zu sehen, die dem Fußballspiel zugrunde liegen mag.
Es spielt ein System gegen das andere System, so ist es. Im besten Fall
bestreiten Roboter Spiele gegeneinander, übrigens nicht nur solche, die aus
Fleisch und Blut sind, sondern auch tatsächliche Maschinen.
Fußballweltmeisterschaften, wo Teams mit Robotern antreten, die sie geschaffen
haben, sind seit über einem Jahrzehnt so etwas wie das Sahnehäubchen der
Technisierung der Welt. Was sich im Laufe der Jahrhunderte so schön entwickelt
hatte und durch ein gar nicht so schlechtes Regelwerk abgesichert wurde, läuft
nunmehr Gefahr, zu einem reinen Spielball der Mächtigen zu verkommen. Das kleine
bisschen Freude, die Spieler zu empfinden vermögen, ist fast nicht mehr
auszumachen. Alles ist generalisiert und in ein System eingeordnet, das den
ohnehin schon reichen und privilegierten Nutznießern des Fußballs in die Hände
spielt. Wenn dadurch der eigentliche Sinn, die eigentliche Qualität des Spiels
fast zur Nebensache wird, könnte ich - durch Eduardo Galeano angeregt - fast
versucht sein, wieder allerorts den Amateurfußball zu fordern. Denn eines steht
fest: Wenn nicht das Geld die Welt des Fußballs regiert, wie es etwa bei den
nicht so künstlich aufgeblasenen Vereinsmannschaften üblich ist, dann wird
wieder jene Freude am Spiel erkennbar, die einst Männer aus England Männern
anderer Nationen zu vermitteln suchten. Eduardo Galeano geht es mit seinem Buch
darum, einen Freudentanz im Namen des Fußballs aufzuführen. Jene Momente
sichtbar zu machen, wo Fußball noch Fußball ist, weil elf Männer gegen elf
Männer antreten, um ihren Spieltrieb auszuleben, indem sie einen Ball mit dem
Fuß oder dem Kopf hinter die Linie des gegnerischen Tores zu befördern
versuchen. Fußball hat ursprünglich etwas Magisches, etwas Einzigartiges. Dafür
springt Galeano in die Bresche.
(Jürgen Heimlich; 03/2014)
Eduardo Galeano: "Der Ball ist rund"
(Originaltitel "El futbol a sol y sombra")
Aus dem uruguayischen
Spanisch von Lutz Kliche.
Unionsverlag, 2014. 301 Seiten.
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Eduardo Galeano, geboren 1940 in
Montevideo, ist Journalist, Historiker und Kulturkritiker. 1973 emigrierte er
nach Argentinien, drei Jahre danach ging er ins spanische Exil, aus dem er erst
1985 wieder nach Uruguay zurückkehrte. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen
Auszeichnungen geehrt, darunter der "Premio Casa de las Americas" und der "American Book Award" der Universität Washington.
Weitere Buchtipps:
Wolff-Christoph Fuss: "Diese verrückten 90 Minuten. Das
Fuss-Ball-Buch"
"Hasta la vista, Bayern finalista!" Spontane, unvergessliche Sprüche wie dieser
sind das Markenzeichen des Fußballreporters Wolff-Christoph Fuss. Im Jahr der
Fußball-WM 2014 erzählt er aus der verrückten Realität seines Traumberufs und
einer häufig überdrehten Branche. Er erinnert sich an peinliche Patzer bei
seinen ersten Spielkommentaren, an emotionale Augenblicke wie beim "Spiel für
die Ewigkeit" zwischen "Inter Mailand" und "Schalke 04" oder an Vorgänge hinter
den Kulissen, etwa als der größte Tag in der Karriere des Jupp Heynckes auch zum
Tag seiner größten Niederlage wurde. Doch im Zentrum stehen die 90 Minuten, die
- unberechenbar, berauschend, ernüchternd - Millionen Menschen bewegen. Dieses
besondere "Fuss-Ball-Buch" ist Erinnerung, Reisebericht, Autobiografie und
Tagebuch in einem. Es erzählt von Spielen und Menschen, von Moderationen und
Notlagen, von Pannen und Glücksmomenten. (C. Bertelsmann)
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Ulli Potofski: "Entscheidend ist auf'm
Platz. Die verrückte Welt des Fußballs und seiner Kommentatoren"
Der Intellektuelle, der Pragmatiker, der Volksheld, die Radiosirene, Generation
Internet, der Lockenträger, der Wortgewaltige, der Gentleman, der Radiostar,
der Ruhige, der Schreihals der Nation, der Lehrmeister - jeder Sportreporter hat
seinen verdienten Spitznamen und jeder von ihnen wird gleichermaßen geliebt und
gehasst.
Ulli Potofski, selbst ein bekannter und beliebter Sportmoderator, zeichnet ein
liebevolles Bild seiner Kolleginnen und Kollegen und seziert auf sympathische
Weise den Kern eines jeden von ihnen - siehe oben. Ganz nebenbei entsteht so
auch ein vielschichtiges "Spiegelbild der deutschen Seele".
Mit Beiträgen u A. über Tom Bartels, Reinhold Beckmann, Manfred Breuckmann,
Frank Buschmann, Wolff-Christoph Fuss, Werner Hansch, Ernst Huberty, Dieter
Kürten, Monica Lierhaus, Rudi Michel, Heinz Florian Oertel, Béla Réthy, Marcel
Reif, Steffen Simon, Michael Steinbrecher und Sabine Töpperwien. (Gütersloher
Verlagshaus)
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Harry Scheffer: "Fußballgötter. Der schöne Schein des
Profisports"
Der Autor ist einer der am besten vernetzten Förderer der internationalen
Fußballwelt. Er hat mit Top-Trainern wie Arsène Wenger diskutiert, ebenso mit
Spitzenspielern. Für ihn stehen der Spieler als Mensch und seine Möglichkeiten
auf dem Platz im Mittelpunkt. Zu Wort kommen werden in dem Buch u. A. der
doppelte Meistertrainer Jürgen Klopp von Borussia Dortmund und der aktuelle
Bayern-München-Trainer Pep Guardiola. Harry Scheffer führt uns mit diesem Buch
in die Geheimnisse des Spitzenfußballs ein. (Orell Füssli)
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Brett Forrest: "Schattenspiele. Das
Milliardengeschäft mit manipulierten Fußballergebnissen"
Das organisierte Verbrechen hat den Fußball fest im Griff. Internationale Banden
manipulieren die Ergebnisse bis in die höchsten Spielklassen und scheffeln mit
sicheren Wetten Milliarden. Länger als fünfzehn Jahre konnte die Wettmafia
praktisch bedenkenlos agieren, da die Behörden das Problem unterschätzten, oder
nicht über die nötigen Ressourcen verfügten, um es zu bekämpfen. Doch nun wurde
den Kartellen der Krieg erklärt. Spannend wie ein Krimi erzählt dieses Buch von
einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Sports - und von einem
Ermittler auf dem Kreuzzug gegen die Wettmafia. (Heyne)
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