Kim Leine: "Ewigkeitsfjord"
Ein grönländisches Drama
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begibt sich der Pfarrer Morten Falck
als Seelsorger und Missionar in eine dänische Siedlung auf Grönland.
Prädestiniert scheint er für diese Aufgabe nicht zu sein, interessierten ihn
doch während des Studiums die Naturwissenschaften, die Medizin und die Erotik in
all ihren Ausprägungen sehr viel mehr als seine Theologie, mit der er sich nur
aufgrund des väterlichen Drucks befasst.
Hat Falck nebst einer Milchkuh auch einige Ideale nach Grönland mitgebracht, so
schwinden diese rasch dahin. Er findet verlotterte, chronisch kranke,
überwiegend dem Alkohol ergebene Landsleute vor, die sich skrupellos an Land und
Leuten bereichern, sich indigene Frauen als Sexsklavinnen halten, die Grönländer
und insbesondere die von ihnen selbst gezeugten Mischlinge als Untermenschen
ansehen und seine Versuche, eine gewisse Ordnung herzustellen, massiv
sabotieren.
Falck hört von einer Siedlung im wenige Tagesreisen entfernten Ewigkeitsfjord,
die von Grönländern errichtet wurde und die regen Zulauf findet. Die Gründerin
soll eine Prophetin sein, und ihr Mann verkündet ihre Weisungen.
In der Absicht, diese ketzerische Siedlung zu zerstören, die entgegen dem
dänischen Recht auch noch Handel mit Engländern betreibt, besucht Falck sie
zusammen mit wenigen Begleitern. Doch erstaunt stellt er fest, dass die
Glaubensabtrünnigen ganz im Gegenteil zur dänischen Siedlung eine
funktionierende Gemeinschaft aufgebaut haben, in der zudem Hygiene und gesunde
Ernährung eine Selbstverständlichkeit sind. Allerdings zeigen sich bereits erste
Risse, weil auch dort die Macht korrumpiert. Und nicht zuletzt sind es wieder
erotische Spannungen, die den Niedergang einleiten.
Der einst euphorische Falck stößt allenthalben an seine Grenzen, erkennt vor
allem, dass die Grönländer bei logischer Betrachtung keinerlei Gründe haben
können, die Religion ihrer Unterdrücker anzunehmen. Als Missionar erfolglos und
als Pfarrer der Siedlung zum Feind des Kaufmanns geworden, der die weltliche
Verwaltung innehat, gibt sich der Protagonist schließlich auf und wartet, selbst
zum Alkoholiker geworden, nur noch auf seine beantragte Ablösung.
Doch zurück in der Heimat spürt er, dass er dort längst nicht mehr hingehört. Er
strandet und erkennt schließlich, ganz unten angekommen, seine wahre Berufung.
Kim Leine erweist sich als Meister der Erzählkunst. Schon früh entwickelt sich
eine erstaunliche Anzahl an unterschiedlichen Ebenen und Handlungssträngen,
meist durch Vor- und Rückblenden entstanden, mittels derer schließlich ein sehr
vielschichtiges und stimmungsintensives Bild vom Grönland der erwähnten Epoche
entsteht.
"Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten!" Das
Rousseau-Wort, vom Protagonisten allenthalben und zu Recht zitiert, wird zum
zentralen Thema des Romans. Solche Ketten werden seinen Figuren nicht nur durch
die Kompromisslosigkeit und Schwarz-Weiß-Malerei sowie die brutale Durchsetzung
von weltlichem und geistlichem Recht angelegt, sondern auch durch ihren
kulturellen Hintergrund, die fehlende Möglichkeit zur verbalen Kommunikation,
körperliche Bedürfnisse und körperliche Grenzen, Schuld, Abhängigkeiten aller
Art und vieles mehr. Auch Falck ist nicht frei von solchen Ketten, im Gegenteil,
und darüber hinaus gelingt es ihm auch nicht, die ihm anvertrauten Menschen von
ihnen zu befreien. So schwankt die Grundhaltung des Protagonisten zwischen
Idealismus und Resignation - auch hier Schwarz-Weiß, passend zur grönländischen
Landschaft.
Eindringlich schildert der Autor Falcks Begegnungen mit der fremden
grönländischen Welt, ihren Menschen und sich selbst, und zugleich zeichnet er
ein verstörendes, zeitloses, kulturübergreifendes Bild von den zumeist selbst
induzierten Schwächen der Menschen. Ein starkes Werk!
(Regina Károlyi; 03/2014)
Kim Leine: "Ewigkeitsfjord"
(Originaltitel "Profeterne i Evighedsfjorden")
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Hanser, 2014. 640 Seiten.
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Kim Leine, 1961 als Kind
dänischer Eltern in Norwegen geboren, ist einer der wichtigsten dänischen
Autoren der Gegenwart. Seine Romane wurden von der Kritik gefeiert und in
mehrere Sprachen übersetzt. "Ewigkeitsfjord" wurde mit
zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem "Preis des dänischen
Buchhandels", "De Gyldne Laurbær", und dem "Politikens Litteraturpris". Kim
Leine lebt in Kopenhagen.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Untreue der Grönländer"
Sind die Grönländer untreu? Die Bewohner des kleinen Dorfes am östlichen Rand
von Grönland, in das es den Kopenhagener Jesper verschlägt, sind jedenfalls
keine Kinder von Traurigkeit: Sie feiern und genießen, lieben und betrügen
einander und zeigen sich wenig beeindruckt von dem ewigen Kreislauf aus
Fortpflanzung, Geburt und Tod. Während des Jahres, in dem Jesper die örtliche
Krankenstation leitet, erlebt er mit den Dorfbewohnern so schöne und schaurige
Geschichten, wie er sie sich nicht hätte träumen lassen. Er sieht sich vor
Aufgaben gestellt, auf die er nicht vorbereitet war, wird von seinen Patienten
gezwungen, zu operieren oder Zähne zu ziehen. So lernt Jesper den Eigensinn,
aber auch den Humor und die Gelassenheit der Grönländer kennen - und das
Selbstbewusstsein der Frauen, die nicht nur beim Fußball oder beim Poker den Ton
angeben.
Kim Leine schreibt lakonisch und poetisch, mit trockenem Witz und feiner Ironie.
Er erzählt von den Menschen in einem grönländischen Dorf, von Salomons Diskutek-
und Kinobetrieb, vom Pokalsieg der Frauenfußballmannschaft, von arktischen
Stürmen, Bären im Keller und Schüssen aus dem Nirgendwo. Der Däne Jesper
begegnet destruktiven Kräften, die sich in der Dunkelheit verbergen, aber auch
einer unerwarteten Schönheit und Leidenschaft. (Marebuch)
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