João Ricardo Pedro: "Wohin der Wind uns weht"
Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um das Erstlingswerk des 1973 geborenen Portugiesen, das wegen seines großen Erfolges gleich ins Deutsche übersetzt wurde. Wörtlich übersetzt würde der Titel so etwas wie "Dein Gesicht wird das Letzte sein" lauten.
Im Grunde besteht der Roman aus mehreren kleineren, wenn auch zusammenhängenden Geschichten, von denen die meisten auch getrennt das Lesen lohnen würden.
Als ersten Hauptstrang könnte man die Geschichte der Familie Mendes über drei Generationen hinweg bezeichnen, insbesondere deren männliche Linie: Großvater Augusto, Landarzt aus Überzeugung, António, ehemaliger Angolasoldat, und schließlich der Jüngste, Duarte Miguel, Pianist. Letzterer, dies der zweite Hauptstrang des Romans, ist der Einzige, der selbst die Gesamtheit dieser Geschichten zu Ohren bekommen oder sogar erlebt hat.
Darüberhinaus und zusätzlich zu den ebenfalls Zusammenhang herstellenden Motiven (Musik, Kunst und Leben, Politik und Leben, Leben am Land, Exil, Verlust von Körperteilen, Ersatzteile, Kraft des Erzählens und der Erinnerung, Liebe und Tod) flicht der Schriftsteller weitere Verknüpfungen in Form seltsamer Synchronizitäten ein: den seligen Kater Joseph beispielsweise (der Leser bekommt ihn leider nicht mehr in der Blüte seiner Jahre zu Gesicht), geboren am 3. 8. 1924, dem selben Tag, da in dem Roman ein bedeutungsvolles Frauenportrait fertiggestellt wird; gestorben am 1. 9. 1939, bei welchem Tag es sich wiederum gleichzeitig um den Weltkriegsbeginn sowie den Geburtstag von António Mendes handelt.
Auch der 25. April 1974 ist so ein Datum der besonderen Gleichzeitigkeiten, jener segensreiche Tag der erfolgreichen Nelkenrevolution, die den Portugiesen endlich die Befreiung von jahrzehntelanger Diktatur ("Papa, wer war Salazar? Ein linker Abwehrspieler beim FC Belenense.") bescherte. Denn neben der Familie Mendes und den anderen handelnden Personen geht es in dem Roman immer auch ein wenig um die jüngere Geschichte Portugals, darum, wie sie politische Märtyrer, innere und äußere Emigranten, Kriegspatinnen und Soldaten hervorgebracht hat; unvermeidlich in diesem Zusammenhang eine schlimme Geschichte vom Krieg in Angola, auf dessen Auswirkungen auf Leib und Seele man immer wieder in dem Buch stößt.
Am wenigsten gelungen ist João Ricardo Pedro das musikalische Thema. Ausgehend von der pianistischen Begabung des kleinen Duarte soll es um den Zauber der Musik und ihren besitzergreifenden Charakter gehen, gegen die sich der angehende Berufspianist nur durch völligen Verzicht, nicht etwa nur auf das Virtuosentum, sondern auf das Klavierspielen überhaupt, zu retten können glaubt. Von der "Furcht so zu werden, wie die Musik" und derlei ist zwar pflichtgemäß die Rede, doch gerät die Ausführung dem Schriftsteller, nicht zuletzt gemessen an der Schwergewichtigkeit solcher Themen wie der Spannung zwischen Kunst und Leben und den Opfern des Virtuosentums, etwas seicht, die Darstellung der Seelenqualen seines Pianisten ein wenig blutarm.
Und was seine Bemerkungen zu den großen Komponisten der abendländischen Klavierliteratur betrifft, hege ich die Vermutung, dass João Ricardo Pedro, hätte er um die Übersetzung seines Romans ins Deutsche gewusst, diesen Teil ganz anders angegangen wäre.
Ausgezeichnet schreibt er jedenfalls dort, wo es ihn persönlich betrifft, wie er überhaupt ein sehr begabter Erzähler ist, der seine Sprache an den Inhalt (so es ihn gibt!) anzupassen und in wenigen Sätzen die adäquate Atmosfäre zu schaffen versteht. Den Familienmitgliedern mit all ihren Absonderlichkeiten und ihrer Dynamik schenkt er besonders viel Sorgfalt, bei manchen Passagen kann man regelrecht von einer Hommage sprechen.
Hervorragend gelungen ist beispielsweise die Stelle, in der die Familienmitglieder um den kleinen klavierbesessenen Duarte herumstehen und, von seinem geräuschlosen Spiel gereizt, diverse, recht widersprüchliche Kommentare abgeben; hier kippt die Prosa auf einmal in eine Theaterszene voll Komik, in deren Mitte man irgendwo den kleinen, vom Stimmengewirr der Erwachsenen benommenen Buben erahnt.
Auch der ins Makabre gehende Umgang in seiner Familie mit Leid wird schön verdeutlicht. Hierzu eine kleine Szene: der Sohn ist im Zorn verschwunden, die Mutter durchsucht das ganze Haus, den Garten - nichts. Zuguterletzt späht sie verstohlen in den Brunnen, um nachzusehen, ob nicht vielleicht eine Kinderleiche auf der Wasseroberfläche schwimme. "Es schwamm keine Leiche darauf." - lautet herrlich lakonisch der Folgesatz.
Und noch ein letztes Beispiel, für das Sprachtalent des Schriftstellers ebenso wie für seine Erstlingsschwächen, bei mangelhafter innerer Beteiligung oder aus Nachlässigkeit zu dick aufzutragen und ins Frasen- und Schablonenhafte abzugleiten: die Rede ist von einem Portugiesen, der sich 1924 im Wiener Kunsthistorischen Museum ("der einzige Ort in der Nähe der Oper, wo man absolute Ruhe fand. Ohne Betrunkene, die Goethe rezitierten, oder Soprane, die versuchten, das hohe B zu treffen") aufhält, um heimlich eine Frau zu beobachten, die dabei ist, ein Gemälde von Bruegel oder, wie sich herausstellen wird, ein Detail daraus abzumalen. Dieser Senhor, heißt es da, "wollte wie ein zufälliger Besucher wirken. Wie ein wohlhabender Tourist aus Südeuropa. Ein Intellektueller. Ein politischer Flüchtling. Ein Monarchist. Ein Anarchist. Wie jemand, der einer verkrüppelten Frau vor einer Leinwand ebenbürtig war." Eine gut charakterisierende humorvolle Beschreibung, die der Leser allerdings zwei Seiten weiter wiederholt und damit ausgeschlachtet sehen muss.
In Summe ist "Wohin der Wind uns weht" eine große Talentprobe mit kleinen Schwächen geworden. Und es bleibt zu hoffen, dass João Ricardo Pedro in seinem zweiten Buch, an welchem er derzeit schreibt, ein ihn packendes Sujet gefunden hat.
(fritz; 06/2014)
João Ricardo Pedro: "Wohin der Wind uns weht"
(Originaltitel "O Teu Rosto Será O Último")
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis.
Suhrkamp, 2014. 229 Seiten.
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João Ricardo Pedro, 1973 in der
Nähe von Lissabon geboren, arbeitete nach einem Ingenieursstudium einige Jahre
in der Telekommunikationsbranche. Im Zuge der Wirtschaftskrise wurde er
arbeitslos und erfüllte sich einen Traum, indem er zu schreiben begann. "Wohin
der Wind uns weht" ist sein preisgekröntes Debüt.
Noch ein Lektüretipp:
Simon Kamm: "Portugal. Ein Länderporträt"
Melancholisch und lebensfroh, rebellisch und sanft, stolz und gastfreundlich -
mit viel Sympathie blicken ihre europäischen Nachbarn auf die Portugiesen, die
so viel scheinbar Unvereinbares vereinbaren. Simon Kamm erzählt, wie die große
Vergangenheit eines der ältesten Nationalstaaten Europas das
Gegenwartsbewusstsein der Portugiesen mitbestimmt, wie die enge Bindung an das
Meer Land und Leute prägt, was es bedeutet, dass Portugal das EU-Land mit der
größten Anzahl Restaurants pro Kopf ist, wieso die Improvisation als
"desenrascanço" geradezu eine portugiesische Kunstform ist und wie die
gegenwärtige Krise das Land und die Generation der jungen Portugiesen prägt und
verändert. (Ch. Links)
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Leseprobe:
Das Glasauge
Eines schien sicher zu sein: An
diesem denkwürdigen 25. April 1974 schnallte sich Celestino weit vor sieben Uhr
den Patronengürtel um, schulterte die Browning, prüfte, ob er noch Tabak und
Blättchen hatte, vergaß die Uhr an dem Nagel, wo außerdem ein Kalender hing, und
verließ das Haus. Der Himmel begann bereits aufzuklaren. Oder er klarte noch
nicht auf. Auf die Schüssel Milchkaffee hatte er, ohne mit der Wimper zu zucken,
zwei kräftige Schluck Schnaps gekippt. Den ersten gegen das Sodbrennen. Den
zweiten gegen die grüblerischen Gedanken, denn wie bereits sein Äußeres verriet,
war er ein Mensch, der zu häufiger Melancholie neigte.
Gegen elf Uhr vormittags
verspürten jene Menschen, die nach der grausamen Arithmetik der Scheffel, Silos,
Ernten, Monde, Wechselfieber, Tierkrankheiten und Fröste lebten, noch keinen
Wind der Veränderung. Männer und Maultiere pflügten in untadeliger Geometrie den
Boden, während die Frauen, eingelullt von Melodien, die ihre eigenen Lippen
hervorbrachten, im Dunkel der Ställe die Tröge der Schweine, Ziegen und Kinder
füllten. Und hätte jemand die Dreistigkeit besessen, diese mühseligen Arbeiten
zu stören, um ihnen mitzuteilen, dass der Präsident des Ministerrats von
Portugal, umzingelt von Soldaten, die seinen Rücktritt forderten, gerade
in eine Lissabonner Kaserne eingesperrt worden war, hätte er als Antwort gewiss
nur einen Blick absoluten Desinteresses geerntet.
Denn in diesem kleinen, am
Fuße des Gardunha-Gebirges gelegenen Dorf, das den Namen eines Säugetiers trug
und nach Süden zeigte, ohne sich bewusst
zu sein, dass es nach Süden zeigte, gab es nur eine
einzige Ausnahme zu dieser vollkommenen Gleichgültigkeit
gegenüber der Heimat, die für jene Leute fast eine Art
ferner Ort war: nämlich das Haus von Doktor Augusto Mendes. Dort
waren in einer Art Krisenkabinett die illustresten
Persönlichkeiten des Dorfes zusammengekommen: Adolfo,
Bocalinda, Larau, Pater Alberto, Fangaias und
natürlich der Gastgeber, Doktor Augusto Mendes.
Als Dona Laura sah, dass das Haus
sich mit potentiellen Essern füllte - und in dem Vorgefühl, dass
diese Staatsstreich-Geschichte etwas Längerfristiges war
-, eilte sie, bewaffnet mit Messer und Schüssel, in den
Hühnerstall, aus dem sie mit den ersten beiden
Revolutionsopfern wiederkehrte. Und als es noch keine zwei Uhr
geschlagen hatte, stellte sie in einer unmissverständlichen
Machtdemonstration, als wollte sie deutlich machen, dass,
ganz gleich, was im Land passierte, in ihrem Hause alles beim
Alten bliebe, Radio und Fernseher aus, öffnete die
Flügeltüren zum Garten und verkündete, die Hühnersuppe sei
angerichtet.
"Essen Sie, die Minze wird Sie
wieder aufheitern", sagte sie zu Pfarrer Alberto, der von all
den illustren Persönlichkeiten am besorgtesten wirkte. Nicht über
die politischen Ereignisse, denn die Politik hatte
ihn noch nie interessiert. Caesar, was Caesar gehört, und Gott,
was Gott gehört. Ihn interessierten die Menschen und die
Seelen der Menschen, was ja auch nicht wenig ist. Für den
Doktor Oliveira Salazar hatte er zwar wahrlich keine
besondere Sympathie gehegt, ganz im Gegenteil, doch im Falle des
neuen Machthabers Marcello Caetano war das anders: ein
Professor, Witwer, Vater. Vater des Fräuleins Ana
Maria, dieses prachtvollen Mädchens. Und der Vater des
Fräuleins Ana Maria war es auch, der seit den frühen
Morgenstunden Schutz suchte in der Kaserne der Rua do Carmo, weiß
Gott, wie es ihm dort erging. Er war bereits nicht mehr
Präsident des Ministerrats und noch viel weniger
Kolonialminister oder Kommissar für die Portugiesische Jugend. Er
war nur noch Vater des Fräuleins Ana Maria.
"Ein einsamer Mann", sagte der
Pfarrer, "ein guter Mann, ein Mann, dem man angemerkt hat,
dass er es leid war, ein ganzes Imperium auf seinen Schultern zu tragen."
Am anderen Ende der Tafel saß Larau,
dessen Gemüt sich seit seiner Geburt in permanenter
Wallung befand, sei es wegen der Revolutionen, des
Dreiband-Billards oder der Prozessionen am Ostersamstag. Und
der Anblick der dampfenden Hühnersuppe regte nicht nur seinen
Appetit an, sondern beflügelte auch seine
Wortwahl. So fügte er jedes Mal, wenn der Name Marcello Caetano
fiel, was mindestens alle drei Minuten passierte, diesem
ein gravitätisches, vollmundiges "dieser Sohn einer Hure
und eines elenden Gehörnten" hinzu. Dem angesichts Dona Lauras strengen Blickes ein zerknirschtes
"Gott
vergebe mir" folgte, begleitet von dem entsprechenden Kreuzzeichen.
Doch trotz Laraus Ausfälligkeiten
und Pfarrer Albertos Ängsten wusste niemand mit
Bestimmtheit zu sagen, was in Lissabon vor sich ging, und auch
nicht, in welcher Lage Marcello Caetano sich befand. So
kamen in dieser ungewissen Situation die kuriosesten
Vermutungen auf den Tisch (...)