Eric-Emmanuel Schmitt: "Die Frau im Spiegel"
Drei Frauen und
ihre Sehnsüchte
Annes Eltern sind gestorben, und sie wächst im Haus ihrer Tante auf, zusammen mit drei
Cousinen. Es ist die Frühzeit der Reformation in Flandern, und die katholische
Kirche reagiert nervös auf alles Abweichlerische. Anne muss darüber nachdenken,
ob die den jungen Flamen Philippe heiraten soll; ein Fang, auf den besonders
ihre Cousine Ida in diesen Zeiten der Männerknappheit eifersüchtig ist. Kurz vor
der Hochzeit macht sie sich allerdings aus dem Staub und lebt für einige Zeit im
Wald, wo sie einem ebenso gelehrten wie sehr liebenswürdigen Mönch begegnet.
Dieser bringt sie zurück nach Brügge, wo er die Idee verbreitet, dass Annes
weiteres Leben nicht einem Ehemann, sondern Gott gehören sollte. Gegen ihren
Willen wird sie zu einer Quasi-Heiligen mit dem Namen Anne von Brügge.
Hanna von Waldberg, reiche Erbin ihrer Adoptiveltern, heiratet anno 1904 in Wien
den meistbegehrten Junggesellen, ist sich aber ihrer neuen Rolle als Ehefrau
genauso wenig sicher, wie der einer freundlichen und angenehmen jungen Frau, als
die sie sich eher nicht sieht. Diese Spannungen zwischen Rollenerwartungen und
eigener Wahrnehmung führen bei ihr zu allerlei Problemen, weswegen ihr ihre
Tante Ivy schließlich rät, sich in die Hände eines dieser neuen Ärzte für
Psychoanalyse zu begeben, was sie nach einigem Zögern dann auch tut. Die Analyse
verändert ihr Leben grundlegend - genau wie die Gesellschaft, in der die Ideen
der Psychoanalyse zu dieser Zeit erstmals eingeführt werden.
Anny Lee ist eine erfolgreiche Schauspielerin, die immer alles gibt, was sie
emotional zu geben hat, und die daraus resultierende innere Leere oft mit
Alkohol, illegalen Drogen und wechselnden Geschlechtspartnern zu füllen
versucht. Im Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Selbstunsicherheit und der
öffentlichen Rolle, die ihre Agentin für sie geschaffen hat, steuert sie
beschleunigend dem Wasserfall ihres Karriereflusses entgegen und vermag nicht
zu sehen, wie sie einen schlussendlichen Absturz vermeiden könnte.
Der 1960 geborene Autor Eric-Emmanuel Schmitt präsentiert drei interessante
Frauen mit ähnlichen Problemen in sehr unterschiedlichen Umbruchszeiten ihrer
jeweiligen Kulturen, wobei neben der Darstellung des Außen- und Innenlebens der
Drei auch noch ihr jeweiliges Umfeld detailliert und nachvollziehbar dargestellt
wird.
Die Auflösung religiöser Sicherheiten im Volksglauben und der Theologie zur Zeit
der Reformation, die Veränderungen in Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft zu
Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien und der ständige Wandel der
Unterhaltungsindustrie in Hollywood sind im Hintergrund spürbare Motive dieses
Romans, die ihm eine Dichte und Fülle verleihen, welche weit über die drei
Einzelschicksale der Frauen hinausreichen.
Eric-Emmanuel Schmitt gelingt neben der umrissenen Darstellung auch wunderbar
die Verknüpfung dieser drei Figuren über die Jahrhunderte, wobei er Hanna in
erster Linie durch ihre Briefe an eine Freundin aus Kindheitstagen sprechen
lässt, was infolge der Erzählsituationsverschiebung zusätzliche Abwechslung
bringt, die den Leser geradezu durch die Lektüre reißt. Dabei wird das
Ausgangsthema der religiösen Identität aus Schmitts Reihe zum Unsichtbaren mit
den immer wieder auftauchenden Fragen nach Identität, (so erinnert Anny in
Teilen an den Protagonisten von
"Als ich ein Kunstwerk war"), und anderen
Grundthemen seines Schreibens eng verknüpft.
Fazit:
Ein überaus zufriedenstellender Roman, den man besser nicht am Spätnachmittag
beginnt, weil man ansonsten in der darauffolgenden Nacht wenig Schlaf findet.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 01/2014)
Eric-Emmanuel Schmitt: "Die Frau im
Spiegel"
(Originaltitel "La femme au miroir")
Übersetzerin: Marlene Frucht.
S. Fischer. 431 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Liebenden vom Place d'Arezzo"
Ein freizügiger Roman über die Liebe, so wie sie uns im Gestöber des Lebens
begegnet.
Ein anonymer Liebesbrief bringt Unruhe in das elegante Brüsseler Viertel rund um
den Place d'Arezzo. Alle haben ihn erhalten: Der Bankier, der seiner Familie
verheimlicht, dass er sich von anderen Männern angezogen fühlt. Der hochrangige
Politiker, der notorisch jede halbwegs attraktive Frau anspricht. Die
sexsüchtige Diane, die sich mit Unbekannten zu sadomasochistischen Sitzungen
trifft und einmal, gut geknebelt und verpackt, von ihrem Liebhaber
zurückgelassen wird, um Stunden später von ihrem Ehemann erlöst zu werden. Aber
es gibt auch die verschrobene alternde Dame, die ein telepathisches Verhältnis
zu ihrem Papagei unterhält, oder die glücklich Liebenden, die einander bereits
gefunden haben, oder - schöner noch - sich im Laufe des Romans finden.
Und allen gibt dieser Liebesbrief - Absender unbekannt - Rätsel auf. Ein jeder
fühlt sich angesprochen auf seine Weise. Doch wer verbirgt sich hinter diesen
scheinbar so unschuldigen Zeilen? (S. Fischer)
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