Carola Saavedra: "Blaue Blumen"
"Wichtig
ist nicht, was du schreibst, sondern was gelesen wird!" (Carola
Saavedra)
Im 21. Jahrhundert mutet ein Roman, der in etwa zur Hälfte aus
Briefen besteht, vielleicht ein wenig antiquiert an. Sich aus einer
inneren Notwendigkeit mitzuteilen, klingt hingegen ungebrochen aktuell,
nur werden heutzutage eben kaum mehr Briefe geschrieben.
Carola Saavedra hat diese entschleunigte Form gewählt, die
ihrem Schreibstil offenkundig sehr entgegenkommt: beharrend,
hochsensibel, Distanzen und das Wesen der Zeit einkalkulierend - und
nicht zuletzt der einmal ernsthafte, dann wieder spielerische Umgang
mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Wahrheit.
Der erstmals anno 2008 erschienene Roman "Blaue Blumen" der 1973 in
Santiago (Chile) geborenen, in Rio de Janeiro lebenden Autorin ist in
Deutschland entstanden, wo Carola Saavedra Kommunikationswissenschaften
studiert hat.
Für weite Teile ihres Romans hat die Schriftstellerin also
eine bewährte Gattung gewählt, denn in Briefen lassen
sich ganz trefflich intime, subjektive Wirklichkeitswahrnehmung sowie
Selbstreflexion ausbreiten, die schreibende Figur kann sich trotz ihrer
Einsamkeit mitteilen, ihren Gedanken freien Lauf lassen und ihre
Innenwelt unmittelbar darstellen.
Der Briefroman als solcher erlebte in Europa im 18. Jahrhundert ("das
Jahrhundert des Briefs") seine Blütezeit, einige namhafte
Autoren, die sich in dieser Disziplin versucht haben, waren der
Franzose Jean-Jaques
Rousseau, der Engländer Samuel Richardson
und selbstverständlich auch
Johann
Wolfgang von Goethe.
Blaue Briefe, blaue Blumen und das Blaue vom Himmel
Eine offenbar sitzengelassene Frau schreibt ab 19. Jänner neun
Tage lang täglich einen Brief an ihren verflossenen "Liebsten",
der jedoch nicht mehr an der ihr bekannten bisherigen Adresse wohnt,
und so wird der Nachmieter zum Leser, ein sitzengelassener Mann namens
Marcos, geschiedener unfreiwilliger Vater, bei dem jedes Wochenende
seine dreijährige Tochter Manuela, zu der er
überhaupt keinen Zugang findet, zu Besuch ist.
Natürlich plagen den Mann angesichts des ersten Briefes
zunächst Gewissensnöte, ob er ihn überhaupt
öffnen und lesen darf oder soll, doch schließlich
siegt - erwartungsgemäß im Sinn des Romans - die
Neugier.
Es handelt sich um am Computer getippte Briefe, in mit
Füllfederhalter beschrifteten blauen Kuverts verschickt oder
auch persönlich in den Briefkasten gesteckt, ohne
identifizierbaren Absender, nur mit einem geheimnisvollen "A."
gekennzeichnet.
Somit bleibt der Briefroman in dieser Hinsicht ein einseitiger, denn
der Empfänger kennt wie erwähnt weder Namen noch
Anschrift der Absenderin und ist daher außerstande, ihr zu
antworten. Eine Sackgassensituation, welche die Sehnsüchte des
sich von der Frauenwelt unverstanden Fühlenden
beflügelt.
Als Briefe gestaltete Kapitel wechseln sich mit erzählenden
Abschnitten ab, in denen Marcos im Mittelpunkt steht.
Marcos wird unbeabsichtigt zum "Voyeur", denn die täglichen
Briefe ersetzen jede Seifenoper im Fernsehen und sogar Treffen mit
Bekannten oder auch der Exfrau und regen seine Fantasie an. Er
erhält Stück für Stück Einblicke in
die zerbrochene, allem Anschein nach vor allem von
körperlicher Gewalt, Kommunikationsunfähigkeit und
Hass geprägte Beziehung der Unbekannten, die in zahllosen
Wiederholungen das Geschehene, ihre Gefühle, Hoffnungen und
Wünsche darstellt, hinterfragt, Stärken und
Schwächen preisgibt, die Themen in Variationen umkreist, stets
ausgehend von den Ereignissen am Vortag und in der Nacht vor der
endgültigen Trennung von ihrem "Liebsten" ("die
nie enden wollende Trennung", S. 201).
Noch nie hat sich Marcos eine Frau in vergleichbarer Weise
geöffnet, noch nie hat er solche Einsichten gewonnen, niemals
hat er mit einer Frau ein tiefschürfendes Gespräch
geführt, obwohl ihm Oberflächlichkeit zuwider ist.
Und nicht zuletzt halten auch Schilderungen zunehmend brutaler
erotischer Szenen Marcos bei der Stange (z.B. "Ich starrte
auf die blauen Blumen; blaue Blumen, ich konnte mich nicht daran
erinnern, sie gekauft zu haben, aber gleichzeitig hatten sie etwas sehr
Vertrautes, dachte ich, während mein Unterleib die Liebkosung
durch den Tisch spürte und dich, ein Messer, eine Faust,
irgendetwas Bohrendes in meinem Rücken." S. 176).
Fabiane, eine seiner Freundinnen, ist freilich wieder genau jener Typ
Frau, mit dem er im Grunde nichts anzufangen weiß:
wunderschön, anspruchsvoll, fordernd. Doch: "Ein
Mann, der gerade eine Trennung hinter sich hat, braucht eine Frau mit
einem Minimum an Verständnis. Eine Frau, die in Momenten
größter Geselligkeit an seiner Seite ist und ihm den
Rückzug gestattet, wenn das Alleinsein unumgänglich
ist." (S. 61)
Die unbekannte "Brieffreundin" passt da schon eher ins Bild, denn
wenigstens sie fordert nichts von Marcos. Im Zuge der Lektüre
der Briefe entfernt er sich innerhalb weniger Tage von seiner
bisherigen Lebensführung, meldet sich im Büro krank,
beobachtet stundenlang von einem Schnellrestaurant aus das Postamt,
sagt das Wochenende mit der Tochter ab, ruft niemanden mehr
zurück, sondern befasst sich endlich auch mit lange
verdrängten verstörenden Situationen aus seiner
eigenen Vergangenheit und Verfehlungen (z.B. mit dem
fürchterlich missglückten einzigen Versuch, nach der
Geburt der Tochter wieder mit seiner Frau zu schlafen).
Marcos verliert sich immer mehr in den insgesamt neun Briefen, doch in
den Brief vom 27. Jänner schleicht sich kaum merklich
ein anderer Ton ein: "Es sind nicht nur die Briefe,
die ich mir ausdenke, nicht nur diese Briefform, sondern auch noch eine
andere Geschichte; die Geschichte von dem, der diese Briefe liest."
(S. 197, 198). Ab diesem Moment gerät Marcos' romantisches
Fantasieidyll in Turbulenzen, die Ereignisse
überstürzen sich, bis zum äußerst
überraschenden Ende, das rückblickend allem davor in
den Briefen zum Ausdruck Gebrachten den Boden entzieht und sowohl den
demaskierten Marcos als auch den Leser einigermaßen
verblüfft zurücklässt.
Carola Saavedra ist mit der unerwarteten Wendung gegen Ende und der
damit einhergehenden Erschütterung ein raffinierter Abschluss
gelungen, der für die zahlreichen etwas weitschweifigen
Briefpassagen, die entfernt an den Stil gewisser Romane
António
Lobo Antunes' erinnern, mehr als entschädigt.
(kre; 03/2015)
Carola
Saavedra: "Blaue Blumen"
(Originaltitel "Flores Azuis")
Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch.
C.H. Beck, 2015. 223 Seiten.
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Carola
Saavedra erhielt für ihren anno 2013 bei C.H. Beck
erschienenen Roman "Landschaft mit Dromedar" den "Rachel de
Queiroz-Preis" und war unter den Finalisten für die
renommierten Literaturpreise "Jabuti" und "São Paulo de
Literatura". Mit "Toda Terça" (2007) gewann sie den
"APCA-Preis" in der Kategorie "Bester Roman". Die Zeitschrift "Granta"
zählt sie zu den zwanzig besten jungen Autoren
und Autorinnen
Brasiliens.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Landschaft mit Dromedar"
Érika hat sich auf einer namenlosen Insel verschanzt, um sie
herum Vulkane, Touristen und Dromedare. Jeden Tag spricht sie ihre
Gedanken und Erlebnisse auf ein Tonbandgerät - 22 Aufnahmen,
die sich an Alex richten, und wenn die Sprache an Grenzen
stößt, bleiben stets die Geräusche und
Klänge in Érikas Umgebung. Viele Jahre waren
Érika und Alex einander Vertraute, vielleicht Liebende, und
definitiv ein Künstlerpaar, das nicht nur seine Arbeiten
miteinander teilte, sondern auch eine Dreiecksbeziehung
mit der jungen
Kunststudentin Karen. Sie hat Alex und Érika voreinander
beschützt und seltsamerweise wahre Nähe
ermöglicht. Karens Tod wirft viele Fragen auf, nun muss
Érika wissen, wer sie ohne Alex ist und warum sie die
sterbenskranke Karen eigentlich verstoßen hatte. Doch nicht
nur die Vergangenheit bestimmt Érikas Gegenwart, sondern
auch neue Begegnungen - mit der Hausangestellten Pilar oder dem
Tierarzt Dr. Adrian, der plötzlich eine zentrale Rolle in
ihrem Leben spielt. Und auch Bruno und Vanessa, in deren Haus
Érika zu Gast ist, nötigen ihr unliebsame
Wahrheiten auf. (C.H. Beck)
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