Serhij Zhadan: "Internat"
Die Essenz des Krieges
Der im ukrainischen Kharkiv
lebende Schriftsteller Serhij Zhadan ist längst Kultautor in seinem Heimatland.
Die Umwälzungen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sein Land
seit dem Fall der Berliner Mauer und der Unabhängigkeit durchlebt hat, haben
seine bisherigen Romane geprägt. Die Erzählungen in "Big Mäc", seine Essays und
die Romane "Hymne der demokratischen Jugend", "Mesopotamien", "Die Erfindung des
Jazz im Donbass" und "Depeche Mode" sind literarische Meisterstücke, die genau
da ansetzen, wo es den meisten anderen Autoren längst viel zu weh tut.
Im
Roman "Internat" geht Zhadan noch ein Stück weiter. Er beschäftigt sich mit
dem Krieg, der seit mehr als vier Jahren in der Ostukraine stattfindet. Und vorweg,
dies ist ein gewaltiges Buch. Dass dieser kongenial übersetzte Roman im März
2018 auf
der "Leipziger Buchmesse" mit dem Preis für die beste Übersetzung ausgezeichnet
wurde, ist nur allzu berechtigt.
Während die Ukraine davon ausgeht, dass es sich bei
dem Krieg ihrerseits um eine Anti-Terror-Operation handelt, behauptet Russland,
dass es sich hier um einen innerukrainischen Konflikt handelt. Einen Bürgerkrieg
also. Dementsprechend verworren ist die Situation, weil die Grenzen zwischen den
Fronten während der Existenz der Sowjetunion mehr als verschwommen sind. Wer
sind "wir", wer seid "ihr"? Während in "Mesopotamien" der Krieg noch vor der Tür
stand, oder zumindest in der Nähe brannte, begibt sich "Internat" direkt in die
Hölle des Krieges.
Pascha ist 35 Jahre alt, Lehrer für Ukrainisch, leicht
übergewichtig, trägt Brillen und ist definitiv kein Held. Das
Leben hat ihn zurechtgewiesen, Politik kann ihm gestohlen bleiben.
Ernüchtert nimmt er zur Kenntnis, dass es so ist, wie es ist. Er
wohnt in einem Eisenbahnerhäuschen mit der Schwester und dem alten
Vater. Ein Held sein ist so ziemlich das Letzte, was Pascha
möchte. In einer Szene, wo er sich weigert, Stellung zu beziehen
und in der Nähe Kriegshandlungen einsetzen, will er seine
Schützlinge in einen Schutzkeller führen, was unter den
jungen Menschen zu Erheiterung führt. Der Krieg ist so
alltäglich geworden, dass Pascha nicht mehr ernst genommen wird.
Und so geht er allein in den Schutzkeller.
Er erfährt, dass das Internat
in der namenlosen Stadt, in dem seine Schwester ihren Sohn mehr oder weniger
entsorgt hat, nun hinter der sich ständig verschiebenden Frontlinie liegt und
unter Beschuss geraten ist. Wichtig ist, dass das Wort "Internat" im Russischen
und Ukrainischen auch "Waisenheim" bedeutet. Der Vater befiehlt ihm, seinen
Enkelsohn herauszuholen. Mehr oder weniger widerwillig macht er sich auf den
Weg. Was unter normalen Bedingungen nicht mehr als ein Tagesausflug wäre, wird
nun zum Spießrutenlauf. Drei ewig lange und schreckliche Tage begleitet der
Leser Pascha auf seiner Odyssee. Wie gefährlich die Lage ist, erkennt er
erst, als er allein in einem alten, verbeulten und vor allem menschenleeren Bus
sitzt und an eine Straßensperre kommt, an der bewaffnete, wild gestikulierende
Soldaten die eigentlich zuständige Miliz verdrängt haben. Durch Minenfelder,
vorbei an ausgebombten Wohnhäusern, verlassenen Dörfern, über Landschaften, die
trostloser nicht sein könnten. Dabei wird er von herrenlosen, hungrigen Hunden
begleitet. Er schließt sich Vagabunden an, nimmt Taxis, geht zu Fuß und gerät
dabei immer wieder zwischen die Kampflinien, die sich rascher verschieben, als
das Wetter wechselt.
Die Stadt ist eine undurchschaubare und bedrohliche
Zone geworden, in der niemand weiß, wer das Sagen hat. Willkür ersetzt
das, was bisher als Ordnung gegolten hat. Aus Nachbarn werden Feinde, und überall
flüchten Menschen, um zu überleben. Recht gilt keines mehr, durchkommen und
überleben ist nur mit viel Glück möglich. Auf seinem Weg begegnet Pascha nicht nur
zynische Rohheit, sondern auch aufopfernde Hilfsbereitschaft, während er sich
von Unterschlupf zu Unterschlupf durchkämpft. Er schafft es zum Internat und
findet seinen Neffen auch wohlauf, und während er mit dem Jungen den Rückweg
antritt, wieder über alle möglichen Ecken und mit der Erfahrung der Herreise,
erkennt er, dass er nichts vom Leben gewusst hat. Eine existenzielle
Erfahrung, die kaum zu überbieten ist. Er macht eine Entwicklung durch, die ihm
die Erkenntnis, zu wissen, worauf es ankommt im Leben, bringt.
Was diesen Roman in die
allererste literarische Liga hievt, ist die sprachliche Gestaltung. Je
schlimmer, grausamer und roher das Umfeld wird, desto poetischer werden Paschas
Beobachtungen, fast so, als wäre die poetische Sprache das Gegenmittel zu Krieg
und Gewalt. Außerdem ist die Perspektive, aus der dieser Roman erzählt wird,
sehr überzeugend. Es ist nicht die Sicht von Soldaten oder Verfolgten, sondern
die eines Menschen (sinnbildlich natürlich für alle Bewohner dieser Region), der
zwischen den Fronten steht, der eigentlich nicht weiß, wo nun die richtige oder
falsche Seite ist, weil die Seiten, die einander bekriegen, bisher immer vereint
waren und sogar fast dieselbe Sprache sprechen. So potenziert sich die
Absurdität des Krieges sogar noch stärker.
"Internat" ist ein gewaltiger
Roman, der den Leser immer wieder an seine Grenzen führt, ohne auf drastische
Darstellungen zurückgreifen zu müssen. Sicherlich einer der besten
Antikriegsromane der letzten Jahre oder gar Jahrzehnte.
Ein großartiger Roman,
vielleicht auch der wichtigste Roman zum Krieg in der Ukraine.
(Roland Freisitzer; 05/2018)
Serhij Zhadan: "Internat"
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr.
Suhrkamp, 2018. 300 Seiten.
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