Michail Bulgakow: "Die verfluchten Eier"
Menschen sind auch nur Monster
Durch Zufall entdeckt der 58-jährige Moskauer
Zoologieprofessor Pfirsichow im April 1928 einen wundersamen (roten, was
sonst!) Lichtstrahl, der Organismen zu wüster Vermehrung und monströsem Wachstum
treibt. Schon bald behelligen Interessenten unterschiedlicher Sparten, darunter
Reporter noch die harmlosesten, wenngleich lästigsten, den plötzlich berühmten
Professor, der sich in seiner beschaulichen Forscherwelt einigeln und in Ruhe
experimentieren möchte.
Selbstverständlich bleibt es nicht bei der Bestrahlung
von Froschlaich, denn aufgrund einer plötzlich auftretenden Hühnerseuche stirbt
das Federvieh in der gesamten Sowjetunion aus. Da
kommt der neuartige Wunderstrahl gerade recht, und Teufels Beitrag lässt
sozusagen nicht lange auf sich warten: Rotbestrahlte Hühnerzucht in der Provinz im Eiltempo und im großen
Stil mit aus Deutschland gelieferten Eiern - so lautet das angeordnete
Vorgehen.
Folglich lässt ein gewisser Alexander Semjonowitsch Vluch die
Apparaturen des Professors abtransportieren und nimmt in einem abgelegenen
ehemaligen Schloss das Verhängnis aufgrund vertauschter Eierlieferungen (eine
enthielt Schlangen-, Krokodil- und Straußeneier und war für den Moskauer
Professor bestimmt, die andere hätte der hoffnungsvollen Zuchtstation große
Mengen Hühnereier bescheren sollen) seinen Lauf ...
Die Ungetümvogelstrauße,
Riesenschlangen und Monsterkrokodile fressen in
bester Horrorgenremanier einige ihrer völlig überrumpelten Erschaffer umgehend auf und ziehen
naturgemäß alsbald zielsicher gen Moskau - da kann nur noch ein weiteres Wunder helfen.
Der kauzige Zufallserfinder Wladimir Ipatjewitsch Pfirsichow, sein treuer
Gehilfe Pankrat und die brave Haushälterin Marja Stepanowna fallen hingegen ganz
alltäglichen Monstern zum Opfer, während Alexander Semjonowitsch Vluch, gewissermaßen
Bruthelfer der Katastrophe, in den Wirren der Ereignisse verschwindet.
Ralf Schröder schrieb in seinen "Literaturgeschichtlichen Anmerkungen"
zu "Die rote Krone", dem fünften Band der Bulgakow-Gesamtausgabe (Verlag "Volk &
Welt", 1993), auf Seite 369: "Groteske Einzelfälle im allgemeinen Strom
der Zeit, die eine drohende 'Höllenfahrt' der sowjetischen Gesellschaft
signalisieren, werden, satirisch zugespitzt, als abwendbare oder zu bereinigende
Randerscheinungen abgehandelt. So in 'Die verhängnisvollen Eier' die Geschichte
von der Entdeckung eines 'Roten Strahls' - die Initialen von Vor- und
Vatersnamen des Entdeckers W. I. orientieren auf Lenin -, der alle biologischen,
organisch-evolutionären Prozesse unwahrscheinlich beschleunigt, aber in falsche,
inkompetente Hände gerät und daher eine apokalyptische Heimsuchung
Sowjetrusslands heraufbeschwört. Hier rettet das Land ein Naturwunder."
Der anno 1924 verfasste kleine Roman ist bereits vor einigen
Jahrzehnten unter dem Titel "Die verhängnisvollen Eier" in der
Übersetzung von
Thomas Reschke in der "Sammlung Luchterhand" erschienen. Thomas Reschke, geboren
am 4. Juni 1932 in Danzig, hat schon vor vielen Jahren einen Großteil der Werke Michail Bulgakows ins Deutsche übertragen, diese sind, mit Unterstützung
Jan
Philipp Reemtsmas, im inzwischen untergegangenen Verlag
"Volk & Welt" erschienen.
Der Lyriker,
Übersetzer, Publizist, Librettist und Rezitator Alexander Nitzberg, der
"Die verfluchten Eier" ausgebrütet hat, wurde
1969 in Moskau geboren, er lebt
in Wien.
Übersetzungen sind zwangsläufig immer auch mehr oder weniger durch die Übersetzer geprägte Textinterpretationen, jeder Übersetzer
schreibt aus seiner eigenen Sprachwelt heraus, nicht immer entsteht ein
schlussendlich stimmiges Ganzes. Es ist zweifellos Geschmackssache, wessen
Stil man bevorzugt. Wobei anzumerken ist, dass Nitzbergs Wortwahl mitunter leseflusshemmend wirkt und geltungslüstern
posiert, was, wie der Übersetzer versichert, in bester Absicht geschah, den Originaltext mit all
seinen sprachlichen Schattierungen angemessen ins Deutsche zu verlagern.
Kennt man Thomas Reschkes
Bulgakow-Übersetzungen, die stets vornehm zurückhaltend ganz im Dienst des
Übersetzten zu stehen scheinen, beschleicht einen angesichts des dichterisch
frei anmutenden Nitzberg-Stils zunehmend Verblüffung, stolpert man doch häufig
geradezu über aus der Zeit gefallene Wörter (z.B. "Sintemalen"),
lautmalerische Nachahmungen und eigenwillige Satzkonstruktionen;
so hat man Bulgakow noch nie zuvor gelesen. Der Wortwahl des vielleicht
bisweilen überambitionierten Übersetzers merkt
man übrigens dessen Wohnort (Wien nämlich!) keineswegs an ("Sprechen tat er mit knarzigem quäkigem
fisseligem Stimmchen, ..." S. 5), allzu oft springt einen das uncharmante
"mal ... mal" an, es wird "geguckt" und "plattgemacht".
In den Anmerkungen ist u.A. zu lesen: "S. 28 'Iksjüsmi -, röchelte der
Hörer': Im Original spricht es aus dem Hörer deutsch. Entsprechend ist nicht von
der New York Times, sondern vom Berliner Tagblatt die Rede."
Ein solcher Eingriff des Übersetzers in einen Text überschreitet Grenzen, zumindest
jene des guten Geschmacks!
In seinem zwölfseitigen Nachwort, mit "Eine
höllische Ostergeschichte" betitelt, beleuchtet Nitzberg bekannte
Bulgakow'sche Symbole und Themen, zum Glück nicht mit dem verhängnisvollen
"Roten Strahl", und liefert Interpretationsmuster sowie Erklärungen
zum Roman.
Michail Bulgakow (1891-1940) hat
mancherlei gesellschaftspolitische Zustände der beginnenden 1920er-Jahre in
aussagekräftig zugespitzten Szenen festgehalten, einige Zeitgenossen trefflich
porträtiert und darüberhinaus in seiner mit genretypischen
Stärken und Schwächen aufwartenden Horrorsatire die Gattung Mensch als solche
karikiert und deren nicht selten skrupellosen Umgang mit anderen Spezies sowie
jegliche Fortschritts- und Technikgläubigkeit
kritisiert.
"Die verfluchten Eier" ist gewiss nicht Bulgakows
anspruchsvollster Roman, jedoch eine durchaus flotte, unterhaltsame Geschichte.
(kre; 05/2019)
Michail Bulgakow: "Die verfluchten Eier"
(Originaltitel "Rokovye jajca")
Aus dem Russischen
von Alexander Nitzberg.
Galiani, dtv. 144 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
"Michail Bulgakow. Manuskripte brennen nicht. Eine Biografie in Briefen und
Tagebüchern"
Herausgegeben von Julie Curtis.
In "Manuskripte brennen nicht" hat die
Oxforder Slawistin Julie Curtis die Früchte ihrer elfjährigen Forschungsarbeit
zusammengetragen. Entstanden ist eine faszinierende Chronik des Lebens
Bulgakows.
Schon früh erhielt Curtis Einblick in das Tagebuch von Bulgakows
Ehefrau, Jelena Sergejewna, in dem eindrücklich und detailliert die
alptraumartige Atmosphäre während der Jahre des Stalin'schen Terrors
festgehalten wird. Julie Curtis hat Auszüge aus diesen Aufzeichnungen sowie aus
den frühen Tagebüchern Bulgakows mit Briefen zu einem lebhaften, gut lesbaren
Bericht zusammengesetzt. (Fischer)
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