Michail Bulgakow wurde 1891
in Kiew geboren, wo er auch aufwuchs und ein Medizinstudium abschloss. Als Militärarzt
nahm er auf der Seite der Weißen am russischen Bürgerkrieg teil,
war aber bald von den Kriegsverbrechen der Weißen Armee dermaßen
abgestoßen, dass er sich schließlich mit dem Sieg der Bolschewiken
abfand. Als die Liebe zur Literatur immer stärkeren Anspruch auf ihn erhob,
gab er den Arztberuf auf und zog 1921 nach Moskau, um dort bis zu seinem Tod
im Jahre 1940 meist mehr schlecht als recht (in einem Brief an die sowjetische
Regierung bezeichnete er sich selbst als "mystischen Schriftsteller"
und hatte auch in anderen Dingen des Lebens einen so gar nicht proletarischen
Geschmack) als Schriftsteller und Journalist zu leben.
Seit Mitte der Zwanziger
Jahre bis zu seinem Tod beschäftigte er sich mit seinem Hauptwerk, dem
Roman "Der Meister und Margarita", an welchem er in dem Wissen schrieb,
ihn zu Lebzeiten sicher nicht veröffentlichen zu dürfen.
Tatsächlich
erschien der Roman erstmals 1966/67 in Moskau, als unter Nikita Chruschtschow
kulturelles Tauwetter eingesetzt hatte und man nicht wusste, was man tat.
"Der
Meister und Margarita" steht in seiner Intensität, Form und Thematik
einzigartig da in der Literaturgeschichte. Eigentlich werden darinnen drei verschiedene,
einander in rasantem Lauf schneidende, durchdringende und überlagernde
Geschichten erzählt, die der besseren Übersichtlichkeit willen hier
auch separat besprochen seien:
"Mir nach, Leser! Wer hat dir gesagt, es gäbe auf Erden
keine wahre, treue ewige Liebe? Man schneide dem Lügner seine gemeine Zunge
ab!"
Falls Sie diesem Aufruf Folge leisten, bekommen Sie die außergewöhnliche
Liebesgeschichte zwischen einem romaneschreibenden "Meister" und seiner
an ihn glaubenden Muse Margarita erzählt. Und die Geschichte beginnt gar
nicht gut - das Liebespaar ist getrennt, der männliche Teil in einem derart
hoffnungslosen Zustand, dass es eigentlich schon der Liebe tragisches Ende sein
müsste. Seit der Meister nämlich in unliebsamen Kontakt mit der sowjetischen
Zensur und Kritik gekommen ist, er von einem literarischen Spitzel wegen Besitzes
verbotener Schriften angezeigt und sein Roman über Pontius Pilatus von
der Kritik in der Luft zerrissen wurde, verharrt er in einem Dauerzustand tiefer,
lähmender Angst, die es ihm unmöglich macht, irgendetwas Sinnvolles
zu unternehmen, alles, was er will, ist Ruhe. Mit diesem Wunsch befindet er
sich im übrigen wohlauf in dem Irrenhaus des berühmten Nervenarztes
Dr. Strawinski, wo er einem neuen Zimmernachbarn, nachdem dieser ihm feierlich
geschworen hat, nie, nie wieder Gedichte zu schreiben, von den Anfängen,
dem ersten Kennenlernen und den glücklichen Zeiten, seiner großen
Liebe erzählt. Sie selbst will er nicht wiedersehen, da er in seinem Zustand
nur Belastung und eine Quelle der Betrübnis für sie sein könne.
Margarita, die keine Ahnung von der fysischen Nähe und psychischen Entfernung
ihres Geliebten hat, ist mit einem reichen, einflussreichen Mann verheiratet,
der sie liebt, verehrt und sich häufig auf Dienstreise befindet, sodass
es ihr eigentlich recht gut gehen könnte, doch zu groß ist ihre Sehnsucht
nach dem Meister, zu stark die Gedanken an ihn. Und siehe da - wie aus heiterem
Himmel erhält sie die Möglichkeit, ihr unheilvolles Geschick zu ändern
und ihren Geliebten wiederzufinden. Der Satan hat nämlich gerade in Moskau
zu tun, wo auch sein traditioneller Frühlingsball stattfinden soll, doch
fehlt hierfür noch die Ballkönigin, welche gemäß einer
alten Tradition unbedingt Margarita heißen soll. Da Margarita nun außerdem
schön, klug, überhaupt eine
leidenschaftliche Dame und kein bisschen mittelmäßig ist,
ergeht denn auch der Ruf zuerst an sie, und da die höllischen Sendlinge
so klug sind, ihr dabei anzudeuten, man wisse mehr über den Verbleib des
Meisters, brauchen sie keine zweite mehr zu fragen. Im weiteren Verlauf lernen
wir Margarita als eine durch ihren festen Vorsatz gewappnete Frau in ihrem natürlichen,
manchmal etwas leichtsinnigen Umgang mit den magischen Kräften kennen.
Haben wir sie dann auf dem großen Ball des Satans, einem von Bulgakow
fulminant gestalteten Höhepunkt, als Ballkönigin bewundert (und ihr
dabei vielleicht sogar das nackte Knie geküsst), verwundert es kaum noch,
dass die Kühne schließlich wirklich, wenn auch noch nicht ganz bei
Trost, ihren Meister wiederfindet, während die Handlung mehr und mehr die
irdischen Gefilde verlassen darf und auch verlässt - in fernen Welten,
bei Kerzenschein und Musik von Franz
Schubert verlieren wir die Liebenden aus den Augen.
Pilatusroman bzw. Volandevangelium: Auch nach seiner Zeit als Weißgardist
blieb Bulgakow dem Christentum geistig eng verbunden. Ob er nun nach genauem
Studium der literarischen Christusquellen (nicht nur der neutestamentarischen)
diesen seinen Christus als möglichst unvoreingenommener Filologe entwarf
oder ihm wie dem fiktiven Verfasser, dem Meister aus der ersten Geschichte,
tatsächlich die historische Begebenheit um Pontius Pilatus und Jesus von
Nazareth aus dem kosmischen Bewusstsein dokumentarfilmgleich aufgeschienen ist
(oder eine Kombination von beidem oder sonst eine Absicht ihn leitete, Bulgakow
verwendet in diesem Zusammenhang verschiedenen Worte wie "erraten",
"erfinden", "zeigen", "sehen") - sein
Christusbild ist jedenfalls völlig un- , ja antidogmatisch,
wenn auch im übrigen sehr sympathisch, ausgefallen. Von einer Vorbestimmtheit
des Opfertods Christi etwa ist nichts zu merken, stattdessen wird die Möglichkeit
betont, dass die Entscheidung bei Pilatus gänzlich anders, unkonventioneller
und mutiger, hätte ausfallen können, zumal der römische Statthalter
über brisante transzendentale Themen wie Vorbestimmtheit und Freiheit nicht
weniger gern zu filosofieren scheint als Jesus. Jeschua Ha-Nozri, wie der Nazarener
in dem Roman genannt wird, ermangelt es auch durchaus nicht der profetischen
Gabe, doch merkt er die Gefahr für sein Leben (welches zu erhalten ihn
sehr gefreut hätte) erst, nachdem Pilatus innerlich das Todesurteil gefällt
hat. Dem Jesus der kanonischen Evangelisten näher erscheint er in dem bedingungslosen
Glauben an das Gute, Göttliche in jedem Menschen, welches sich allerdings
im Regelfall damals wie heute durch zahlreiche Verletzungen verschleiert zeigt
und erst nach mannigfachen kathartischen Prozessen wieder tragendes Prinzip
werden kann. Pilatus ist zwar von Ha-Nozris praktischen medizinischen Fähigkeiten
auf das angenehmste beeindruckt, doch geraten ihre geschichtlichen Konsequenzen
in einen tödlichen Konflikt mit seinem höchsten Wert, der Loyalität
dem Kaiser in Rom gegenüber, denn letzterer kann in seinem politischen
Absolutheitsanspruch Jeschuas Vision vom Reich Gottes, seine leider publik gewordenen
Äußerungen, "dass von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt
geschehe und dass eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand
die Macht hat. Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit,
wo es keiner Macht mehr bedarf." nicht dulden. Wohl vermag auch Pilatus,
nach Bulgakows Meinung immerhin Sohn eines Sterndeuters, weiter als bis zu seinem
persönlichen Ableben vorauszublicken, allein seine Furcht übermannt
ihn. Kompensationshandlung für seine in dem Todesurteil resultierende Feigheit,
ehe er in den folgenden Jahrtausenden den Meister und viele andere Erdenbürger
als Geist heimsuchen wird, ist es, dem einzigen in dem Roman erwähnten
Jeschua-Schüler, dem ehemaligen Zöllner Matthäus dessen kurzzeitig
beschlagnahmte Mitschriften von Jeschuas Reden zurück- und einiges an frischem
Pergament hinzuzugeben. Diese Wendung wirkt umso überzeugender, als auch
in den kanonischen
Evangelien Pilatus eine seltsame Rolle spielt - obwohl niemand anderer
als er für den grausamen Kreuzestod Jesu letztverantwortlich ist, wird
er auffallend freundlich, dreiviertelunschuldig sozusagen dargestellt (und wurden
immerhin auffallend viele seiner mit Jesu Leben und Lehre nur am Rande zusammenhängenden
Bonmots in die Evangelien mithineingenommen). Sei abschließend noch gesagt,
dass die sonstigen Elemente des Pilatusromans (bzw. des Volandevangeliums, denn
Voland war Zeuge der Jerusalemer Begebenheiten) sowohl historisch als auch psychologisch
stimmig erscheinen und dass der Jesus-Pilatus-Konflikt auf Bulgakows Beziehung
zu seinem mächtigsten Fan, Jossif
Stalin, ebenso verweist wie auf Dostojewskis
Erzählung vom Großinquisitor, er sich überhaupt als
allgemeines Thema mit variierenden Konstellationen durch den Roman, ja, durchs
Leben selber zieht und dabei, wie mir scheint, auch vor dem sogenannten aktuellen
Zeitgeschehen nicht Halt macht. Darf man sagen, dass Rom künftig häufiger
in der Rolle Christi als in der von Pilatus zu bewundern sein möge?
Die dritte Geschichte handelt vom Wüten, Wirken und Walten des Bösen
im Moskau des Mai 1929 (nachdem Bulgakow in
früheren Fassungen hierfür unter anderen die Jahre 1943
und 1945 in Erwägung gezogen hatte). Voland nennt sich der Satan, und wird
von vier Dienern begleitet: Korowjew, einem langen Mann in kariertem Jäckchen,
mit riesigem Zwicker; Asasello, einem kleinen Mann mit Ganovenblick, grauem
Star im Auge, einem Vorderzahn und meisterhaften Schießkünsten;
Behemoth,
einem sprechenden schwarzen Kater; und schließlich Gella, einer Hexe,
rot und schön. Zunächst beziehen die Gesellen ihr Moskauer Hauptquartier,
eine unheimliche Wohnung, in der früher schon Personen einfach verschwunden
sind und die, wie sich herausstellen wird, recht dehnbar ist in ihren Dimensionen.
Geplant sind Vorstellungen in einem Varietétheater, wozu Plakate gedruckt
werden, welche zu einer "Vorstellung in Schwarzer Magie und ihre Entlarvung"
einladen. Die Absicht Volands ist es, die (neuen, sowjetischen) Moskauer zu
testen und herauszufinden, ob sie sich innerlich verändert haben. Als erstes
und am unmittelbarsten werden dabei insbesondere die Personen betroffen, welche
mit dem Theater (oder gar mit der keineswegs leerstehenden Wohnung) direkt in
Kontakt stehen oder kommen; ein Kritiker, ein Lyriker, ein Theaterdirektor,
der Finanzdirektor des Theaters und ein paar andere Auserwählte kommen
so zu einer Probe auf Leben und Tod. Sind Sie ein Mensch, dessen "Leben
bisher so verlaufen war, dass er absonderliche Erscheinungen nicht gewohnt war"?
Dann werden Sie wahrscheinlich keine gute Figur machen, wenn man Sie, wie Voland
und seine Bande magischer Trickbetrüger es bei diesen Zusammentreffen mit
Vorliebe tun, mit Ihrer eigenen Schattenseite konfrontiert. Aber wer weiß?
Die springenden Punkte, wie man bei derartigen Begegnungen abschneidet, sind
wohl, welche eigenen psychischen Kräfte man dabei einbringt und wie starr
und klein oder vielmehr ausgewogen, stark und erweiterbar die innere Welt des
jeweiligen Bewusstseins ist. Bulgakow hat im Laufe seines Lebens Menschen mit
den unterschiedlichsten Masken, Charakteren und Überzeugungen in allen
möglichen Situationen beobachtet, studiert und sich darüber systematisch
Notizen gemacht. Äußerst gekonnt vermag er diese Beobachtungen nun
in seine Rahmenhandlung einzuflechten, wodurch diese bei aller Fantastik gleichzeitig
eine sehr reale und äußerst intensive Atmosfäre atmet. Noch
stärker kodiert sind die gesellschaftskritischen und politischen Passagen
(Kenner der Zeit werden sicher zahlreiche Anspielungen und Verweise mehr entdecken
können), doch auch für den Nichtrussen offenbart sich eine große
Fülle an Parodie, Satire, Fieberträumen und Visionen, die weit in
unser multimediales Zeitalter hineinreichen. Höhepunkt dieser Geschichte
ist die grandiose Vorstellung in Schwarzer Magie, die leider, zumal die Entlarvung
für die braven Moskauer nicht sonderlich günstig ausfällt, von
keiner zweiten gefolgt wird.
Bulgakow führt mit dieser Geschichte im wesentlichen einen Generalangriff
auf den Materialismus, den er mit einem Gespräch über Gottesbeweise,
Sterblichkeit und Schicksal des Menschen, das Voland mit zwei Atheisten führt,
einleitet. Darauf lässt er alle verdrängte Transzendenz, Metafysik
und Magie mit voller Wucht in die korrupte kleinproletarische Gesellschaft seiner
Zeit eindringen um von deren geistigen Fundamenten nichts übrigzulassen.
Übrig bleiben - so der von den psychischen Spuren der Verheerung handelnde
Epilog des Romans - Tote, Vergreiste, mehr oder weniger verrückt Gewordene,
mehr oder weniger Geläuterte und ratlose, mit der Untersuchung des Falles
betraute Behörden, denen nichts besseres einfällt, als alle seltsamen
Vorkommnisse rund um die Volandheimsuchung als Ergebnisse einer perfekten Massenhypnose
zu erklären (die Bolschewiken mussten es ja wissen).
(stro)
Michail Bulgakow: "Der Meister und Margarita"
(Originaltitel "Master i Margarita")
Aus dem Russischen von Thomas Reschke.
Gebundene Ausgabe:
Volk und Welt. 520 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Luchterhand Literaturverlag. 512 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Aufzeichnungen eines Toten"
Eine wunderbare Satire und scharfe Polemik gegen die Kulturpolitik des Russland
der 1930er-Jahre. Mit beißender Ironie und bitterem Sarkasmus beschreibt
"Aufzeichnungen eines Toten" (1936/37) Bulgakows Einstieg in die
groteske Literatur- und Theaterwelt im Moskau der zwanziger Jahre. (Sammlung
Luchterhand) zur
Rezension ...
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"Das Leben des Herrn de Molière"
Am Beispiel Molières: ein Schlüsselroman über den Künstler Bulgakow und sein
Verhältnis zur Sowjetunion.
Den Komödiendichter Molière, der von seinen Zeitgenossen gehasst wurde,
rettete die Gunst des Sonnenkönigs. Dreihundert Jahre später sieht sich
Michail Bulgakow in einer ähnlichen Situation. Auch er ist der verfemte
Dichter, den das Wohlwollen des Alleinherrschers Stalin vor Verhaftung und Lager
bewahrt. (Sammlung Luchterhand)
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"Teufeliaden"
Fantastisch, sarkastisch, böse: Neben "Meister und Margarita" haben
Bulgakows Erzählungen ihren festen Platz in der Weltliteratur.
In seinen berühmten "Teufeliaden", einem Zyklus fantastischer
Meistererzählungen, erzählt Bulgakow mit beißendem Sarkasmus und
schlitzohriger Fabulierkunst davon, was den Sowjetalltag der frühen 1920er-Jahre
prägte: Bürokratie, Chaos und Schlamperei, vor allem aber die haltlosesten
Revolutionsfantasien. (Sammlung Luchterhand)
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"Die weiße Garde" zur Rezension ...