Michail Bulgakow: "Die weiße Garde"
Sein letzter Roman ist der
Meisterroman schlechthin, indessen meisterlich ist auch sein erster (und manches
Prosastück dazwischen und bereits ein paar hübsche Miniaturen zuvor) und so - hier in der Übersetzung von Larissa
Robiné - beginnt er: "Groß war es und fürchterlich,
das eintausendneunhundertundachtzehnte Jahr nach Christi Geburt, das zweite aber
nach Beginn der Revolution."
Besagte Revolution hatte mittlerweilen (Bulgakow
veröffentlichte den größeren Teil des Romans in Fortsetzungen in einer
Zeitschrift 1923/24, also fünf Jahre nach den darin beschriebenen Ereignissen) gesiegt,
den Autor, wie man so sagt, entwurzelt, ihn zum familienlosen (die Geschwister
konnten sich rechtzeitig ins Ausland absetzen) unfreiwilligen Sowjetbürger, vom
Arzt zum Schriftsteller, vom Kiewer zum Moskauer und vom Ehemann der Tatjana
Nikolajewna zum geschiedenen Verehrer der Ljubow Jewgenjewa, die seine zweite
Frau und Widmungsträgerin von "Die weiße Garde" werden sollte, gemacht.
Das literarische Bannen des Gewesenen, unwiederbringlich Verlorenen, der untergegangenen Welt des alten
vorrevolutionären Kiew und seines eigenen bürgerlichen Heims darin, war
Bulgakow zum dringlichen Anliegen geworden. Allerdings
musste er penibel darauf achten, dabei keine konterrevolutionär zu deutenden Töne von sich zu geben, was er löste,
indem er sich in dem Roman auf eineinhalb Monate, von Mitte Dezember 1918 bis
Anfang Februar 1919 beschränkte, mithin auf einen kleinen Ausschnitt aus dem
Ukrainischen Bürgerkrieg, in welchem der Nationalistenführer Simon Petljura,
praktischerweise Gegner der Roten wie der Weißen, die Stadt angriff und
kurzzeitig (auf den letzten Seiten bzw. konkret am 3. Februar 1919 zieht sich dieser mit seinen Truppen vor der heranrückenden
Roten Armee zurück) besetzt hielt.
Geplant wäre ursprünglich eine Trilogie gewesen, was in dem Text an verschiedenen auch im Hinblick darauf gesetzten Motiven
erkennbar geblieben ist (und den Schicksalsaspekt in "Die weiße Garde"
zusätzlich betont), doch wie so oft musste Bulgakow ein Vorhaben unvollendet lassen
- im konkreten Fall wurde die Zeitschrift eingestellt und eine Buchveröffentlichung
des Textes untersagt. Eine sehr freie Dramatisierung des Romans, die er daraufhin unter dem Titel "Die Tage der Turbins"
verfasste, gelangte zunächst mit großem Erfolg (dem größten übrigens zeitlebens für ein
nicht sofort verbotenes Werk)
auf die Bühne des Moskauer Künstlertheaters, nur
um, häufiges Los seiner Stücke, dann doch mehr oder weniger rasch von der
Obrigkeit abgesetzt zu werden. Zuguterletzt war es niemand anderer als Stalin selbst, auf dessen Anregung hin
(und gegen die Meinung mancher skeptischerer Genossen) "Die Tage der Turbins" wiederaufgenommen
werden und sofort wieder reüssieren konnte (Stalin selbst besuchte übrigens mehr als ein
Dutzend Vorstellungen des Stücks und soll dabei wiederholt schallend gelacht haben).
Von Stalin ist jedoch in dem Roman noch nicht die Rede, als Inbegriff des bösen Bolschewiken gilt für
die angehende Bürgerkriegsverliererseite, für die postzaristischen bürgerlichen, weißen Kiewer, aus deren Sicht das Buch geschrieben ist,
Trotzki (dessen Stern allerdings mittlerweilen bereits zu sinken begonnen hatte und dessen
kleine unterlaufende Verwechslung mit dem Antichrist für Erheiterung in verschiedensten
politischen Lagern gesorgt haben wird). Alexej Turbin, Protagonist des Romans und
in weiten Teilen Bulgakows Züge tragend, gönnt sich anno 18/19 darüberhinaus den Luxus, am meisten von allen
Politikern Kerenski zu verachten und dem toten Zar den Thronverzicht nicht zu verzeihen.
Die Turbins sind die zentrale Familie des Buches, die Beschreibung ihrer geräumigen, behaglichen gutbürgerlichen Wohnung auf
den ersten Seiten beschwört noch einmal den russischen Roman des
neunzehnten Jahrhunderts - das unvermeidliche Klavier (mit der noch
unvermeidlicheren Gounod-Partitur), der wärmende, aber auch literarische Kamin,
die guten holländischen Fliesen, von besseren Welten zeugende
Wandteppiche (Ludwig, der Vierzehnte, beim Genießen); nur der Samowar deutet
bereits magische Fähigkeiten an und fällt somit etwas aus der Reihe. Doch kurz währt die Idylle, kaum ist Alexej vom ersten
Weltkrieg zurückgekehrt, folgt die Mutter dem längst verstorbenen Vater unter die Erde und lässt die
Kinder, Alexej, 28 Jahre alt und Facharzt für Geschlechtskrankheiten, Jelena, 24 und seit einem Jahr mit dem Stabsoffizier Talberg verheiratet, und den
siebzehneinhalbjährigen Nikolai (weil gar so jung, meist Nikolka genannt) allein
in den Revolutions- und Bürgerkriegsschrecknissen zurück.
Im Hause der Turbins wird nun so etwas wie geistiger Widerstand
gegen die schlimme Zeit betrieben und weiterhin kräftig musiziert,
Karten gespielt, diskutiert, gespeist und - ei freilich - auch getrunken, die Wohnung
steht den Freunden der Familie offen, den Schulfreunden Alexejs und nunmehrigen Offizieren Myschlajewski und Karausche
(ein hartnäckiger Spitzname) sowie dem angehenden Opernbariton Scherwinski;
im weiteren Verlauf wird sich ein aus seiner Provinzstadt vor den Bolschewiki flüchtender
Neffe Talbergs namens Lariossik, ein reicher, dichtender und zum Gaudium des Lesers zur
Tollpatschigkeit neigender junger Mann, ebenfalls bei ihnen einquartieren und für
unterhaltsame Momente sorgen.
Überfüllte Wohnungen und Häuser waren dazumal die Regel, denn die Stadt, die STADT nämlich, wie Kiew vom
Erzähler blockbuchstabig mit einem Zug ins Allgemeine, Mythologische,
Unwirkliche ausnahmslos genannt wird, sie birst förmlich vor verschiedensten,
auf der Flucht vor den Bolschewiki befindlichen und gestrandeten Menschen. Ein
großer Vorzug Bulgakows ist es, keinesfalls langweilen zu wollen - auf wenigen
Seiten berührt er verschiedenste Aspekte der damaligen Flüchtlingsproblematik
und lässt flugs eine lange, von Ärzten und Schriftstellern abgeschlossene
Flüchtlingsschlange am Leserauge vorbeidefilieren, der dritte von ihm bereits
ausgeübte Beruf irgendwo in ihrer Mitte, zwischen Politikern und Kokotten:
"Es flüchteten Journalisten aus Moskau und Petersburg, käuflich, habgierig,
feig." (S. 64)
Dreigeteilt ist "Die weiße Garde". Im ersten Teil werden die Familie Turbin, ihre Freunde und der im
Untergeschoß lebende kauzige Hausbesitzer nebst Ehefrau vorgestellt, Gespräche
bei stärkendem Trank, anlassgegeben vorwiegend politischer Art, nicht zuletzt
über die unklare Lage, Gerüchte, dass die im Zuge des
Friedensvertrags mit dem deutschen Kaiserreich stationierten deutschen Truppen
den Heimzug antreten würden, dass dieser Petljura womöglich wirklich die
Frechheit für einen Angriff auf die Stadt besitzen könnte, aber nichts Genaues
kann man sagen, doch - ein Erfahrungsbericht über den Zustand der einen
Schutzring um die Stadt ziehenden Soldaten fällt drastisch aus, die Brüder
Turbin beschließen darauf, sich für eine sich bildende Freiwilligenarmee zur Verteidigung der
Stadt zu melden, mit welcher dann noch einige Seiten lang just in
ihrem ehemaligen Schulgebäude fleißig (professionell und psychologisch
ausgefeilt, es dürfen sich hier die Überbleibsel der alten zaristischen Armee ein letztes Mal
von ihrer besten Seite zeigen, möglicherweise auch eine Ehrung einstiger
Offiziersfreunde) geübt wird. "Durchs leere Steingehäuse des
Gymnasiums dröhnte und heulte der schreckliche Marsch, und die Ratten saßen in
ihren tiefen Löchern starr vor Entsetzen." (S. 112)
Zweiter Teil: die vorwiegend aus frustrierten Bauern gebildete Armee Petljuras rückt gegen die Stadt vor, die
freiwilligen Weißgardisten nehmen die vorbestimmten Verteidigungspositionen ein,
sofern sie nämlich die Kunde noch nicht vernommen haben, dass der Hetman
("Wer
ist er überhaupt, Alexej Wassiljewitsch?"
"Ein General der
Gardekavallerie, ein großer, reicher Gutsbesitzer, er heißt Pawel Petrowitsch."
Durch eine sonderbare Tücke des Schicksals und der Geschichte fand seine Wahl im
April des berühmten Jahres im Zirkus statt. Späteren Geschichtsschreibern wird
dieser Umstand reichlich Stoff für spöttische Bemerkungen liefern. Den Bürgern
aber, besonders denen, die in der STADT ansässig waren und die ersten
Explosionen der inneren Unruhen erlebt hatten, war weder nach Spott noch nach
Überlegungen zumute. Die Wahl wurde in verblüffender Eile durchgeführt - Gott
sei dank. Der Hetman trat die Regierung an - wunderbar. Hauptsache, auf dem
Markt gab es Fleisch und Brot und auf den Straßen keine Schießerei, und Gott
bewahre uns vor den Bolschewiken, und das einfache Volk soll nicht plündern.
Nun, all dies traf unter dem Hetman mehr oder weniger ein, man könnte sogar
sagen, zum größten Teil.") (S. 69/70)
dass der
Hetman also und der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte über Nacht ins deutsche Exil
geflüchtet sind und eine praktisch wehrlose Stadt zurückgelassen haben. Wer das weiß
oder irgendwann bemerkt, wirft Gewehr und Soldatenzeichen schleunigst fort und gibt fortan
den Zivilisten, die anderen, dazu gehören leider Alexej und Nikolka, stellen sich kurze Zeit einem aussichtslosen Kampf,
doch am Ende bleibt den im Stich gelassenen Verteidigern in ihrer Ohnmacht nur das
Fluchen auf das sogenannte "Zum Teufel mit dem Stabsgesindel!" (S.148)
"Soll doch alles zum Teufel gehen", schrie er böse, "ach dieses Stabsgesindel!" (S.
175) "Jungs! Jungs! Dieses Stabsgesindel!" (S. 184) "Seine letzten Worte waren:
"Stabsgesindel! Ich kann die Bolschewiken gut verstehen." (S. 199)
(ein bisschen wohldosierte Schmeichelei kann schwerlich schaden)
Dritter Teil: Petljura hat die Stadt eingenommen, im Hause Turbin ringt ein Schwerverletzter mit dem Tod, eine
Haussuchung, eine vom Autor krass überzeichnete Feier zu Ehren des siegreichen Petljura, eine in die Unterwelt
bzw. ins Leichenhaus führende Suche nach der Leiche eines Offiziers, anhebende
Liebeshändel der Geschwister Turbin (auch der schönen Jelena, obschon
verheiratet; außerdem kann an dieser Stelle das Vorhandensein eines
Dienstmädchens bei den Turbins nicht länger verschwiegen werden) mit einem Zug ins Romantische, Opernhafte, Petljura
verabschiedet sich wie gekommen mit einem Judenmord, ein längerer Blick auf die
vor der Stadt stehende Rote Armee (darunter Alexejs Rivale um Frauengunst, dem
ein Literaturwissenschaftler die Ehre als Vorlage zu dienen hat) und zum Schluss ein
kurzer zu den Sternen, die auch dann noch da sein werden, "wenn von unseren
Leibern und Taten auf Erden kein Schatten mehr übrig ist. Es gibt keinen
Menschen, der dies nicht wüsste. Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu
den Sternen erheben? Warum?" (S. 334)
Bereits in "Die weiße Garde" gehen genaue Beschreibung, unterhaltsames (auch vor reißerischen Elementen nicht
zurückschreckendes) Spiel und Intensität des Erzählens eine
enge Verbindung ein. Der allwissende Erzähler weilt häufig an der Seite Alexejs,
manchmal Nikolais und einiger anderer Figuren, nicht ohne ihnen allen gerne
humorvolle und ironische Bemerkungen in verschiedensten Nuancen zukommen zu lassen, unternimmt aber auch
Ausflüge hin zur Front oder lässt seinen Blick aus der Vogelperspektive auf die
Stadt mit ihren neuen Elektrizitätswerken und alten Schönheiten schweifen.
Liedstellen, Zeitungstitel, Ausschnitte, Ausrufe, Aufrufe, Gesprächsrudimente von zusammenbrechendem Militärfunk und erregten
Menschenmengen verleihen der Handlung expressive Akzente und transportieren viel
längst vergangene Emotion. Besonders in der Feier für den das ganze Buch über
abwesenden Petljura wird der Hohn auf die damalige Realität auf die Spitze
getrieben und ins Groteske gesteigert, bei der Parade wird die Artillerie
Petljuras von an schwangere Flöhe gemahnenden Bauernmähren
gezogen, und mit den Dialogfetzen während des Gottesdienstes in der Sofienkathedrale
ist man vollends in der Absurdität angelangt, mit Spott gegen gierige
Schaulust und den ukrainischen Nationalismus als kräftiger Würze.
"Er suchte verzweifelt ukrainisch zu sprechen." - so bringt der Autor seine diesbezügliche
Kritik mit einem kurzen Satz auf Seite 259 auf
den Punkt. Freilich will es das eine oder andere Mal so scheinen, dieser selbst wäre
womöglich nicht ganz frei von der Überheblichkeit des Intellektuellen gegen
den Ungebildeten, des Städters gegen den Bauernstand und des Schriftstellers
in der Literatursprache Russisch gegen das Ukrainische (keine Erwähnung etwa des
ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko; andererseits hat Bulgakow nach dem Zeugnis seiner dritten und
letzten Frau auch Lyrikabende bei Anna Achmatowa als echte Qual empfunden).
Wer hierin oder in anderen prekären Bereichen Klarheit erlangen möchte, dem sei, wenn
nicht das Original, die Lektüre zweier Übersetzungen nebeneinander, und wenn
auch dies nicht geht, die als konventioneller geltende empfohlen, da es freie
Übersetzungen so an sich haben, dass leichte Änderungen im Sinne des Ganzen oder
zur Bewahrung klanglich-assoziativer Elemente oft allzu unbekümmert, berauscht
vom eigenen Einfall erfolgen, und so mit dem Gewinn einer
Variante ein (womöglich größerer) anderweitiger Verlust verbunden ist
(abgesehen davon, dass sich zumindest bei guten literarischen und sonstwie wichtigen Texten
ohnehin nicht die Persönlichkeit des
Übersetzers in den Vordergrund drängen sollte). Beim augenblicklich hoch in Kurs
befindlichen, für seine originellen Übersetzungen gerühmten Alexander Nitzberg
beispielsweise lautet der erste Romansatz: "Ein gewaltiges Jahr, ein furchtbares
Jahr war nach Christus das Jahr 1918, nach der Revolution das Jahr 2." Und im
Original:
"Велик был год и страшен год по рождестве Христовом 1918, от начала же революции
второй."
Schließlich ist auch noch das weltanschauliche Spannungsfeld zu nennen, das in "Die weiße Garde" ebenfalls bereits deutlich
anklingt. Zahlreiche Träume, teils mit profetischen und religiösen
Inhalten, freilich allesamt humoristisch dezent relativiert, weisen deutlich auf
eine andere, die materielle übersteigende Ebene hin und machen ein Vibrieren, eine
Wechselwirkung zwischen diesen Ebenen spürbar. Mit einiger Schärfe lässt der
Autor innerhalb weniger Seiten die Kritik an einem
von religiösem
Wahn befallenenen Syfilitiker ("Völlige Erleichterung, verehrter
Doktor, finden wir nur dort", der Kranke zeigte fanatisch auf die weiße Decke."
S. 319), der von "dem schrecklichen Buch" (wie die Apokalypse des Johannes,
neben
Dostojewskis "Dämonen" literarisch-thematischer Bezugspunkt des Romans,
genannt wird) nicht lassen kann, mit einem erhörten inbrünstigen Gebet, einem sogenannten Wunder
kontrastieren, Gelegenheit zudem für eine weitere Stärke und Vorliebe Bulgakows, genaue Beobachtung
und Beschreibung von Menschen in
Extremsituationen. "Schweißtropfen traten dem Arzt auf die Stirn. Er war
aufgeregt und fassungslos." (S. 314)
Und ein Resümee des Petljura-Intermezzos - siegreiche Rote und ehemalige Weiße dürfen es darauf
beschränkt, aber auch allgemeiner lesen: "Das Blut ist billig auf diesen
rotgoldenen Feldern, und niemand wird dafür bezahlen. Niemand." (S. 326)
(fritz; 01/2020)
Michail Bulgakow: "Die weiße Garde"
(Originaltitel "Белая гвардия")
Aus dem Russischen von Larissa Robiné,
Thomas Reschke.
Mit literaturgeschichtlichen Anmerkungen von Ralf Schröder.
Sammlung Luchterhand, 2006. 400 Seiten.
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