Hugo Claus: "Der Kummer von Belgien"
Grandioser Bildungsroman nebst einem ungeschminkten Porträt der flämischen Gesellschaft von 1939 bis in die frühe Nachkriegszeit
Vielen gilt er als der beste
Schriftsteller flämischer Zunge, und da zumindest sein Roman "Der Kummer
von Belgien" in der Tat geradezu nach einem Superlativ verlangt, sei
gleich mit der starken Vermutung nachgelegt, dass es sich bei "Het
verdriet van Belgie", wie der Originaltitel lautet, um eines der besten
Bücher überhaupt handelt, die bislang in niederländischer Sprache
geschrieben worden sind.
Hugo Claus (1929-2008) erzählt in dem 1983
erschienenen Roman von seinem eigenen Werdegang in Gestalt seines alter
ego, des kleinen, dann nicht mehr ganz so kleinen Louis Seynaeve vom
etwa Zehnjährigen zum jungen Mann (daneben unvermeidlich und ausführlich genug
und reichlich offen von dessen Familie, Umfeld, Lebenswelt) und schreibt
parallel dazu in ähnlich konzentrischen Kreisen die Geschichte seines
Ortes, Flanderns, Belgiens und Europas im selben Zeitraum, von Anfang
1939 nämlich bis in die frühe Nachkriegszeit. Verdrießlich gestaltet
sich diese Lektüre auf keiner der gut 800 Seiten, wozu die Vielfalt und
stimmige Anwendung der künstlerischen Ausdrucksmittel ebenso beiträgt
wie die Schonungslosigkeit des Erzählten und die faszinierende Komplexität, mit welcher der junge Held gezeichnet
ist. Wenn Louis auf Seite 718 die erste Textfassung verbrennt und mit dem
Anfangssatz des wirklichen Romans (bzw. vermutlich dessen ersten Teils)
von vorne beginnt, diesmal in dritter Person, veranschaulicht dies den
weiten Weg, die große Anstrengung und zu gewinnende Distanz, derer Hugo Claus
bedurfte, um dem so schwierigen, abgründigen Charakter, der er in seiner
Kindheit gewesen sein muss, literarisch beizukommen, ihn zwar die ganze
Geschichte aus seinem damaligen Blickwinkel erzählen, ihm durch seinen
gereiften Blick als Schriftsteller aber eine wenigstens sprachliche Erlösung
zuteilwerden zu lassen, ein unerlöster persönlicher (und womöglich auch
historischer) Rest scheint freilich übrigzubleiben.
Der Roman besteht aus zwei
Teilen. Der erste, "Der Kummer", ist wiederum in siebenundzwanzig kürzere Kapitel mit Überschriften, die
auf besondere Ereignisse und bestimmte Schwestern in dem Nonnenkloster Haarbeke, in dem Louis bis
ins Jahr 1939 (und, geht man nach der Biografie des Autors, seit seinem
fünften Lebensjahr) untergebracht ist, sowie auf verschiedene wichtige
Verwandte, mit denen Louis in den Ferien Kontakt hat, Bezug nimmt, eingeteilt. Um einen
ganz kurzen Überblick über diese Verwandtschaft zu geben - väterlicherseits haben wir das unumstrittene
Familienoberhaupt, den Großvater, Geschäftsmann und Monopolist für
Schulwarenartikel in Westflandern, der nicht nur wegen seiner Eigenschaft
als Louis' Taufpate das ganze Buch hindurch fast durchgehend als "der
Pate" bezeichnet wird, seine Bomama genannte Frau und sechs Kinder: Staf,
den Ältesten, Louis' Vater und Besitzer einer Druckerei (wieder eine
autobiografische Entsprechung), Onkel Robert (erst Angestellter, kann er
bald mit Zuschüssen des Paten seinen Traumberuf, Fleischhauer zu werden,
verwirklichen, und findet sogar eine Frau), Onkel Florent (Fußballtormann
bei einem zweitklassigen Verein und anglofil), Tante Mona (geschieden und
Liebling des Paten), Tante Nora (eine Freundin "gepfefferter" Lektüre,
übrigens nicht die Einzige mit solchem Geschmack) und Tante Hélène, die
bei den Eltern lebt. Mütterlicherseits lernen wir die Großmutter Meerke, die bei ihr
lebende Tante Violet (eine schwer übergewichtige Lehrerin), Louis' Mutter
Constance, Tante Berenice (mit dem bulgarischen Juden Firmin verheiratet),
Onkel Armand (Hallodri und Liebling von Meerke) und Onkel Omer (der sich
freiwillig für den Kampf im Osten unter Oberkommando der Deutschen
Wehrmacht melden wird) kennen. Während die Tanten mütterlicherseits sich für
Klatschgeschichten aus dem Belgischen Königshaus erwärmen, interessieren
sich
die Onkel zumindest oberflächlich mehr für die Politik, was Ende der Dreißigerjahre ebensowenig
verwundert wie eine gewisse Grundsympathie für das
nationalsozialistisch und mächtig gewordene germanische
Brudervolk der Deutschen. Als Louis von Onkel Armand per Auto von
dem besseren Bauerndorf (mit erfundenem Namen Bastegem), in dem Meerke und
die meisten ihrer Kinder leben, zurück zu den Eltern in die Stadt Walle
(ebenfalls erfunden, im wesentlichen jedoch der westflämischen Stadt Kortrijk nachgebaut) gebracht
wird, kommt es zu folgendem Dialog:
"Was meinst du, wer wird künftig die Welt beherrschen?"
"Jesus Christus", sagte Louis.
"Ach was, du frommer Einfaltspinsel. Die Kommunisten oder Hitler?"
Nicht auszudenken, dass die Kommunisten, die in Spanien Priester und
Nonnen zu Tode gefoltert hatten und Vaterland und Religion abschaffen
wollten, über die Völker herrschen würden. Das würde Gott nicht zulassen.
Oder vielleicht doch, für eine Weile, als Prüfung?
"Hitler", sagte Louis.
"Richtig. Das kleinere Übel." (S. 260)
Ausführlich beschäftigt sich
der Roman mit Louis als Internatsschüler des Nonnenklosters, als Anführer
der vier Apostel, wie sich die kleine Bande nennt, die auf die anderen
Schüler verächtlich als "Hottentotten" herabsieht (auch wenn in "Der Kummer
von Belgien" der Kummer durch Belgien kaum eine Rolle spielt - das Land
hatte zu dem Zeitpunkt noch Kolonien), sich an den Schwestern durch
Spitznamen (die geheimnisvolle Schwester Sankt Gerolf, die strenge Schwester
Frost, Schwester Engel, Schwester Sapristi etc.) und ein eigenes Notensystem
(acht von zehn Punkten beispielsweise in Sachen Demut für eine besonders
gelungene theatralische Aktion) rächt, ein paar sogenannte Verbotene Bücher
versteckt hält (das schlimmste wohl eine Biografie des Ketzers G.B. Shaw,
aber auch das Foto einer spärlich bekleideten Sängerin geht als solches
durch) und miteinander verschiedene brennende Fragen beredet.
Römisch-katholische Theologie und aufkeimender Zweifel an manchen ihrer
Dogmata, die strengen Internatsregeln, die oft schrägen Charaktere der
autoritär erziehenden Schwestern, alte Märtyrerlegenden, ein paar
Gesprächsfetzen von aus den Ferien Aufgeschnapptem, nicht zuletzt von der
langsam in den Alltag einsickernden großen Politik - all dies macht die Welt
des kleinen Louis aus, auf allesdas versucht er sich mittels kühner
Verknüpfungen seiner blühenden Fantasie einen Reim zu machen. Ein wenig
erinnert die stellenweise animistische Sichtweise, mit welcher Hugo Claus
das auf sich allein gestellte kindliche Bewusstsein des Knaben abbildet, an
die
Prosa Christine Lavants, in der
nüchternes Erzählen und kindliche, stark religiös geprägte Fantasterei ineinander
übergehen,
darüberhinaus erweist sich Claus als Meister darin, psychische und mentale
Entwicklung durch gekonnt markierte Auslassungen anzudeuten. Gegen Ende
der Internatszeit beginnt dem Heranwachsenden überdies seine Sexualität zu
schaffen zu machen, bricht sich fürs erste auf gewalttätige, ja sadistische Weise
Bahn. Nachdem Louis in der Nacht einen Schüler gedemütigt hat, betrachtet
er lange den Sternenhimmel, sich dabei bewusst der laut seiner Mutter so
gefährlichen Zugluft aussetzend. "Schlich sich dann zu seinem Bett, wie
der Löwe in der Savanne, kurz bevor er brüllt." (S.188)
Der zweite Teil, "Von Belgien" betitelt und etwa fünf Achtel des Ganzen ausmachend, verzichtet auf einzelne Kapitel, präsentiert sich stattdessen als Mosaik einer Vielzahl unterschiedlicher kleiner Episoden aus dem persönlichen, familiären, gesellschaftlichen und politischen Umfeld von Louis, einem raffiniert geknüpften Fleckerlteppich, der in seiner Gesamtheit besser als kontinuierliches Erzählen die Zerrissenheit einer einst sicher scheinenden Welt in der Zeit unmittelbar vor, nach und während der Besatzung auszudrücken vermag. Man darf annehmen, dass es sich bei dem Geschilderten fast ausschließlich um Selbsterlebtes handelt, obwohl der Autor vor allem in der Nachkriegszeit, die etwa die letzten 160 Seiten umfasst, dann anscheinend einiges zusammengezogen, künstlerisch verdichtet hat, und gegen Romanende weicht die dritte Person in einem Brief an einen toten Freund und etwas, das man als Tagebuchnotizen deuten könnte, einige Male der ersten. Weitere schriftstellerische Einfälle, Miniaturabsätze zu den politischen Entwicklungen im Schlagzeilen- oder Kurzmeldungsstil, Zeitraffersequenzen zum deutschen Blitzkrieg und zur Machtübernahme durch die alliierten Truppen, polyfone Passagen wie Familientratsch mit einer im Hintergrund den Rosenkranz betenden Nonne, wunderbar demaskierende Gesprächsfetzen von einem Schriftstellertreffen sind literarische Gustostückerln an sich und lockern ebenso wie viele sarkastische, ironische und humorvolle Formulierungen die konventionelleren, doch wesentlich zum Gesamtbild beitragenden Erzählabschnitte auf.
Als Louis von einem amerikanischen Soldaten nach dem Krieg einer Lüge überführt und nonchalanterweise nicht darauf angesprochen wird, rechtfertigt sich sein Schamgefühl mit dem Gedanken, dass er eben zeitlebens nichts als Verlogenheit kennengelernt habe, und geht man nach den bisher gelesenen Seiten, erscheint dies kaum übertrieben. Ebenso psychohygienisch-schonungslos wie bei der Schilderung seines Louis verfährt Claus in der Darstellung von Verlogenheit und Opportunismus, Egoismus und Heuchelei in der flämischen Gesellschaft. Zuallererst ist da der mächtige, langfristig prägende und nicht immer segensreiche Einfluss der katholischen Kirche mit ihrer seelenverbiegenden Sexualmoral, ihrem Kult des schönen Scheins und der Kleingeistigkeit vieler ihrer Priester zu nennen. Stellvertretend für ein besonderes Naheverhältnis zur Kirche sei der Pate, der selbst offen mit seinen Mätressen verkehrend dennoch auf einen seine Frau schlagenden Mitbürger voll moralischer Überlegenheit herabschaut und es im Aufsetzen von zur jeweiligen Situation passenden Andachtsmienen nach Beobachtung seines immer schärfer schauenden Enkels zu einiger Meisterschaft gebracht hat, genannt. Des Paten Frau wiederum, Bomama, kann als Beispiel jähen Umschlagens von äußerer Religiosität in etwas ziemlich Deftiges angeführt werden, ob in kumpelhaften Sadismus, wenn sie einer in Obhut genommenen Nonne (nachdem deren Kloster von britischen Bombern getroffen worden ist) nur für die Gegenleistung zahlreicher Fürbitten Anekdoten über die belgische Prinzessin zu erzählen bereit ist, oder in schwarzen Humor, wenn sie Louis erklärt, sie habe schon etliche Messen vorausbezahlt und werde ihm daher noch aus dem Grab Ablässe schicken. Am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter - hier seien nur das frühreife Mädchen Bekka (möglicherweise Zigeunerin, aber in solchen Zeiten spricht man am besten gar nicht über derlei) und der homofile sogenannte Dreckige Sef erwähnt - geht es wenig überraschend um einiges ehrlicher, allerdings nicht unbedingt weniger dreckig zu. Kollaborationslaster wie Rassismus, Denunziantentum und Herzverhärtung überschreiten nicht den Rahmen, die vielen Fälle von Inzest (darunter eine sehr ausführlich und en détail beschriebene Szene) hingegen schon. À propos: zwar nicht regelrecht inzestuös, aber sehr vielschichtig und psychologisch interessant gestaltet sich die Beziehung zwischen Louis und seiner Mutter Constance.
Ein weiterer verlässlicher Quell für
flämischen Kummer
entspringt der politischen Verfasstheit des ungeliebten Staates Belgien mit
seinen drei Regionen Flandern, Wallonien und
Brüssel (der doppelten Hauptstadt, wo die Stadtregierung mittlerweilen - um
das Lästern nicht allein den
Romanfiguren zu überlassen - das wallonisch-flämische Zankapfelproblem in
einigen Vierteln
listigerweise durch Zuwandererghettos gelöst hat), worüber Louis' Vater,
nationalistisches Großmaul,
das er ist
(und mehr noch, wie viele Familienmitglieder, internationales Leckermaul), gerne den Spruch "Belgien ist kein
Land, Belgien ist ein Zustand" zum besten gibt. Ein Staat
jedenfalls,
von dem die meisten Flamen (zumal in Zeiten, wo nationale Ideen
Hochkonjunktur haben) nicht gerade begeistert sind und der seinerzeit überhaupt nur aufgrund von
Großmachtinteressen ins Leben gerufen worden ist.
Wie die
französischsprachigen Wallonen zu diesem Staat stehen, ist kein Thema, denn Wallonien wird derart ignoriert, dass die erste deutsche Übersetzung des Romans
den Titel "Der Kummer Flanderns" riskierte, was freilich an der Absicht des
Schriftstellers vorbeigeht, der seinen Louis in den ersten Tagen nach
Kriegsende
mit Bedauern feststellen lässt, er werde sich nun wohl oder übel wieder an "Belgien" gewöhnen
müssen. Von dem geringen Prozentsatz an
Franskiljons, den die französische Kultur pflegenden und untereinander
französisch sprechenden Einwohnern Flanderns, abgesehen, wird, wenn
überhaupt, dünkelhaft nach Wallonien (und mit moralinsaurem Argwohn
nach Frankreich) geblickt. Dass die Leute sich dabei selbst in hohem Ausmaß und in den
verschiedensten Bereichen als von französischer
Kultur durchdrungen erweisen, gibt Hugo Claus häufige Gelegenheit zu diesen Widerspruch aufzeigenden hübschen
komischen Szenen (Übrigens kann Claus' enger Freund, Harry Mulisch,
in seinem Roman "De Pupil", in deutscher Übersetzung "Augenstern",
ebenfalls nicht widerstehen, sich über die sich penibel von allem Französischen abgrenzenden, dabei aber ein
in seinen Ohren ziemlich französisch klingendes Niederländisch sprechenden
Flamen ein wenig lustig zu machen).
Auch die Sprache verlangt nach einem
Absatz für sich. Vielfache Anregung, sofern er sie denn möchte, empfängt der
Leser durch die unterschiedlichen Aspekte von Sprache, für die der
heranwachsende Louis, möglicherweise früh schon durch finanziell vom Paten
belohnte Anlassgedichte geprägt, Aufmerksamkeit entwickelt. Für ihren assoziationenweckenden Klang,
die verschiedensten flämischen Dialekte, einander ähnelnde Tonfälle, die
Kraft der Erzählgabe, die bewirkt, dass Andere einem an den Lippen hängen, die Macht der Lüge (im Kapitel 19 "Das Lügenmaul"
wird sein
Vater zum leichten Opfer und ist fortan mehr oder weniger unter Kontrolle), den Ursprung von Redensarten, die Mühen des
Verseschmiedens und nicht zuletzt
die unentschlüsselte Bedeutung mancher Sätze der Erwachsenen.
Während der
deutschen Besatzung besucht Louis ein Jesuitenkolleg, und während seiner
Pubertätsfase sind Sprachen (Hochflämisch bzw. Niederländisch, Französisch,
Latein, Griechisch, und anlassgegeben lernt er ebenso schnell wie gut
Deutsch und Englisch) das einzige, wofür er weiterhin ausgezeichnete Noten
erhält. Außerdem findet er in seinem Lehrer, einem guten Bekannten des
Paten, einen willkommenen Reibebaum für seinen sich beweisen wollenden, nach Eigenständigkeit
strebenden Geist und seine erwachenden Männlichkeitsgefühle. Obwohl der Eiko, wie
dieser Jesuit wegen seiner Schädelform fast durchwegs genannt wird, das
meiste von Louis' Antiautoritätsausfällen abbekommt, gelingt es ihm
letztlich doch, im Schüler die Ehrfurcht vor dem Geist, heilig oder nicht, zu stärken und
ihn von
der heidnischen Fahne (aus Ehrgeiz, Ruhmsucht, Trotz, Provokation,
Fasziniertheit von den schönen Todesengeln, als welche Louis die schneidigen SS-Männer in
ihren Uniformen vorkommen, tritt dieser nämlich für einige Zeit in den
flämischen Ableger der Hitler-Jugend ein) wegzulocken. Die endgültige Lösung
von Louis' Kokettieren mit dem Nationalsozialismus erfolgt schließlich
durch Literatur,
und zwar durch sogenannte entartete, denn als die Kriegsfront näher
rückt, erhält Louis durch seinen Ruf als leidenschaftlicher Leser und über die
guten Kontakte seiner Familie die Möglichkeit, zu einer gewissen Dame (einem
sogenannten "heißen Weib") nach Brüssel
zu fahren und sich aus ihrer speziellen Bibliothek kräftig zu bedienen: Thomas Mann,
Jakob
Wassermann,
Lion
Feuchtwanger, Aldous Huxley und viele Andere, wo er sich endlich in seinem Element
zu fühlen beginnt, was rein autobiografisch oder auch als
Bekenntnis zu einem sehr liberalen Kunst- und Kulturbegriff verstanden werden
kann.
So inspirierend Louis die noch
verbotenen Schriftsteller findet, so vielfältig verführerisch die französische Kultur und
so reizvoll den gegen Ende Einkehr haltenden amerikanischen Jazz -
politisch lässt er sich nicht wieder vereinnahmen, bewahrt sich seinen
mühsam errungenen eigenen kritischen Blick, ätzt nach Kriegsende sogar, dass
man nun, da die Nazi-Bestie
besiegt sei, ganz gewiss, wie ja auch alle Zeitungen schrieben, einem Traum
von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit entgegengehen werde - mit denselben Personen. Und ganz
gewiss haftet dem jungen Mann, der am Ende angewidert (nur dezent, da er
sich durch scharfe Grobheit zu helfen gewusst hat) von der eigenen
Preisverleihungsfeier zum Bahnhof gehend mit dem Schlager "Tout va très bien,
Madame la Marquise" die neue Zeit begrüßt, ein gar nicht so geringer
dämonischer Anteil an.
Hugo Claus selbst konnte diesen Anteil offenbar
hervorragend durch die verschiedensten Kunstformen, in denen er mehr oder
weniger große Erfolge feierte, kanalisieren, seine zweite große Leidenschaft
waren die Frauen (von der Schauspielerin Sylvia Kristel beispielsweise hat
er einen Sohn und beste Zensuren: "hors catégorie, de liefde van mijn leven,
een ridder ..."), und à la fin hat er sich in gewissem Sinne selbst erlöst,
als er, noch nicht neunundsiebzigjährig und seit einiger Zeit an Alzheimer
erkrankt, von der in Belgien legalen Möglichkeit der Sterbehilfe Gebrauch
machte.
(fritz; 05/2019)
Hugo Claus: "Der Kummer von Belgien"
(Originaltitel "Het verdriet van Belgie")
Aus dem Niederländischen von Waltraut Hüsmert.
Klett-Cotta, 2016. 823 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Hugo Claus (5. April 1929 -
19. März 2008) gilt als der bedeutendste belgische Nachkriegsautor
niederländischer Sprache. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in
einem katholischen Internat; danach lebte er mehrere Jahre u.a. in Rom,
Amsterdam und in den USA. In Paris schloss er sich der Künstlergruppe
"Cobra" an, bevor er 1947 mit seinem Gedichtband debütierte. Claus trat
auch als Drehbuchautor, Übersetzer (etwa von Georg
Büchner und Dylan Thomas), Dramatiker, Maler, Film- und
Fernsehregisseur in Erscheinung. Sein Werk umfasst mehr als 150
Buchveröffentlichungen, wurde vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem
"Preis der Niederländischen Literatur" und dem "Leipziger Buchpreis zur
Europäischen Verständigung") und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Unvollendete Vergangenheit"
Noël, der in seiner Jugend vom Fahrrad fiel und seitdem etwas konfus
ist, wittert Ungeheuerliches. Denn kürzlich, so sagen die Leute, sind
zwei Mädchen verschwunden, spurlos. Noël hat einen Verdacht, und er
beschließt, die Sache in die Hand zu nehmen. Er beginnt mit einem
anonymen Warnbrief an Dekerpel, den Kollegen am Arbeitsplatz, einer
Buchhandlung.
Komprimiert und doch mit leichter Hand inszeniert Hugo Claus den Verlauf
eines Wahns. Was im Verhör Noëls durch einen alten Kommissar ans
Tageslicht kommt, ist das Psychogramm einer Kleinstadt-Gesellschaft,
spießig und heimtückisch. Judith, die Tochter einer Prostituierten,
die von algerischen Fundamentalisten verfolgt wird; ein aalglatter
Rechtsanwalt; unter der Hand weitergegebene Fotos von kleinen Mädchen;
die schlimme Söldner-Vergangenheit des Bruders von Noël - das sind die
Ingredienzien in diesem irrwitzigen Spiel, bei dem mehrere Menschen ihr
Leben verlieren. Noël räumt auf, und er hinterlässt dabei eine breite
Blutspur. (Klett-Cotta)
Buch bei amazon.de bestellen
"Das Stillschweigen"
Eines Tages taucht René im Dorf wieder auf, der längere Zeit als
Söldner in Afrika verschollene Sohn einer Familie, die sich recht und
schlecht mit einem Schnapsladen durchschlägt. Doch von seinen
Erlebnissen erzählt René nichts.
Er lümmelt herum und steckt mit Charlie zusammen, dem Kriegskumpan,
der in einem Campingwagen im nahen Wäldchen lebt. Da beginnt eine
Serie von bizarren Krankheits- und Todesfällen das Dorf zu
erschüttern, in dem bald nichts mehr so ist wie früher. Zwar haben
Filz, Missgunst und Amoral die Atmosphäre unter den Bewohnern schon
immer bestimmt, doch wirkt die Rückkehr des verlorenen Sohnes wie ein
Katalysator: Lange in der Geschichte verborgene Schuld kommt ans
Tageslicht. In diesem Roman - halb Krimi, halb figurenreiche
Provinztragödie - inszeniert Claus den Ausbruch einer kollektiven
Hysterie.
Die spannende Geschichte einer alltäglichen Katastrophe - Claus
erzählt sie mit Hellsicht und illusionslosem Mitgefühl. (Klett-Cotta)
Buch bei amazon.de bestellen
"Belladonna"
Axel den Dooven, ein alternder Schriftsteller, erhält den Auftrag,
ein Drehbuch zu einem Film über Breughel zu schreiben. Die
Vorbereitungen ziehen sich hin, und bald schon ist das Unternehmen
verstrickt in ein detailliert geschildertes Chaos aus Intrigen,
Eifersucht, Klatsch und Stupidität. Ein komplettes Panorama der
Medien- und Kulturwelt, in der Journalisten, Regisseure, Maler
und Manager agieren - und ein Minister: Als der sich souverän der
Sache annehmen will, bekommt sie politische Dimensionen. Die
Premiere kommt zustande. Doch bei Licht gesehen ist das Ganze viel
Lärm um nichts gewesen. (Klett-Cotta)
Buch bei amazon.de bestellen
Im Lokal 'Groeninghe' wird manches Glas auf den
Kreuzzug, den Blitzkrieg gegen die Kalmücken erhoben.
Im Lokal 'Rotonde' sagte Mijnheer Santens, der Kohlenhändler, am
Bridgetisch: "Kreuzzug? Da bin ich mir nicht so sicher. Das Abendland
wird zwar von den Bolschewisten bedroht, das stimmt, aber auch von
anderen heidnischen Mächten."
"Mijnheer Santens, die Wände haben Ohren", sagte der Pate beiläufig.
Mijnheer Tierentejn ordnete seine Karten auf dem Tisch, studierte sie
und starrte dann in die Steppe, die Tundra. "Napoleon,
Napoleon", sagte er. "Bitte, Mijnheer Tierentejn, nicht so laut",
sagte der Pate.
Und es ist auch die Rede von einem separaten flämischen Staat. Die
VNV-Leute sind dagegen, sie wollen die Groß-Niederlande (als ob die
Holländer so wild darauf wären, auf einen Schlag mit den ganzen
Katholiken vereint zu sein). Die Verdinaso-Leute sind dagegen, weil
sie das Burgundische Reich wollen. De Vlag ist dagegen, denn die
wollen uns ins Großdeutsche Reich eingliedern, das demnächst das
Großeuropäische Reich wird und kurz darauf ein Großes Tausendjähriges
Weltreich. Wer will überhaupt diesen separaten Staat Flandern?
Zumindest einen gibt es, der ihn will: Papa, beim Friseur Felix.
"Damit wir endlich einmal unter uns sind nach all den Jahrhunderten,
in denen man uns geknechtet und geschurigelt hat. Aber nur unter einer
entschlossenen Führung, die endlich weiß, wo's lang geht. Nicht wie im
Belgien von gestern, das in sechs Jahren zwölf Regierungen hatte, von
denen keine einzige ordnungsgemäß vom Parlament abgesetzt worden ist.
Nein, jedes Mal dieses idiotische Spiel: 'Ach, ihr Liberalen, ihr habt
euch zu einem Komplott zusammengetan, na schön, dann treten wir
einfach zurück' oder 'Aha, ihr Sozialisten, ihr arbeitet mit
Schmiergeldern, dann machen wir eben nicht mehr mit.' Und pardauz, lag
wieder eine Regierung auf der Schnauze. Einig waren sie sich nur, wenn
es darum ging, ihren Freunden Pöstchen zuzuschanzen. Du setzt dich auf
den Stuhl, ich setz mich auf diesen, wie beim Spiel Die Reise nach
Jerusalem!"
"Ach, wie würde man sich denn selber verhalten?", sagte Friseur Felix
und seifte den Paten ein.
"Wir brauchen eine strenge Hand. Aber eine intelligente Hand und eine
einfühlsame Hand", sagte Papa.
"Das sind viele Hände für einen einzigen Menschen", sagte ein Rechner.
"Staf, so ein Posten als Führer von Flandern, das wär doch was für
dich", sagte ein Witzbold.
"Er würde als Erstes Brüssel den Krieg erklären", sagte ein Stratege.
"Brüssel war immer eine flämische Stadt!"
"Das wirst du denen dort aber auf Französisch erklären müssen", sagte
ein Pragmatiker.
"Ich würde ihnen das Flämische einprügeln!", schnaubte Papa.
"Staf, red keinen Stuss", sagte Friseur Felix. Papa blickte hilflos in
das versteinerte, runzlige Gesicht seines Vaters im schneeweißen
Schaum. (S.368)