Jiří Kratochvil: "Die Causa Neufundländer"
"Denn der Wirklichkeit mangelt es
oft an dem, was ich als innere Logik bezeichnen würde." (S. 21)
Bei "Die Causa Neufundländer", veröffentlicht in der Reihe "Tschechische Auslese"
des "Wieser Verlags" und wohl ausschließlich
dem Schwerpunkt der "Leipziger Buchmesse" 2019 zu verdanken, handelt
es sich - dies sei gleich vorweg enthüllt - um drei offenbar willkürlich
ausgewählte Texte aus Jiří Kratochvils leider immer noch nicht ins Deutsche
übersetztem zweiten Band der "Brünner Erzählungen", der erste Band ist in deutscher Übersetzung anno
2009 im Wiener Verlag "Braumüller" erschienen.
Anlässlich des
Gastlandauftritts in Leipzig wurden ungefähr 60 Bücher tschechischer Autoren ins Deutsche übersetzt,
finanzielle Unterstützungen waren die Grundlage für diese heutzutage leider ungewöhnliche Flut an
Neuerscheinungen in diesem Bereich.
Dass der
zweite Band der "Brünner Erzählungen" auch nicht anlässlich des Gastlandauftritts Tschechiens bei der
"Leipziger Buchmesse" zur Gänze übersetzt worden ist, bleibt ebenso
rätselhaft wie ärgerlich. "Die Causa Neufundländer" enthält keinerlei Begründung
für die getroffene Miniaturauswahl, womöglich eine groteske
Bevormundung des Autors wie auch des Lesers, eine zeitgenössische Form der
Zensur quasi?
Im Original ist der zweite Band unter dem Titel "Lůžko je
rozestlané. Nové brněnské povídky" (was übersetzt "Das Bett ist gemacht. Neue
Brünner Erzählungen" ergibt) anno 2015 erschienen und umfasst verlockende
288 Seiten!
Drei Geschichten daraus, überdies ein Glossar, ein von der warum
auch immer dazu berufen geglaubten 1963 in Teheran geborenen deutschen
Schriftstellerin und Pädagogin Sudabeh Mohafez pflichtschuldigst
verfasstes Miniaturnachwort von nicht einmal drei Seiten Länge,
weshalb von angemessener Würdigung des fürwahr einzigartigen
Erzählers Kratochvil keine Rede sein kann, sowie je ein
Kürzestporträt der Übersetzerin und des Autors
beinhaltet das optisch wahrlich nicht gerade mit Qualität
aufwartende, mit Mitteln des tschechischen Kulturministeriums und des
"Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds" geförderte Büchlein,
das dennoch mit einem stolzen Verkaufspreis von 17,90 Euro für 117
Seiten nicht gerade wohlfeil in den Wettbewerb um Interessenten
geschickt wurde.
Manch ein Leser erinnert sich vielleicht angesichts der Buchgestaltung
an Thomas Bernhards Formulierung in "Gehen":
"Tschechoslowakische Ausschussware", nur hat
Thomas Bernhard dies nicht
über Bücher, sondern über Hosen geschrieben.
Ins Bild passt auch, dass
Kratochvils in deutscher Übersetzung als "Die niederträchtige Boshaftigkeit des
Seins" erschienener Roman (Originaltitel "Jízlivá potměšilost žití")
peinlicherweise als "Die bissige Tücke des Lebens" angeführt wird. O tempora, o
mores!
Doch sollte man sich von derlei ästhetischen und ökonomischen
Bedenken nicht die Vorfreude auf die Lektüre bzw. die Neugier auf
interessante Texte beeinträchtigen lassen, sondern sich lustvoll
auf das Büchlein stürzen, werden doch verschachtelte
Geschichten nach typischer Kratochvilart geboten, deren Titel lauten:
"Muchacha dormida - Der Traum vom schlafenden Mädchen", "Die Causa
Neufundländer" und "Ich, Loschad".
"Muchacha dormida - Der Traum vom schlafenden Mädchen" demonstriert die
Entstehung einer Geschichte samt Figuren im Dialog des Erzählers mit einem guten
Freund, wobei mit Fortdauer des Prozesses kuriose Details an
Bedeutung gewinnen und der eigentlich namenlos geplante Protagonist der Geschichte
innerhalb der Geschichte Konturen und Eigenleben entwickelt; ein Spiel sowohl
mit Ebenen als auch Elementen der mündlichen Erzähltradition, mit der Macht oder
auch Ohnmacht des Erzählers, verfeinert durch
die ganz spezielle charmante, nichtsdestoweniger stets punktgenau ins Schwarze
treffende Kratochvilmethode.
Es geht um Schuld und Verantwortung, ausgehend von
einem tragischen Ereignis im August 1969, einen gewissermaßen ansteckenden
Wandertraum, Vorherbestimmung, Spanienbezüge und allerlei Motive menschlichen
Handelns sowie deren Konsequenzen.
In der spannenden Erzählung "Die Causa
Neufundländer" berichtet der wieder erwachte Patient Jan, als
Enthüllungsjournalist tätiger Sohn eines "legendären Liedermachers",
zunächst aus dem Spital von seinen Sinneseindrücken nach einer verpatzten
Operation, einer verdächtig fürsorglichen Krankenschwester und von
absonderlichen Untersuchungsmethoden: "Mittels Rückwärtsrollen musste ich so
schnell wie möglich quer über eine unter Beschuss stehende Ebene kullern, bis
sich schließlich herausstellte, dass mich diese Vollidioten aus Versehen einem
Test für unsere medizinische Versorgungseinheit in Afghanistan unterzogen hatten
(...) Der Chefarzt - damit ich ihn doch noch in guter Erinnerung behalten sollte
- verkleidete sich am Ende mit einem Kostüm eines mexikanischen Kampfhahns und
krähte dreimal zum Abschied." (S. 42)
Es folgt ein überraschender
Heiratsantrag in einem Kaffeehaus, wonach die Erzählperspektive wechselt, was
übrigens mehrfach geschieht.
Der Enthüllungsjournalist, für den die nimmermüde
Krankenschwester-Verlobte wohl nicht nur aufgrund seines gefährlichen Berufs
väterliche Leibwächter der ganz speziellen Sorte organisiert hat, stürzt sich
nach einer erotischen Episode wieder auf vermutete Skandale. Bei der
Hochzeitsfeier schummelt sich der Autor der soeben stattfindenden Geschichte
höchstpersönlich unter die geladenen Gäste, was verständlicherweise Erstaunen
und Diskussionen hervorruft und den Schriftsteller in mehr als eine Zwickmühle
bringt: "Ich war mir nicht sicher, ob ein Erzähler seinen Figuren so nahe
kommen sollte, und so stellte ich mich lieber mit einem falschen Namen vor"
(S. 52). Der besondere Reiz der Hochzeitsnacht besteht übrigens darin, dass die
Brautleute einander erst dann endlich duzen dürfen, Geschlechtsverkehr ist schon
davor erlaubt und auch geschehen: "Ich sehne mich danach, Selma endlich zu
duzen, und dass sie mich ebenfalls duzt, und dass wir uns dann einem unbändigen,
leidenschaftlichen, tierisch wilden Duzen hingeben, bis zum ersten Hahnenschrei"
(S. 54) - was der Autor als findige Figur dann auch tatsächlich mit Wonne
belauscht.
Wie der geheimnisumwitterte Schwiegervater des
Enthüllungsjournalisten und dessen Vater, der "legendäre Liedermacher",
aufgrund belastender geschichtlicher Ereignisse - vielleicht, oder vielleicht
auch nicht - zueinander stehen, welche Rolle ein "legendärer Psychiater"
spielt, warum die Erzählung den Titel "Die Causa Neufundländer" trägt, obwohl
kein Hund darin vorkommt - und noch vieles mehr wird nach und nach offenbart.
Vermeintliche und tatsächliche Zufälle, geschickt eingefädelte oder auch
schicksalhafte Verkettungen von Umständen, die sich erst im Verlauf der Handlung
zeigen, Charaktere im Wandel der Geschichte - all das wird leichtfüßig tänzelnd
auf dem dünnen Eis, das die sogenannte Wirklichkeit nun einmal darstellt,
spielerisch und detailreich unter Aufbietung wundervoller schriftstellerischer
Zauber- und Handwerkskunststücke geschildert.
Wie es dazu kommt, dass ein
ebenso belesener wie mehrerer Sprachen kundiger Araberhengst in der ausgebombten
Brünner Villa Tugendhat mit einer nackten, angeketteten, von Soldaten
vergewaltigten Deutschlehrerin über
Kant fachsimpelt, erzählt dieser selbst in
"Ich, Loschad". Weiters ergeht sich das Pferd in Betrachtungen über menschliche
Scheußlichkeiten, den
Zweiten Weltkrieg und Schöngeistiges.
Dieses Büchlein bietet,
wie man es von Kratochvil kennt, selbstverständlich
die allertollsten Vergleiche, magische Elemente, Variationen ideologischer
Verblendungen samt Peinlichkeiten und Konsequenzen, mit traumwandlerischer
Sicherheit kunstvoll entfaltete Geschichten und doppelbödig Hintergründiges,
alles angesiedelt auf der in der mährischen Stadt Brünn gespiegelten Weltbühne.
"Die Causa
Neufundländer" präsentiert gar feine Kostproben der herausragenden Könnerschaft
Jiří Kratochvils, bezeichnenderweise im
Aschenputtelgewand.
Bücher sind wahre Kulturgüter, werden jedoch in Zeiten konsumverblendeter
Intelligenzverwahrlosung nicht selten von lektürefernen Profitstrebern nur mehr
noch als Handelswaren betrachtet und entsprechend lieblos produziert.
Aber: Besser kostbare
Geschichten in ärmlicher Aufmachung als umgekehrt!
(kre; 03/2019)
Jiří Kratochvil: "Die Causa Neufundländer"
Aus dem Tschechischen übersetzt von Nina Ritschl.
Wieser, 2019. 117 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins"
Ein rätselhafter Mord hält Brünn
in Atem: Unter der Zimmerdecke einer vorübergehend leeren Wohnung baumelt eine
Leiche. Kein Täter, kein Motiv. Die Presse stürzt sich auf den Fall. Und Adam,
der Nachkomme einer Dynastie von Privatdetektiven und Spezialist für Mord, nimmt
die gut verschlüsselte Fährte auf. Wir folgen Adam in ein Labyrinth von Rätseln,
ein Knäuel miteinander verwobener, ineinander verschachtelter Geschichten an der
Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.
Jiří
Kratochvil entfaltet sein Geschichtenknäuel virtuos, voll Ironie,
überraschenden, surrealen Pointen und der Liebe zum ausgefallenen, besonders
treffenden Wort. (Braumüller Verlag) zur Rezension ...
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"Brünner Erzählungen"
In seinen Erzählungen voller Aberwitz und Ironie setzt Jiří Kratochvil seiner
Heimatstadt Brünn ein literarisches Denkmal. Die Grenzen zwischen Realität und
Fiktion verschwimmen in diesen raffiniert komponierten Geschichten über das
Leben, die Liebe und den Tod, die oft in völlig unerwartete Wendungen und
groteske Pointen münden. Die Protagonisten? Ein Panoptikum schräger Typen,
angesiedelt in den Jahrzehnten vor und nach dem Umbruchjahr 1989.
Jiří
Kratochvils Erzählungen verbinden sich in ihrer äußeren Kulisse, der Stadt
Brünn, im Mittelpunkt aber stehen Menschen und ihre tragikomischen Schicksale.
Ungewöhnliche Begebenheiten zeichnen die skurrilen Alltagsgeschichten aus:
Personen und Orte wechseln ihre Identität, amouröse Abenteuer enden fatal,
Frauen verführen Männer, die in ihre Eingeweide schlüpfen, ein Dichter erinnert
sich an jedes Detail seines Lebens, tote Verwandte feiern bei Familienfesten
mit, Traumgestalten greifen ins wahre Leben ein, Katzen nehmen die Wesenszüge
ihres verstorbenen Herrn an, Stalin diktiert in Mausgestalt seine Memoiren,
Selbstmörder kehren ins Leben zurück, Strizzis prügeln sich in der Vorstadt um
Frauen, der Schriftsteller nimmt Einfluss auf seine eigene Vergangenheit und
wird zu einer Mehrfachgestalt.
In seinen Geschichten ist Jiří Kratochvil als
Ich-Erzähler meist mit von der Partie. Er bricht festgefahrene Sichtweisen auf
und entführt seine Leserschaft in eine Welt, in der die Peripetien der
menschlichen Existenz mit ebenso viel Selbstironie und Aberwitz geschildert
werden wie die Auswüchse der Konsumgesellschaft und totalitärer Ideologien. (Braumüller
Verlag)
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