Jiří Kratochvil: "Inmitten der Nacht Gesang"
"Inmitten der Nacht, als die
Hirten erwacht, da hörte man klingen und Gloria singen ein englische Schar, ja,
ja, geboren Gott war."
(Aus einem Weihnachtslied)
Freilich befasst sich niemand in Jiří Kratochvils Roman "Inmitten der Nacht
Gesang" mit Weihnachtsliedern, derlei käme dem Autor vermutlich nicht so ohne
Weiteres in den Sinn, vielmehr hat eine Romanfigur einst ein derart
betiteltes Buch verfasst.
Längst nur mehr
antiquarisch erhältlich ist "Inmitten der Nacht Gesang", der am 13. August 1989 vom
Autor beendete, 1992 im Original unter dem Titel "Uprostřed nocí zpěv" und
im Herbst 1996 auf Deutsch bei "Rowohlt Berlin" erschienene Roman inzwischen eine Rarität. Jiří Kratochvil hat
ihn dem 1936 in Brünn geborenen Schriftsteller und Politiker Milan Uhde gewidmet.
Bei "Inmitten der Nacht Gesang" handelte es sich - aus heutiger Sicht bemerkenswert - um die erste deutschsprachige
Übersetzung eines Werks des Autors, und die Rückseite des Bucheinbands ziert
eine Empfehlung des am 1. April 1929 in Brünn geborenen und anno 1975 nach
Frankreich emigrierten Schriftstellers
Milan Kundera, die da lautet: "Jiří Kratochvils entfesselte
Phantasie verwandelt die Wirklichkeit fortwährend in einen Traum. Seine
ungewöhnlich reichen Erfahrungen lassen die Träume jedoch realer werden als die
Wirklichkeit. Kratochvils Prosa ist das größte Ereignis der tschechischen
Literatur nach 1989."
Vielleicht revanchierte sich Jiří Kratochvil für diese
salbungsvollen Worte mit seinem anno 2019 auf Deutsch erschienenen Roman, der
den anspielungsreichen Titel "Die
niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" trägt?
Mit Rückblicken, Einblicken und überhaupt allerlei besonderen Blickwinkeln warten die Romane des
Schriftstellers ja stets auf, wobei "Inmitten der Nacht Gesang" durchaus
unterschiedliche Lesarten zulässt, ob es nun zwei Romanfiguren sind, die
jahrzehntelang unter dem Schatten des abwesenden Vaters leiden, oder ob der
Namenlose "lediglich" in der Fantasie des Anderen existiert - oder gar der
umgekehrte Ansatz zutrifft. Wie auch immer, obwohl sich einige Überschneidungen,
Übereinstimmungen und Verzahnungen finden, behauptet sich jede der beiden
Persönlichkeiten.
18 turbulente Kapitel bilden Menschen und Ereignisse
ab: "Die Empfängnis", "Die glücklichen Nachkriegsjahre", "Der Flohsprung", "Das
Labyrinth", "Die rote Perücke", "Der letzte Sommer im mährischen Land", "Blut
für eine aztekische Prinzessin", "Polizei-Story", "Das glückliche Ende des
Aschenputtelmärchens", "Polizei-Story (Fortsetzung)", "Der Bräutigam", "In der
Wilhelm Pieck Grube", "Ein langer Augusttag", "Der Zar der Toten", "Ein langer
Augusttag (Fortsetzung)", "Der Bandwurm Margarete", "Dort, wo heute"
und "Inmitten der Nacht Gesang".
Peter Simonides, Sohn der tapfer alleinerziehenden
Hani und des in Ungnade gefallenen, politisch verfolgten Vaters, des
Ornithologen Karel, der sich (wie übrigens auch Kratochvils Vater) alsbald über die
Staatsgrenze abgesetzt hat, was die weiteren Lebenswege der verlassenen Ehefrau
und der beiden Söhne entscheidend geprägt und beeinträchtigt hat, schildert
seine Erlebnisse von der Kindheit bis an das Ende der 1980er-Jahre. Dies
geschieht abwechselnd mit Passagen, die vom Namenlosen, gezeugt bei einer
Gruppenvergewaltigung zu Kriegsende (und zwar von einem weitgereisten Magier,
wie er sich lebhaft zurechtfantasiert), erzählt werden.
Dass beide
Vaterlose, nicht nur derjenige, dessen Textabschnitte überwiegend wie direkte Rede gestaltet sind, über besondere
Kräfte verfügen und diese gezielt einzusetzen wissen, wird mehrfach demonstriert, so
schwingt sich beispielsweise ein Zirkusfloh zum bulligen Racheengel auf und
werden Ratten zu Vergeltungswerkzeugen.
Der Roman trumpft mit einer faszinierenden Fülle eindringlicher Szenen und psychologischem Tiefgang auf.
Anschaulich werden Probleme mit Parteifunktionären thematisiert, auch häufige
Umzüge innerhalb Brünns, die den sozialen Abstieg der Familie dokumentieren,
ebenso wird die Verhaftung des standhaften Paters Samek, der jedoch gottseidank
viel später erneut in Erscheinung tritt, samt erschütternder Vorgeschichte
geschildert. Großvaters Labyrinth auf dem Dachboden weckt schaurige
Assoziationen. Anno 1969 lernt Peter Kamilka, die wohlbehütete Bonzentochter und
seine spätere Frau, kennen, doch es dauert einige Zeit, bis er in Papileins
Augen Gnade findet.
Nach der Emigration des Vaters kommt es zu Verhören und
Hausdurchsuchungen, ein seltsamer Geheimdienstgegenstand erregt Neugier, Herr
Sperber, ein der verlassenen Familie zugeteilter zutraulicher Polizist mit
familiären Zusatzaufgaben, ist auffallend oft zur rechten Zeit zur Stelle.
Einige weitere Motive und Stationen sind: Ein griechischer Brutalobengel namens
Bulis und seine verführerische Schwester "Iffi-Pfiffi", die den damals
frühreifen fünfjährigen Erzähler passend versorgt und viele Jahre später andere
herausragende Talente besitzt, ein Selbstmordversuch, Bonzenpapileins
Manipulationsbestrebungen, eine geerbte Kassette und ein folgendes kostspieliges
technisches Projekt, und über die Jahre hinweg unzählige Briefe ins Nirgendwo an
den fernen Zauberervater.
Inmitten des Buchs, auf Seite 113, findet sich
kein Gesang, sondern einer jener Brüche, die bei Jiří Kratochvil verlässlich
dazugehören: Der Autor des Romans begibt sich zu einem Freund, mit dem er
Details des im Entstehen begriffenen Werks bespricht und im Verlauf der
Diskussion seine Schreibkrise überwindet.
In nicht chronologischer Reihenfolge geht es anschließend um höchst unglaubwürdige
Doppelgänger und schlampig gemachte Menschenautomaten, von denen der lange Jahre
inhaftiert gewesene Onkel aus Trebitsch erzählt, ebenso von Provokationen
seitens der Staatssicherheit wie von ausartenden Verhören.
Es folgen
Erinnerungen an einen denkwürdigen Abend, als ein Luster den Besitzer wechselte,
eine vielversprechende Wiederbegegnung mit "Maikäfer" stattfand, die
tragischerweise keine Neuauflage erfahren konnte, an Verhaftungswellen,
allgegenwärtige Spitzel, an die Saat des Misstrauens, an degradierende
Erwerbsarbeiten, an Zuhälter, die sich zu allen Zeiten angemessen einzurichten
verstehen, an das heißersehnte Aufeinandertreffen mit dem homosexuellen Richard
Priest Tischnowitzky, an eine entsetzliche Gelbsuchtepidemie, an
Stalins Tod und
dessen nächtliche Galawahnvorstellungen im fürchterlichen Kindersanatorium
Schwarzbild.
Schwindende magische Fähigkeiten, eine bedrohliche Situation
im Kommandobunker, die eine ebenso absonderliche wie empörende neue
Kurzbekanntschaft einschließt, geballte Familiengeschichte und
Geheimdienstmachenschaften runden den Geschichtenreigen ab.
Der 1940 in Brünn
geborene, 1999 mit dem renommierten
"Jaroslav-Seifert-Literaturpreis" ausgezeichnete Autor Jiří Kratochvil
versteht es, mittels erzählerischer Raffinesse und auf Grundlage pessimistisch
gestimmter Menschenkenntnis, Autobiografisches, realistische
Magie und
zeitgeschichtliche Fundstücke aus verschiedenen Jahrzehnten zu bizarren, nicht
selten düsteren Geschichtengebirgen aufzutürmen, diese mit einzigartigen Protagonisten
zu bevölkern, sich immer wieder als allmächtiger Erzähler einzumischen, und am
Ende, die Postmoderne frisst ihre Kinder immerhin nicht, die Eigenkonstruktion
ins Wanken zu bringen oder sogar einstürzen zu lassen.
Niemals soll sich der
Leser sicher fühlen, tatsächlich einen Zipfel irgendeiner sogenannten Wirklichkeit
erhascht zu haben, nichts und niemandem ist zu trauen.
Unter dem Diktat der Postmoderne
wurde bekanntlich seinerzeit jeglicher Fortschrittsglaube der Moderne verworfen, das Vorhandensein einer objektiven Realität in Abrede gestellt,
demzufolge alles relativ war bzw. ist.
Kratochvils Konzept der gebrochenen Handlungsebenen und der postmodern ins Leere führenden
Versuchsanordnungen sorgt im Rahmen von Kurzgeschichten für wunderbare
Leseerlebnisse und unterschiedlich gelagerte Überraschungen. In Romanen treibt sein
Stil mitunter seltsame Blüten, wenn beispielsweise kunterbunte
Verschachtelungen und Zufälle, Spielereien mit Schein und Wirklichkeit die Erzählfäden hauchdünn werden lassen,
mögen die schriftstellerischen Ambitionen samt Fabulierlust für den Autor noch
so erhebend gewesen sein.
Aus heutiger Perspektive ist "Inmitten der Nacht Gesang"
vor allem hinsichtlich der psychologischen Aspekte interessante Lektüre.
(kre; 06/2019)
Jiří Kratochvil: "Inmitten der Nacht Gesang"
(Originaltitel "Uprostřed nocí zpěv")
Aus dem Tschechischen von Susanna Roth und Kathrin Liedtke.
Rowohlt Berlin, 1996. 267 Seiten.
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