Jiří Kratochvil: "Der traurige Gott"
Familienbande
und höhere Schicksalsmächte: Menschen als
Schachfiguren im endlosen Spiel des Lebens
Ab dem Jahr 1981 bis zum 30. Juni 2010, jenem Tag, an dem er seine
Pforten für immer schloss, war der von Egon Ammann und seiner
Frau Marie-Luise Flammersfeld gegründete literarisch
ambitionierte Schweizer "Ammann Verlag" für sein
sorgfältig zusammengestelltes Programm, das
regelmäßig erlesene Titel in Kleinauflagen und auch
bemerkenswerte Übersetzungen bot, bekannt. Die erste
Verlagspublikation war übrigens der Erzählband "Die
Tessinerin" des damals noch gänzlich unbekannten Schweizer
Autors Thomas
Hürlimann.
"Der traurige Gott" ist, ebenso wie Kratochvils Jahrhundertroman "Unsterbliche
Geschichte", in der Reihe "Meridiane" erschienen,
über die der Verlag verlautbarte: "Wie in einem
literarischen Koordinatensystem versammelt die vielgelobte Reihe der
MERIDIANE zeitgenössische Literatur aus aller Welt. Die
MERIDIANE, 1997 ins Leben
gerufen, waren ein wichtiges verlegerisches Gefäß
und brachten manche Entdeckung zutage. In Leinen gebunden, mit einem
Leseband versehen und mit ästhetisch gewagt-vornehmen Covers
haben sie den Weg zu ihren Leserinnen und Lesern gefunden. Das
Textangebot wie die unverwechselbar konsequente und gelegentlich
überraschende Gestaltung einzelner Titel der Reihe haben, wie
wir wissen, ihre Sammler gefunden."
Der einstige enthusiastische Verleger Egon Amman starb am 9. August
2017 im Alter von 75 Jahren in Berlin.
In seiner Heimat, der Tschechischen Republik, erscheinen Kratochvils
Bücher seit einigen Jahren im Brünner Verlag
"Druhé město", deutschsprachige Übersetzungen
publiziert inzwischen der Wiener "Braumüller Verlag" ("Ein
besonderer Schwerpunkt liegt auf Übersetzungen aus dem
Tschechischen", so der Verlag auf seiner
Netzpräsenz), bislang sind folgende Titel verfügbar:
"Brünner Erzählungen" (2009), "Das Versprechen des
Architekten" (2010), "Femme
fatale" (2011), "Gute
Nacht,
süße Träume" (2015) und
"Die
niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" (2019). In "Die
niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" tauchen
übrigens bereits aus "Der traurige Gott" bekannte Figuren und
Szenen beiläufig wieder auf, eine der charakteristischen
Besonderheiten des Kratochvil'schen Oeuvres.
Anno 1996 erschien bei "Rowohlt Berlin" Kratochvils Roman
"Inmitten der
Nacht Gesang", es existieren jedoch zahlreiche weitere, bislang leider
noch nicht übersetzte Werke des Autors.
Jordans gibt es immer und überall
Man schreibt das Jahr 1991, der Niedergang des kommunistischen Systems
ist bereits Geschichte, der Kapitalismus hat auch in Brünn
Einzug gehalten und Land und Leute mehr oder weniger verändert.
Der in Ungnade gefallene Bibliothekar Aleš Jordan, 41 Jahre
alt, ist mit seiner gleichaltrigen Cousine Lucie Jordan nicht nur durch
ein traumatisierendes Kindheitserlebnis verbunden. Die Geschichte wird
überwiegend aus Aleš' Perspektive berichtet,
allerdings drängt sich immer wieder ein allwissender
Erzähler, der beispielweise später folgende
Enthüllungen ankündigt, in den Vordergrund, wie man
es von Jiří Kratochvil kennt.
Zunächst steht Aleš im Mittelpunkt, der an die
innerhalb der Familie nicht gut angeschriebene alte Tante
Hrbáčková zurückdenkt, sodann eine
weitere alte Tante, diese jedoch als "Seelchen"
berüchtigt und gefürchtet, besucht, und dieser wieder
einmal nicht reinen Wein bezüglich seiner Ablehnung des
familiären "Arschlochismus"
einzuschenken wagt. Er und Lucie heiraten bald, ohne
Familienangehörige zur Hochzeit einzuladen, doch Lucies Vater
versteht es geschickt, dem widerspenstigen Aleš verlockende
Köder hinzuwerfen, darunter eine familienfinanzierte
Hochzeitsreise nach Paris.
Bereits am Prager Flughafen kommt es zu einem missliebigen, wie sich
später herausstellt, absichtlich inszenierten Vorfall, und nur
die "Zufallsbekanntschaft" mit dem überaus
schleimig-gesprächigen "Martin Wartemann", den Aleš
und Lucie in Paris erneut treffen, verhindert allem Anschein nach
Schlimmeres. Alpträume quälen Aleš, und
bei der Heimkehr in der Rostlaube eines nervtötenden
Taxifahrers, der natürlich den berüchtigten Toni
Jordan persönlich kennt, muss das frischgebackene Ehepaar
feststellen, inzwischen in eine familienfinanzierte Villa umquartiert
worden zu sein.
Überschattet von beklemmenden Erinnerungen an die 35 Jahre
zurückliegende Hinrichtung eines Kindermörders im
Familienkreis, als Aleš und Lucie sechs Jahre alt waren und
zur aktiven Teilnahme gezwungen wurden, welche die beiden Kinderseelen
sehr unterschiedlich geprägt hat, entfalten sich die weiteren
Ereignisse.
Protektion, Disziplin, Nepotismus, Selbstjustiz - die weitverzweigte
Familie Jordan hat ihren eigenen Ehrenkodex, es gibt keinen Ort, wohin
ihr langer Arm nicht reichen würde.
Mitglieder der Familie Jordan sind seit Jahrzehnten in
sämtlichen Lebensbereichen und in entscheidenden Positionen
präsent, alle sind in einer perfekten Opportunistenstruktur
vernetzt und in praktisch allen gesellschaftlich relevanten Funktionen
vertreten, unabhängig vom gerade herrschenden politischen
System. So gibt es z.B. natürlich auch einen Priester, Filip,
ausgestattet mit "eschatologischem Talent", der
Aleš unter vier Augen Lebensweisheiten mitteilt, unter den
Jordans, und die schaurigen Schauspielzwillinge Putzi und Dutzi
gehören ebenfalls zur Familie. Gehorsam gegenüber dem
Familienoberhaupt ist ebenso selbstverständlich wie
überlebensnotwendig, und dass ein derartiges System nicht nur
Sonnenseiten für alle Zwangsmitglieder aufweist, liegt auf der
Hand.
Die Position des Seelchens, wie das jeweilige alleinherrschende
Familienoberhaupt genannt wird, ist nach dem Ableben der Tante
nachzubesetzen, und diese hat auf dem Totenbett ausgerechnet den
historisch nicht befleckten Familiendissidenten Aleš
auserkoren, ihr Nachfolger als Seelchen zu sein. Dass sich der
umtriebige Ganove Toni Jordan als Neider und Konkurrent nicht so
einfach geschlagen geben wird, ist klar.
Die beruflich erfolgreiche Lucie, die sich immer perfekt mit den
herrschenden Umständen zu arrangieren weiß, bleibt
an Aleš' Seite lange Zeit unauffällig, und
Aleš ahnt nicht, dass sie längst ihr eigenes Spiel
eröffnet hat, unterstützt von ihrem ehrgeizigen Vater.
Jiří Kratochvil dringt spielerisch, nichtsdestoweniger
hartnäckig immer tiefer in die verschworene Welt, die Intrigen
und Machenschaften der Familie Jordan ein und würzt seinen
düsteren Roman stellenweise mit zynisch-amüsanten
Anmerkungen.
Nach einem geradezu blasphemischen Zwischenfall bei der Totenwache, der
immerhin Aleš von seinen psychischen und physischen Leiden
befreit, wird tatsächlich für einige Jahre Toni
Seelchen der Familie, bis er den Bogen völlig
überspannt, die Familie gegen sich aufbringt und die
Mühlen der Jordan'schen Justiz in Bewegung gesetzt werden.
Als Aleš früher als geplant nach Hause kommt, wo
gerade der Familienkreis auseinandergeht, aus dem Fernsehen von Tonis
angeblichem Selbstmord in einer Gefängniszelle
erfährt und Lucie unentwegt mit Familienangehörigen
telefoniert, weiß er die Zeichen zu deuten.
Am nächsten Morgen hebt er seine gesamten Ersparnisse, die ihm
prompt im Zug gestohlen werden, ab und fährt in die Berge,
wo
sich gewissermaßen sein Schicksal erfüllt. Der
Priester Filip hatte Aleš ja angekündigt: "Gott
hat nämlich eine sehr eigene Bestimmung für Sie"
(S. 118).
Doch zuvor stehen seltsame Erlebnisse bei einer wüsten Truppe,
die in der Gedenkstätte für
Partisanenkämpfer haust, und eine göttliche
Zwiesprache vor einem Bauwagen auf einem Gipfel im Nebelmeer auf dem
Programm, bevor Dutzi und Lucie quasi alle Hüllen fallen
lassen.
Das überraschende Ende wartet mit einem verblüffenden
Rollentausch sowie drei Welterklärermonologen, darunter einer
des Anstaltsleiters Peter Jordan, auf. Und der letzte Satz des Romans
führt bedrohlich schlüssig zum Buchtitel
zurück.
"Der traurige Gott", vom Autor am 26. Juni 2000 vollendet, ist ein
flotter Roman, der bei aller Situationskomik insbesondere die dunklen
Aspekte des Menschseins ebenso drastisch wie gnadenlos abhandelt.
(kre; 05/2019)
Jiří
Kratochvil: "Der traurige Gott"
(Originaltitel "Truchlivý Bůh")
Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka
Vagadayová.
Ammann, 2005. 192 Seiten.
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