Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte endet"
Familiäre Schicksale sind
unumkehrbar, der Lauf der Welt ebenso
Nach sechzehn Jahren kehrt der Lebemann Matteo aus Kalifornien nach Rom zurück, kann zurückkehren. Denn ein
hartnäckiger Gläubiger, der ihm wegen krummer Geschäfte über Jahre mit allerlei
unlauteren Methoden nachgestellt und ihn erpresst hat, ist überraschend
verstorben. Matteos Kinder, Giorgio und Martina, sind mittlerweile selbst
erwachsen und bereits verheiratet. Für die verlassenen, den Ex-Mann trotz allem
noch immer liebenden Mütter hat Matteo in Amerika jüngere Nachfolgerinnen
gefunden.
Nur bei Tati, einem treuen Freund aus Kindheitstagen, findet
Matteo Anschluss und Quartier. Sonst scheint ihn niemand sonderlich vermisst zu
haben, am wenigsten seine Kinder, in deren Leben für den fremd gewordenen Vater
kein Platz mehr ist.
Martina, die als Enkelin eines sittenstrengen
marxistischen Ideologen eine kommunistische und atheistische Erziehung genossen
hat, hat den Bruder ihrer besten Freundin Benedetta Mogherini geheiratet, für
die sie selbst erotische Gefühle hegt. Die Mogherinis gehören zur wohlhabenden
römischen Bourgeoisie; in ihren Kreisen dreht sich alles um den richtigen Stil
bei mondänen Festen, bei eleganter Kleidung und in der Strandvilla, wobei die
Stilrichtigkeit immer auch eine Frage des Preises ist, der für die Symbole
dieser Gesellschaftsschicht bezahlt wird. Gegenüber ihrem Ehemann Lorenzo,
dessen Gedanken vor allem darum kreisen, für welche Extremsportart er neue
Ausrüstungen kaufen wird, verhält sich die begabte Doktorandin ablehnend und
zickig. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Ehe zerbricht und Martina
den goldenen Käfig ihrer Schwiegerfamilie verlässt. Wird sie in einem neuen,
materiell weit bescheideneren Leben Fuß fassen können?
Ihr Halbbruder Giorgio ist als Gastronom überaus erfolgreich. Durch seine weit weniger
erfolgreiche Ehe mit der bewusst religiös lebenden Sara setzt er die jüdische
Familientradition Matteos fort - sofern auch diese Ehe hält. Denn neben dem
Aufbau des neuen Restaurants bleibt keine Zeit, nicht für seinen Vater, nicht
für seine schwangere Frau und auch nicht für seine hübsche Assistentin Viola,
die mit ihm gerne mehr als die zahlreichen Arbeitsstunden teilen würde.
In den ersten vier Fünfteln des Romans passiert wenig. Der in Italien populäre
und vielfach ausgezeichnete 1972 geborene Autor, der väterlicherseits selbst aus
einer jüdischen Familie stammt, beschreibt stilsicher die drei Familienmilieus
der bildungsaffinen Kommunisten, des katholischen Großbürgertums und der
selbstbewussten jüdischen Minderheit, die seit der Antike am Tiber lebt. Den
Symbolen, Traditionen und Feierstunden der jeweils Anderen mit Unverständnis
oder gar Ignoranz zu begegnen, scheint Handlung genug, sorgt jedenfalls für Witz
und rührt beim Lesen die neugierige Erwartung auf weitere Kulturkonfrontationen,
bevor die Geschichte dem Romantitel entsprechend endet. Von den Inhalten des
christlichen Weihnachtsfestes wenig wissend, beginnt am Ende des Romans eine
opulente Weihnachtsfeier in Giorgios Restaurant, bei der auch jene
aufeinandertreffen werden, die sich bisher aus dem Weg gehen wollten.
Wie und warum die Geschichte wirklich endet, sei nicht verraten. Alessandro Piperno
nutzt Anspielungen auf Lieder der Popkultur und ihre identitäts- und vielleicht
auch sinnstiftende Wirkung: "Where the story ends" ist der Titel eines
2009 veröffentlichten Lieds der us-amerikanischen Popgruppe "The Fray".
In den Worten des Refrains spiegelt Martina ihre misslingende Selbstfindung
zwischen Benedetta und Lorenzo: "All we know is distance" und "Kiss
away the difference".
"End of History" ist darüberhinaus der
Titel des bekanntesten, wiewohl umstrittensten Werks des us-amerikanischen
Historikers Francis Fukuyama aus dem Jahr 1992. Der Verlauf der Geschichte sei
eine gesetzmäßige und zielgerichtete Verkettung von Ereignissen, an deren Ende
sich nach dem Scheitern der totalitären Systeme Faschismus und Kommunismus die
liberale Demokratie und die Marktwirtschaft westlicher Prägung durchsetzen
werden. Doch eine Generation nach dem Erscheinen des Buchs scheint die
Weltgeschichte eine andere Wendung genommen zu haben; auch das Buch überrascht
mit einem unvermuteten Ende, das keinesfalls ein glückliches ist.
"Wo die Geschichte endet" von Alessandro Piperno zeigt mit Witz und sprachlichem Können,
wo die gesellschaftlichen Bruchlinien Roms, Italiens und der abendländischen
Welt liegen. Zum Weltuntergang ist jede
Familie fähig.
(Wolfgang Moser; 07/2019)
Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte
endet"
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Piper, 2019. 304 Seiten.
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