Gerhard Roth: "Die Hölle ist leer die Teufel sind alle hier"
"Durch
seine Einsamkeit kam es immer wieder vor, dass sich seine Innenwelt mit
der Außenwelt verband. Es war allerdings das erste Mal, dass
er sich seine Einsamkeit ohne Verzweiflung eingestand."
(S. 145)
Gerhard Roth verfasst seine Romane nicht selten nach bewährter
Rezeptur: In kulturell anspruchsvoller Umgebung sieht sich ein bislang
unbescholtener Durchschnittszeitgenosse plötzlich dazu
veranlasst, als Rächer und Richter in Personalunion zu
fungieren, wobei er außergewöhnliche
Fähigkeiten entwickeln und unterschiedlichen Gefahren trotzen
muss. Das zieht offenbar Leser in Scharen magnetisch an, denen
herkömmliche Reiseführer zu langweilig und
Kriminalromane zu banal erscheinen.
Diesmal rastet ein biederer Übersetzer aus, nachdem er
unfreiwillig Augenzeuge eines Mordes geworden ist, woraufhin er
zwischen die Fronten sowie zwei Frauen gerät. Ein greiser
Superreicher mit speziellen Interessen und Absichten, seine gerissene
Anwältin, sein Falkner, sein blinder Imker, zwei sehr
unterschiedliche Herzdamen, freilich ebenfalls im Dunstkreis des
großen Gönners verkehrend, ein Briefträger
und zahlreiche Ganoven bevölkern neben zahllosen Touristen und
auffallend wenigen Einheimischen die Szenerie, und - soviel vorweg - es
geht äußerst turbulent und spannend zu.
Selbstverständlich kommen auch in diesem Roman feinsinnige
Beschreibungen von Venedigs Eigenheiten und Kulturschätzen
nicht zu kurz, wie man sie bereits vom passionierten Teilzeitvenezianer
Gerhard Roth kennt und schätzt. Der Autor wechselt wie
üblich routiniert zwischen den jeweils genretypischen
Schreibstilen.
Mörder, Migranten und ein Megamäzen
Emil Lanz, trinkfreudiger österreichischer mehrsprachiger
Übersetzer ("der Saufmann von Venedig"?), ehemaliger
Freizeitimker, nunmehriger wohlhabender Witwer und mit seiner
gigantischen, stetig Zuwachs erhaltenden Bibliothek in Venedig
ansässig, sucht einen geeigneten Ort, um sich zu
erschießen. Sein auf dem - vorerst noch! - allzu
ereignislosen Leben fußender Entschluss zieht sich jedoch in
die Länge, das medienstofflich vollgesogene Bewusstsein des
autistische Züge aufweisenden Protagonisten liefert
zunächst pflichtschuldigst allerlei klischeebefrachtete,
zeitgeistige Bilder aus öffentlicher Gegenwart und privater
Vergangenheit sowie ausschweifende Assoziationen, wie
überhaupt auch Fotografien und Filmsequenzen in weiterer Folge
wiederholt Bedeutung zukommt.
Man erfährt beispielsweise Details über den
venezianischen Alltag, über Zivilisationsmüll und
bedeutend schrecklichere Funde am Strand, die Arbeit und die
missglückte Ehe des Emil Lanz, wobei durchaus auch
(unfreiwillig?) komische Elemente aus dem Meer der Erinnerungen
auftauchen.
Berufsbedingt kommentiert und interpretiert der Egozentriker Lanz seine
Gedanken und legt allergrößten Wert auf gediegene,
stimmige Formulierungen - gewiss nicht die einzige Gemeinsamkeit mit
seinem Schöpfer Gerhard Roth.
Im gemächlichen Eröffnungskapitel "Die Einsamkeit des
Strandläufers" lässt der Autor mit routinierter Hand
seinen Protagonisten Gestalt vor den Augen des Lesers annehmen.
Zu Beginn des zweiten Kapitels "Mord und Selbstmord" ist Lanz dann
endlich am Ort des beabsichtigen Selbstmords angekommen; per Vaporetto
auf der Insel Torcello. Doch als er sturzbetrunken einen passenden
Platz für seinen Abschied von der Welt gefunden hat, ist er
dort nicht der Einzige mit tödlichen Absichten: Ein Mann wird
ermordet, Lanz ist Zeuge der Szene, was nicht lange unentdeckt bleibt.
Danach gewinnt der Roman deutlich an Tempo, und Lanz verliert
schlagartig jegliche Lust am Selbstmord, ab sofort gelten
nämlich andere Gesetze ...
Die Lanz bereits von Begegnungen am Strand bekannte Fotografin Julia
Ellis (jawohl, genau wie die berüchtigte us-amerikanische
frühere Immigranteninsel), die dubiosen internationalen
Glücksspiel- und Schleppermachenschaften ihres ermordeten
Liebhabers und der im Verlauf des Geschehens an Bedeutung gewinnende
patente Briefträger Oboabona sind prägende Figuren
und Motive, und nicht von ungefähr befasst sich der mit
blühender Fantasie, einem Hang zum Grübeln - und, wie
sich zeigen wird, durchaus auch krimineller Energie - ausgestattete
Übersetzer hingebungsvoll mit "Gullivers Reisen".
Am nächsten Morgen ist die undurchschaubare Fotografin aus dem
Hotelzimmer verschwunden, mit ihr eine Pistole aus Lanz' Besitz -
beides soll sich bald darauf wiederholen. Der Übersetzer auf
Abwegen will - vielleicht - den beobachteten Mord bei der Polizei
anzeigen, sich jedoch keinesfalls verdächtig machen, weshalb
er den Weg immer wieder aufschiebt. Folgerichtig befindet sich Lanz
"Auf der Flucht", wie der Titel des dritten Kapitels lautet, sind ihm
doch inzwischen Auftragsmörder auf der Spur.
Flott geht es weiter: Viel inneres Erleben der Hauptfigur,
venezianische Impressionen auf dem Weg zum Polizeigebäude, der
unter ungeklärten Umständen plötzliche Tod
Will Menneas, des Freundes von Julia Ellis, seines Zeichens
wahrscheinlicher Auftraggeber der nächtlichen Ermordung des
Konkurrenten Borsakowski, ein abgrundtief bösartiger Verfolger
mit Glatze und Rucksack, Scharen kreischender Möwen, Richard
Vogel, Falkner und Ziehson des unermesslich reichen Signor Blanc, und
sein Raubvogel Alien als Schutzengel (nicht nur auf einem Friedhof),
auch halluzinogener Tee trägt das Seine zu einer weiteren
vorübergehenden Verschiebung der Wahrnehmungsperspektive bei,
ausgerechnet während eines Radausflugs, der auch prompt
übel endet. Doch es soll noch schlimmer kommen: Gerhard Roth
mutet auch in diesem Roman seiner Hauptfigur Haarsträubendes
zu, die anfangs nur dezent anklingenden Motive verdichten sich immer
weiter und spinnen ein klebriges Netz aus Verdachtsmomenten,
Todesfällen und Bedrohungsszenarien. Geradezu als Atempausen
dienen kulturhistorische Abstecher in die venezianische Vergangenheit
und zu deren Relikten.
Die Grenzen zwischen dem Leben vor und nach dem Tod, Träumen
und Wirklichkeiten verschwimmen, und auch die Gedanken und Taten der
Hauptfigur werden in bekannt rothtypischer Manier phasenweise zunehmend
bizarrer. Lanz verspürt, bei aller Gefahr für Leib
und Leben, das augenblicklich Erquickende seiner aktuellen Situation
und geht damit auffallend gelassen um, leidet keineswegs unter
Schlaflosigkeit oder Potenzproblemen und ist erstaunlich bewandert im
Umgang mit unterschiedlichen Pistolen, dem Präsenzdienst sei
Dank.
Damit, herumzuschnüffeln und Leuten nachzuspionieren, hat Lanz
schon zuvor immer wieder Zeit totgeschlagen, doch tut er dies jetzt
unter veränderten Vorzeichen, vor allen Dingen ist es nun er,
dem brutal auf den Zahn gefühlt wird, zumal er niemandem
gegenüber seine Karten auf den Tisch legt. Sei es, dass er von
einem gedungenen Übeltäter, der eine Hundemaske
trägt, bedroht und geschlagen wird, dass sich scheinbar aus
heiterem Himmel ein ungeheuer lukratives
Shakespeare-Übersetzungsprojekt ergibt, eigentlich zu gut, um
wahr zu sein, entpuppt sich der Auftrag wenig später als Teil
eines umfassenden Manövers, das Signor Blanc, der ruhelose
Menschenfreund mit unerschöpflichen Mitteln und
gesellschaftsunabhängiger Moral, ersonnen hat. Dieser Signor
Blanc zieht offenbar hinter den Kulissen die Fäden, an denen
schon viele ihm verpflichtete Menschen wonnig zappeln, sein Kapital
ermöglicht es ihm, schicksalsgleich einzugreifen, wo und wie
es ihm gerade einfällt.
Im vierten Kapitel "Das Multiversum" muss sich Lanz weitgehend von
seiner Lieblingstaktik, alles aufzuschieben und zu vertagen,
verabschieden und entdeckt die Lust am Lügen. Julia, die allem
Anschein nach ihr eigenes Spiel und zeitweise recht
glaubwürdig die Verliebte spielt, allerdings keines ihrer
offenbar zahlreichen Geheimnisse preisgibt, verschwindet wieder einmal
von der Bildfläche, der Anwalt Capparoni wird erhängt
in seinem Haus aufgefunden (natürlich von Lanz
höchstpersönlich), sodass der bereits aus "Die
Irrfahrt des Michael Aldrian" bekannte Commissario Galli
erneut aufgrund der kriminellen Umtriebe diverser
ausländischer Neureicher und ihrer Handlanger alle
Hände voll zu tun bekommt und seine Spürnase
Höchstleistungen vollbringen muss. Lanz hingegen erobert eine
zweite Geliebte, die himmelsbewanderte Caecilia Sereno.
Die Ereignisse überstürzen sich geradezu: Ein Besuch
auf dem jüdischen Friedhof, nächtliche
Verfolgungsjagden und tödliche Schusswechsel, Lanz' von
Übeltätern in Brand gesteckte Fischerhütte,
seine sichere Zuflucht im Gästezimmer auf Signor Blancs
Anwesen, Julias seltsames Auftauchen und Verschwinden, ein
vermeintlicher Bandenkrieg, das tote afrikanische Mädchen am
Strand, der Brandanschlag auf Lanz' Villa, und immer wieder die
großzügige Geberhand des Mäzens und
Weltgestalters Signor Blanc aus unbestimmter Ferne bzw. Nähe.
Das brutale Durcheinander unter der touristischen
Märchenbilderoberfläche Venedigs sorgt, nicht nur im
Schlusskapitel "Der Sturm", unbestritten für Hochspannung,
weshalb die mangelnde Glaubwürdigkeit des Geschilderten nicht
so sehr ins Gewicht fällt.
Allerdings findet Lanz in all dem Trubel immer wieder Gelegenheiten,
kulturelle Exkurse zu unternehmen, und Gerhard Roth scheint es
überdies darauf anzulegen, dass seine Leserschaft Venedig auf
den Spuren seiner Hauptfigur erkunden kann, werden doch
sämtliche Wege und Verkehrsmittel detailliert beschrieben.
Man kann immerhin getrost annehmen, dass die Hölle indes
keineswegs leer ist, und es bleibt rätselhaft, weshalb Lanz
nach all seinen Untaten ungestraft (auf Erden zumindest) davonkommt,
vielmehr reich beschenkt hinkünftig allem Anschein nach ein
sorgenfreies Leben führen und unbehelligt in Freiheit seinen
Interessen nachgehen kann. Der wackere Commissario Galli hingegen ist
nicht um seine undankbare Position zu beneiden: Als Einheimischer wird
er von Blancs raffinierter Anwältin eiskalt ausgetrickst, was
ein nur zum Teil befriedigendes Ende ergibt.
(kre; 04/2019)
Gerhard
Roth: "Die Hölle ist leer die Teufel sind alle hier"
S. Fischer, 2019. 368 Seiten.
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Weitere
Buchtipps:
Cees
Nooteboom: "Venedig. Der Löwe, die Stadt und das
Wasser"
Das erste Mal, 1964, in Gesellschaft einer jungen Frau. Dann, 1982, mit
dem Orientexpress. Erst beim zehnten Mal das Wagnis: eine Gondelfahrt.
Und schließlich, 2018, kappt ein heftiger Sturm die einzige
Landverbindung zwischen der Stadt und dem Rest der Welt und sorgt
dafür, dass der Gast länger bleibt als geplant.
Cees Nootebooms Liebe zu Venedig, dieser "absurden Kombination von
Macht, Geld, Genie und großer Kunst", dauert nun schon
über 50 Jahre an. Viele Male hat er die Stadt besucht, wohnt
in prachtvollen Hotels und düsteren Apartments, huldigt den
Malern und Schriftstellern, die hier lebten und arbeiteten, beobachtet
den drohenden Ausverkauf Venedigs ebenso wie das Verhalten der Bewohner
und Besucher: klug und selbstironisch, fast zärtlich.
Der große niederländische Autor und Reisende Cees
Nooteboom stellt sich die Frage: "Weshalb liebe ich diesen Ort mehr als
andere Orte?" In seinen Texten aus drei Jahrzehnten gibt er die Antwort
- und setzt Venedig, La Serenissima, ein Denkmal von ungeheurer
Strahlkraft.
"An dem Tag, an dem Venedig unter Wasser verschwindet, steigen all die
Marmorlöwen auf wie ein tödliches Geschwader, ein
letztes Mal noch fliegen sie mit dem Geräusch von hundert
Kampfflugzeugen um den Campanile und ziehen dann, einer
mächtigen Sonnenfinsternis gleich, über die Lagune
hinweg." Mit farbigen Fotografien von Simone Sassen. (Suhrkamp)
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Hanns-Josef
Ortheil: "Der von den Löwen träumte"
Als Ernest Hemingway 1948 nach Venedig reist, ist er in einer schweren
Krise. Starke Depressionen haben dazu geführt, dass er lange
keinen Roman mehr veröffentlicht hat. In der Einsamkeit eines
Landhauses in der Lagune versucht er, wieder zum Schreiben zu finden.
Halt gibt ihm die Freundschaft zu einem jungen Fischer, der ihn auf der
Entenjagd begleitet. Aber auch die Liebe zu einer
achtzehnjährigen Venezianerin führt ihn ins Leben
zurück. Langsam entsteht ein Venedig-Roman, während
der junge Fischer die Atmosphären einer ganz anderen
Geschichte wittert: Die
von
einem alten Mann und seiner Liebe zum Meer ... (Luchterhand)
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