Olga Grjasnowa: "Der verlorene Sohn"
Olga Grjasnowas Roman nimmt den
Leser mit in die Jahre 1839 bis 1857, in die Zeit des russischen
Kaukasien-Kriegs, und zwar genau zur Eroberung von Akhulgo. Allerdings erfindet
die Autorin in die politischen und historischen Umstände hinein eine Geschichte,
die sich so nicht zugetragen hat.
Jamalludin, neun Jahre alt und ältester
Sohn des Imams Schamil, der sich seit Jahren erfolgreich gegen die russischen
Eroberungsversuche wehren kann, wird von seiner Mutter geweckt. Die Russen sind
knapp davor, Akhulgo zu erobern, und im letzten Moment, als Schamil die Schonung
des eigenen Sohnes vor dem eigenen Volk nicht mehr rechtfertigen kann, willigt
er ein, seinen Sohn dem Zaren im Gegenzug oder als Geisel für die Verschonung
Akhulgos zu überlassen.
So beginnt Jamalludins Reise, die ihn inmitten
von russischen Soldaten und Offizieren
nach St. Petersburg führt. Der Zar
interessiert sich sehr für den Jungen und lässt ihn auf die berühmte
Kadettenanstalt gehen, wo sonst nur die Söhne der wichtigsten Adelsfamilien
ausgebildet werden. So unterwirft er den Sohn des Feindes, denn das Privileg,
auf diese Schule zu gehen, bedeutet natürlich auch, dass er zum Offizier der
russischen Armee ausgebildet wird. Letztendlich will der Zar mit Jamalludin
einen treuen Mann haben, den er jederzeit als einen auch die muslimische Seite
verstehenden russischen Oberbefehlshaber im Kaukasus installieren kann.
Jamalludin wird immer russischer, doch wird er nie ganz akzeptiert. Erst eine
russische Ehefrau ist der Schritt, der da Abhilfe schaffen könnte. Der
kaukasische Russe verliebt sich in Lisa, eine für damalige Verhältnisse
emanzipierte junge Frau, die Tochter einer liberalen Adelsfamilie. Lisas Vater
stimmt zu, ja sogar der Zar will Jamalludin anstelle seines Vaters zum Altar
führen. Der Junge stellt nur eine Bedingung, nämlich nicht zum Christentum zu
konvertieren. Obwohl sich das Muslimische bei ihm nach und nach darauf reduziert
hat, kein Schweinefleisch zu essen, ist es ihm wichtig, nicht dem Glauben
abschwören zu müssen, selbst wenn er keinen mehr hat.
Der Zar verlangt
jedoch eine zweijährige Wartezeit. Während dieser wird der Junge nach Polen
versetzt. Stattdessen wünscht er sich aber die Teilnahme am
Krim-Krieg. Es ist
die Notwendigkeit, die eigene Entscheidung für Russland gegen seine muslimische
Herkunft zu verteidigen. Doch bevor alles so endet, wie es Jamalludin
mittlerweile wünscht, nimmt sein Vater Schamil zwei georgische Prinzessinnen als
Geiseln und fordert vom Zaren, der eine Schwäche für georgische Prinzessinnen
hat, seinen Sohn im Tausch für die beiden. So kehrt Jamalludin fünfzehn Jahre
nach seiner Geiselnahme als junger Mann in seine Heimat zurück, in der er sich
nun ebenfalls fremd vorkommt. Von seinen Mitmenschen wird er skeptisch beäugt,
man weiß nicht ganz, wem er nun treu ist, versteht seine ganz und gar russischen
Angewohnheiten nicht. Traurig realisiert er, dass die Truppen seines Vaters in
allen Belangen, militärisch und wirtschaftlich, den Russen unterlegen sind. Dass
seine Heimat kulturell Russland noch weiter zurücksteht, begreift er ebenso.
Abgesehen von der spannend erzählten Geschichte Jamalludins, die natürlich
auch so etwas wie eine Entwicklungsgeschichte ist, zeichnet Olga Grijasnowa ein
wahrlich eindrucksvolles, lebendiges und detailgetreues Bild Russlands zur Zeit
des Zaren Nikolai des Ersten. Da wird die Not der leibeigenen Bauern
offenkundig, die auch einmal ihr Neugeborenes töten, weil es ein Mädchen ist,
und daher viel zu teuer und nicht wert, aufgezogen zu werden, die vielleicht
auch einmal ihre Frauen totschlagen, bis hin zu den Reichen, dem unfassbaren
Reichtum des Adels. Schonungslos zeigt die Autorin auf, dass ein Menschenleben
in Russland weniger wert ist als nichts. Der Roman zeigt auch die
Zerrissenheit der Russen damals - auf der einen Seite die Faszination der Kultur
Frankreichs und der französischen Sprache, die ja in den "feineren" Haushalten
noch bis zur Revolution von jeder Gouvernante gesprochen werden musste. Dagegen
offenbart sich bereits hier die Tendenz, Europa nicht zu nahe an sich
heranzulassen, was hauptsächlich durch die
orthodoxe Kirche gesteuert wird und
sich auch in schlimmstem Antisemitismus auswirkt. Die Parallelen zum heutigen
Russland sind hier klar und deutlich sichtbar, ohne dass die Autorin auch nur
den kleinsten Hinweis dahingehend platzieren müsste.
Besonders offen
zeigt sich in diesem Roman auch, wie die ständigen Niederlagen und die deutliche
Unterlegenheit zu einer Art Radikalisierung, Abschottung, fundamentalen
Orientierung verleiten, die in der Region Kaukasus (Tschetschenien,
Aserbaidschan,
Armenien und Dagestan) noch heute zu Unruhen und Kriegen führen.
Während die Erzählung flüssig dahingeht, tauchen immer wieder Momente auf,
die ganz besonders in Erinnerung bleiben. Beispielsweise der Abschnitt, in dem
Jamalludin versteht, dass seine Bemühungen, sich an seine Heimat, an sein
Zuhause, zu erinnern, fruchtlos sind. Er versucht täglich, die Gesichter seiner
Eltern und seines Bruders im Gedächtnis zu sehen, geht die Reihenfolge der
Häuser in seiner Straße durch, und in dem Moment, als er versteht, dass er nicht
mehr weiß, wem das Haus am großen Tor des Auls gehört, weiß er, dass er gegen
die Zeit verloren hat.
Die 1984 in Baku geborene Olga Grjasnowa findet in
ihrem Roman eine wunderbar plastische, doch noch immer etwas distanziert
wirkende Sprache, die genau richtig für diese unterhaltende und fesselnde
Lektüre ist. Interessanterweise entscheidet sie sich dafür, diesen Roman
gänzlich linear zu erzählen, was ein wenig dazu führt, dass man an der einen
oder anderen Stelle meint, einen aufgeklärten und bisher unbekannten russischen
Klassiker zu lesen (und das ist wahrlich nicht negativ gemeint). Vielleicht sind
es auch die vielen opulenten Details und Geschichten, die auf 383 Seiten von der
immer im Zentrum stehenden Figur Jamalludins gebunden werden. Jedenfalls handelt
es sich bei "Der verlorene Sohn" um einen wirklich ausgezeichneten, fast
historischen Roman, den man regelrecht verschlingt, auch wenn man, wie der
Rezensent, eigentlich kein Liebhaber historischer Romane ist.
(Roland Freisitzer; 10/2020)
Olga Grjasnowa: "Der
verlorene Sohn"
Aufbau Verlag, 2020. 383 Seiten.
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