Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt"
Die Ideenwelt als letzte (?) Zuflucht
Der in der Kvarner Bucht und
auf der griechischen Halbinsel Mani entstandene Roman "Die letzte Welt" erschien
erstmals 1988 und zählt seither zu den Klassikern der deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur. Inspiriert von Leben und Werk des römischen Dichters
Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. bis ca. 17 n. Chr.) verfasste Christoph
Ransmayr seine eindringliche Version der "Verwandlungen" und versetzte hierzu
seinen Protagonisten Cotta an einen wundersamen Ort, wohin weiter verwandelte
Figuren und Variationen der Geschichten des römischen Dichters nach und nach
vordringen, wobei auch Ovid und sein historischer Bekannter nicht diejenigen
geblieben sind, die sie einst waren. Eingedenk des im Roman mutierten Satzes:
"Keinem bleibt seine Gestalt", der bei Ovid lautet: "nulli sua
forma manebat" ("Keinem blieb seine Gestalt").
Christoph Ransmayr
nahm sich die dichterische Freiheit, auch moderne Utensilien (z.B.
Bergbaumaschinen und Mikrofone, Zeitungen und einen Filmprojektor) ganz
selbstverständlich und harmonisch in seine traumhafte
Wahrnehmungsverwandlungsfantasie zu integrieren. Dieses rundum geglückte Wagnis
verleiht dem Roman eine zusätzliche Dimension und beleuchtet das Schemenhafte
von Zeit ebenso wie die zwangsläufigen Schattenwürfe aller Materie.
"Die
letzte Welt" ist ein kunstvolles Spiel mit Lesarten, vernunftzentrierte Begriffe
wie Raum und Zeit entpuppen sich bald als völlig unbedeutend, historische Tatsachen werden
meisterlich mit fiktionalen Elementen kombiniert. Der faszinierende Roman jongliert gekonnt
mit verfremdeten mythologischen Figuren und kann auch ohne Kenntnis der
"Metamorphosen" des Ovid mit Genuss und Gewinn gelesen werden. Übrigens ist "Die letzte Welt" in 15 Kapitel
gegliedert, Ovids "Metamorphoseon
libri" umfassen stolze 15 Bücher.
"Die letzte Welt"
wurde am 30. September 1988 in der
damals durchaus breitenwirksamen Fernsehsendung "Das
literarische Quartett" besprochen und sowohl von Lesern als auch
Kritikern begeistert als Literatursensation aufgenommen. In Ungarn sorgte
Péter Esterházy mit der allerersten ungarischen Besprechung
von Christoph Ransmayrs zweitem Roman für gebührende Aufmerksamkeit.
"Die letzte
Welt" wurde ihrerseits inzwischen vielfach in Seminaren und wissenschaftlichen
Arbeiten beleuchtet, interpretiert und solcherart gewissermaßen
auch schon wieder rezeptionsgeschichtlich transformiert.
Christoph Ransmayr hat den Roman mit einem
"Ovidischen Repertoire" ausgestattet, das die
kunstvolle Stoffverwirrung weiterführt, das Rätsel vergrößert und nur scheinbar ein
Werkzeug zu irgendeiner Decodierung darstellt.
Die mit Motiven aus der Natur verzierten Zifferzeichnungen der
Kapitel stammen von der 1942 geborenen Schriftstellerin und Malerin Anita Albus.
Der Autor hat "Die letzte Welt"
Andreas Thalmayr,
dabei handelt es sich um das Pseudonym Hans Magnus Enzensbergers, des früheren
langjährigen Herausgebers der "Anderen Bibliothek" des inzwischen
untergegangenen "Greno-Verlags", wo die erste Auflage als 44. Band in gediegener
Aufmachung erschienen ist, gewidmet. Die nachfolgenden Auflagen sind
diesbezüglich bescheidener (o tempora, o mores!) ausgefallen, auch dies - ironielos! - im Gesamtkontext durchaus
stimmig.
Ovid schrieb seine auf römischen und
griechischen Mythensammlungen basierenden "Metamorphosen" in Form
einer Weltgeschichte
im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung in Hexametern. Der wahre und
eigentliche Grund für seine anno 8 n. Chr. erfolgte Verbannung aus dem zu jener
Zeit gesellschaftspolitisch unangenehm temperierten Rom ist bis heute
umstritten, bei Ransmayr setzen Nasos respektlose Rede anlässlich der Eröffnung
eines Stadions sowie eine achtlose Geste des Kaisers die unglücklichen
Ereignisse ingang. Jedenfalls wurde der zuvor in seiner Heimat angesehene und beliebte
Dichter unter Kaiser Augustus nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt. Tomoi, auch
Tomis, ist der antike Name eines Ortes im Gebiet der heutigen Stadt Constanța in
Rumänien.
Christoph Ransmayr nannte den Schauplatz seiner
wortgewaltigen Geschichte, seine "Zwischenwelt", Tomi.
Das irrationale, wilde Tomi ersteht
bis zu einem gewissen Grad auch aus den in seinen bekannten Briefen in die Heimat zum
Ausdruck gebrachten Klagen des Verbannten als Kontrast zum rationalen,
geordneten Rom. Und wo sonst als im imaginierten Tomi, in dieser "eisernen Stadt",
könnte sich das letzte Weltzeitalter, das Eiserne nämlich, gekennzeichnet von
allgemeinem Niedergang und Brutalität, anschaulicher ereignen? Eben.
In unserer Zeit stellen Ovids "Metamorphosen"
Pflichtlektüre für Schüler, die noch das (oft erst im Nachhinein als solches
empfundene) Glück haben,
Lateinunterricht zu erhalten, und Altphilologen dar,
früher erfreuten sich die rund zwölftausend Verse jedoch allgemein großer
Popularität - nicht nur innerhalb der jeweiligen künstlerischen Elite einer
Epoche, sondern auch in volkstümlichen Versionen, sind doch Themen wie
Weltentstehung, Sintflut, Erotik, Götter und Helden sowie Verwandlungen in
Pflanzen und Tiere stets spektakulär und gern gesehen.
Anders als in Ovids
"Metamorphosen" gibt es bei Christoph Ransmayr einen Protagonisten, einen
Bekannten Nasos aus besseren Zeiten, namens Cotta. Dieser tritt die strapaziöse
Reise von Rom nach Tomi an, um dem Gerücht auf den Grund zu gehen, der
Dichter sei in der Verbannung gestorben. Und anders als in der Realität hat der
Ransmayrsche Naso seine unvollendeten "Metamorphoses" noch in Rom vernichtet.
Hat Naso vor seiner erzwungenen Ausreise tatsächlich das einzige Exemplar
seines bis dahin nur in Fragmenten veröffentlichten Hauptwerks verbrannt, es also eigenhändig in Feuer und Asche verwandelt?
Eine Abschrift des ansonsten womöglich für immer verlorenen Werks und allenfalls auch den Dichter lebend zu finden, ist
Cottas Ansinnen.
Auf Nasos Spuren,
der Nachreisende ist ja eine typische Ransmayrfigur, erlebt der zunächst misstrauisch beäugte Römer in der
verschwiegenen "eisernen Stadt" im Lauf eines Jahres allerlei
Merkwürdiges. Land und
Leute erscheinen von Anfang an über die Maßen seltsam, und erst, als Cotta seine
zivilisationsgeschulte
römische Vernunft an den Nagel hängt und sich den besonderen Gegebenheiten dieser letzten
Welt hingibt, sind ihm tiefere Einsichten möglich, die freilich ihren Preis
haben ...
Doch zunächst nimmt Cotta Quartier im Haus des nicht nur im
übertragenen Sinn wölfischen Seilers Lycaon, wird unfreiwilliger Mitläufer bei einem orgiastischen Fastnachtsumzug
verstörender Gestalten und hört von den Einwohnern Tomis mitunter
widersprüchliche Geschichten von sowie über Naso.
Allem Anschein nach hat der
Verbannte den Bewohnern Tomis wandelbare Geschichten erzählt, so z.B. der
nicht immer eigenmächtig sprechenden Prostituierten Echo, deren Körper ein wandernder
Schuppenfleck stetig verwandelt, die von Naso ein "Buch der Steine" kennen
will und eines Tages spurlos verschwunden ist, und der taubstummen Teppichweberin Arachne, die ihre Wandteppiche
angeblich nach
Motiven aus Nasos "Buch der Vögel" gestaltet. Auch der meist entrückt oder
auch verrückt wirkende Pythagoras scheint etwas zu wissen. Doch Cottas
trügerischen Hoffnungen folgende Spurensuche in Trachila, im letzten bekannten Wohnhaus des
Dichters, führt zu einem Textirrgarten voller beschrifteter Steinmale und
beschriebener Lumpen, und Pythagoras, Nasos Mitbewohner und Bediensteter, ist eine zweifelhafte
Auskunftsperson, Seelenwanderung und Seelenverwandtschaft hin oder her.
Die
geschwätzige verwitwete
Gemischtwarenhändlerin Fama, ihr fallsüchtiger Sohn Battus, den früh ein
buchstäblich steinernes Schicksal ereilt, der
Liliputaner Cyparis, der mit seinem Filmprojektor alljährlich ein Stück der großen weiten
Welt, auch diese vollgesogen mit Mythen, nach Tomi bringt, der Deutsche Thies,
den Kriegswirren nach Tomi verschlagen haben, der Schlachter Tereus, der lange
Zeit ein verbrecherisches Geheimnis hütet, das letztlich einen Kindesmord sowie
drei Verwandlungen nach sich ziehen wird, seine im Fett der Frustration
versunkene Frau Procne, der Branntweiner Phineus und weitere markante Gestalten
bevölkern "Die letzte Welt".
Mit zumeist geradezu lebloser Gleichgültigkeit
spielen die Einwohner Tomis, allesamt dort Gestrandete, ihre Rollen, Nasos Werk
ist offenbar Wirklichkeit geworden und hat zudem Kreativität
entwickelt.
Zwischen die in Tomi spielenden Episoden sind einige
Passagen aus Nasos Vergangenheit eingeflochten. In lebendigen Rückblicken wird
der Abstieg vom einst umschwärmten Gesellschaftsliebling zum behördenwillkürlich geächteten
Staatsfeind geschildert, der - naturgemäß erst posthum - in der Heimat
unweigerlich doch vom Staatsapparat und opportunistischen
Meinungsmacherwendehälsen, die nicht grundlos vollkommen gegenwärtig anmuten
(wem der Zeitgeist erscheint ...), vereinnahmt wird.
In "Die letzte Welt" finden sich Spielarten zeitloser Metaphern für menschliche Charaktereigenschaften
und für Affekte. Die ebenso stimmungsvollen wie stimmigen Kulissen (z.B. bei
Gebirgswanderungen) bilden hervorragend
geschilderte Naturphänomene, darunter Klimaentwicklungen und Wettererscheinungen,
sowie die Poesie oder auch Gnadenlosigkeit der Jahreszeiten mit ihren
unmittelbaren Auswirkungen auf Flora, Fauna und die alldem mit Haut und Haar
ausgelieferten Einwohner Tomis.
In Summe ergibt sich eine grandiose Abfolge von
zwingenden Szenerien, die das Zyklische jeglicher Existenzform
veranschaulichen.
Der Dichter Ovid sollte übrigens recht behalten, als er seinen provokanten Epilog zu den "Metamorphosen"
schrieb und sich somit gewissermaßen selbstbewusst in seine, zumindest solange
es Leser gibt, unsterblichen Verse verwandelte, wobei sich jeder
Leser aus der Lektüre quasi sein eigenes Buch zusammenreimt.
Bei Christoph
Ransmayr entziffert Cotta auf behauenen Steinsäulen in Nasos verwildertem Garten:
"Ich habe ein Werk vollendet / das dem
Feuer standhalten wird / und dem Eisen / selbst dem Zorn Gottes und / der
allesvernichtenden Zeit // Wann immer er will / mag nun der Tod / der nur über
meinen Leib Gewalt hat / mein Leben beenden // Aber durch dieses Werk / werde ich
fortdauern und mich / hoch über die Sterne emporschwingen / und mein Name / wird
unzerstörbar sein."
Interessant ist, dass Christoph Ransmayr, bevor er "Die letzte Welt"
schrieb, eigentlich von
Hans Magnus Enzensberger den Auftrag erhalten hatte, Ovids
"Metamorphosen" für "Die Andere Bibliothek" einfach nur in Muttersprachenprosa zu
übertragen, was so - glücklicherweise - nicht geschah. Denn diese Welt wäre bedeutend ärmer ohne das Meisterwerk "Die letzte Welt".
Es liegt
nun einmal in der menschlichen Natur, dem
scheinbaren Wundermittel Vernunft mitunter zu misstrauen und einer verdächtig
lautstark beworbenen Nüchternheit Mythen in immer neuen Abwandlungen
entgegenzusetzen.
(kre; 02/2020)
Christoph Ransmayr: "Die letzte Welt"
Fischer. 288 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Ovid: "Metamorphosen"
In Prosa übertragen und mit einem Glossar versehen von Hermann Heiser.
Kaum
ein Werk der römischen Literatur hat eine solche bis in die Gegenwart reichende
Rezeption in fast allen künstlerischen Genres erfahren wie die "Metamorphosen"
Ovids. Seine Erzählungen von Dädalus und
Ikarus, von Orpheus, Europa oder
Narziss gehören zum europäischen Kulturgut. Was Ovid als Mythenerzähler vor
Anderen auszeichnet, ist die tief- und feinsinnige Psychologie, mit der er die
Szenarien seiner Geschichten vor uns ausbreitet. Und es ist seine unbescheidene
Konzeption einer Zeiten überspannenden Darstellung von der Erschaffung der Welt
bis in die eigene Gegenwart.
Hermann Heiser legt eine vollständig neue
Prosa-Gesamtübertragung der "Metamorphosen" vor. Mit einer flüssigen,
zeitgemäßen Erzählsprache, die sich dennoch nicht anbiedert, gelingt ihm die
Gratwanderung zwischen Ovids epischem Erzählstil und seinem poetischen Anspruch.
Er spricht bewusst ein breites Lesepublikum an, das nicht zwingend
fachphilologische Voraussetzungen mitbringen muss, um sich mit Genuss und Gewinn
auf den großen Erzähler einzulassen.
Das Lesebuch ist mit einem hilfreichen
Personen- und Ortsglossar versehen.
Hermann Heiser studierte Klassische
Philologie in Mainz und Zürich. Neben der Tätigkeit als Gymnasiallehrer war er
in verschiedenen Bereichen des
Theaters aktiv, u.A. als freier Regisseur. (Königshausen
& Neumann)
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