Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa"
Besessenheit von den toten Eltern, deren Apotheose und Nöte der unteren spanischen Mittelschicht
Manuel Vilas Vidal wurde 1962 in der Kleinstadt Barbastro in der nordostspanischen Provinz Huesca geboren, hat mehr als zwanzig Jahre lang als Spanischlehrer gearbeitet, immer wieder Artikel für Zeitungen und Zeitschriften verfasst und ist vor allem als Dichter, aber auch als Romancier und Autor von Kurzprosa in Erscheinung getreten. Der Roman "Die Reise nach Ordesa", erschienen 2018 in Madrid, ist sein bislang größter Erfolg; man muss bis zu "Mein Herz so weiß" von Javier Marías zurückgehen, um einen in seinem Erscheinungsjahr in Spanien erfolgreicheren zu finden.
Wer zu Depressionen neigt oder
Morbidität scheut, sollte besser von dem Buche lassen, denn das Geschriebene,
die weitgehend gleichbleibende durchwegs molltonhafte Grundstimmung des Erzählers könnte solche Eindrücke
nähren.
Seit kurzem ist Manuel Vilas, wie der Erzähler - klassisches alter ego
des Autors - heißt, geschieden und
in eine kleinere Wohnung umgezogen, die beiden Söhne besuchen ihn
selten und widerwillig, der Tod der Mutter liegt ebenfalls erst ein Jahr zurück, der
des Vaters ein gutes Jahrzehnt. Alleingelassen verfällt Manuel der starken Obsession, sich mit Leben und Tod
der Verstorbenen, mit welchen die Kommunikation zeitlebens eher bescheiden
verlaufen ist,
zu beschäftigen, einige Erinnerungen, dazu wenige übriggebliebene Fotos, vor allem
aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren (die übrigens auch in dem Buch zu besehen sind)
wiederauszugraben, dabei neue Dinge zu sehen, indem
er, wie es heißt, alte Szenen sieht, als wären sie neu.
Der Vater:
mit starker Vorliebe für die
Marke Seat (das erste Foto ist das seines ersten Autos),
elegante Kleidung und
frische Geldscheine, leidenschaftlicher Kartenspieler, nie um Geld,
sondern, wie der Sohn meint, aus Freude am Zufall, später dann mit einem Faible für das vom
Sohn gehasste Ratequiz "un dos tres, responda otra vez", hernach für Kochsendungen
("Wenn er fernsah, ging das Leben weiter."; S. 350), auch
dies zum Leidwesen des sich insgeheim missachtet fühlenden Sohnes, beim gemeinsamen Flipperspiel hingegen:
"Ich
glaube, das waren die innigsten Momente, die es je zwischen uns gab, als wir
Flipper spielten." (S. 271) ...
Die Mutter: dazumal vom Sohn wenig beachtet,
weitgehend ohne einen Sinn für Vergangenheit (da sie nicht einmal Franco zu
kennen scheint, wird sie zärtlich als Punk bezeichnet), ständig Dinge (auch
Anderen gehörende) zerbrechend oder wegwerfend, Unangenehmes und solches, wovon
sie glaubt, es könnte sich für sie als schädlich erweisen, einfach verschweigend
(dadurch dem Sohn sehr ähnlich), glücksspiel- und olivenölliebend, von gesellschaftlichem
Aufstieg und Julio Iglesias träumend, Pionierin des Sonnenbadens, "eine seit der
Steinzeit immer und immer wieder geborene Göttin" (S. 307), in anderen Bereichen
von beeindruckender Gleichgültigkeit als
einer anderen Form von Verstand, einem Sinn für die umfassende
Bedeutungslosigkeit aller Dinge, wie ihr Sohn in Anlehnung an
Camus formuliert ...
"Ich habe sie bereits zu Musik gemacht, weil unsere Toten sich in Musik und
Schönheit verwandeln sollten." (S. 233) Demzufolge nennt Manuel seine Eltern in
der zweiten Buchhälfte meist nach zwei berühmten Komponisten, den stilvollen Vater "Johann
Sebastian", die barbarische Mutter "Wagner", deutet bei ihrer
Beschreibung Unschmeichelhaftes nur zart
an, zelebriert die elterliche Schrulligkeit und Originalität (zum Beispiel ihre
völlige und im katholischen Spanien sehr seltene, nicht mit Atheismus zu
verwechselnde Areligiosität), verherrlicht sie geradezu in dieser sehr speziellen Hommage, die der
Roman auch und vor allem ist.
Wenigen
weiteren auserwählten
Verwandten, solchen, mit denen Manuel zumindest hin und wieder in Kontakt
gekommen ist, wird
eines der 157 Kurzkapitel des Romans gewidmet. Andere dieser kleinen lyrischen
Essays handeln von Eltern an sich (die man erst
kennenlernt, wenn sie schon Eltern sind, und an denen wir vieles als
selbstverständlich annehmen), Krematorien, dem unbekannten Aussehen
der Teresa
von Avila, dem Leben der Alten, der Schönheit des Mülls, von
Alkoholabhängigkeit, dem Tod einer Beziehung als dem Tod einer gemeinsamen
Geheimsprache, Schülern aus der Unterschicht und manchem mehr.
Die allermeisten
Personen werden mit der Beharrlichkeit der immergleichen Bezeichnung der unteren
Mittelschicht zugeordnet, und dieser wiederum - von finanzieller Benachteiligung
bis zu den Eigentümlichkeiten ihrer Sozialstruktur - tendenziell eine
Opferrolle; beschrieben werden Menschen mit Kultur (im Sinne von Stil,
Kochkunst, instinktiven Werten, unkompliziertem Lebensgenuss etc.), aber
wenig bis keiner Hochkultur, schwach ausgeprägter Reflexionstätigkeit in ihrem
meist vergeblichen gesellschaftlichen Aufwärtsstreben.
Ordesa ist der Name eines Nationalparks in den Pyrenäen, in welchen Manuel einst mit seinen Eltern gefahren, dort zum ersten Mal des Fänomens Leben innegeworden ist und zugleich gespürt hat, wie sich angesichts der Herrlichkeit dieser Landschaft mit dem gewaltigen, seit dem Tertiär nahezu unveränderten monte perdido ("Verlorener Berg") der Wahnsinn des Lebens, das heißt des Alltagslebens, auflöste. Als er auf diesen Spuren fast fünfzig Jahre später mit seinen beiden Söhnen ebendorthin fährt, mischt sich die Erinnerung natürlich mit anderen Empfindungen; dass für sie in dem einst aufgesuchten Hotel kein Zimmer frei ist, lässt ihn gar das Wort vom Beweis der Nichtexistenz Gottes in den Mund nehmen.
Pathetische, wenn auch in ihrer Apodiktik zweifelhafte Aussagen sind überhaupt ein Kennzeichen von "Die Reise nach Ordesa". Ein paar Kostproben:
Psychologisch:
"Das größte Geheimnis eines Mannes ist das Leben
jenes anderen Mannes, der ihn in die Welt gebracht hat." (S. 90)
"Dass einen jemand irgendwo erwartet, ist der einzige Sinn des Lebens und das
einzige Ziel." (S. 250)
"Über den Schmerz, die Leere, den Mangel
an Sinnhaftigkeit wird man gleichgültig." (S. 315)
"In der Vergangenheit gibt es
keine Entfremdung." (S. 28)
"Wenn wir ein Foto von Jesus Christus hätten, würden
wir wieder an die
Auferstehung der Toten glauben." (S. 128)
"Das eigene Leben für jemanden zu opfern ist in keinem Kodex der Natur
vorgesehen." (S. 215)
Gesellschaftlich:
"Wenn
ich alle Küchen dieser Welt streichle, streichle ich Millionen versklavter
Frauen, deren Namen ausgelöscht wurden und jetzt Musik sind." (S. 234)
"Das Geld ist die Sprache Gottes." (S. 79)
"Mögen diese Lackaffen, die behaupten, dass Geld nicht glücklich mache,
vom Elend heimgesucht werden." (S. 253)
"Die lebenslangen Ehen
sind vielleicht eine Erfindung des kirchlichen Kapitalismus." (S. 359)
"Wir beide sind Opfer Spaniens und der Sehnsucht nach Wohlstand; materieller
Wohlstand oder intellektueller Wohlstand, das ist dasselbe." (S. 334)
Und
über Spanien:
"Der große Feind Gottes in Spanien war nicht
die Kommunistische Partei, sondern die katholische Kirche." (S. 196)
"Madrid ist wie das Herz einer Bestie." (S.
37)
"Wenn alle anderen Spanier tot sind, wird der letzte Spanier glücklich
sein." (S. 212)
"Die Gewichtigkeit Spaniens misst sich an zwei Fußballclubs."
(S. 73)
"Die beiden Gespenster gehen weiter, eingedenk der vermeintlichen
Ordnung der spanischen Demokratie, die nicht hilft, in Frieden zu sterben."
(S. 46; bei den Hand in Hand einherschreitenden Spukgestalten handelt es sich um Königin Letizia
und Juan
Goytisolo, Ritter von der traurigen Nase, anlässlich der Vergabe des Premio
Cervantes 2015)
In solchen gewagten, meist mit dem Duktus der Letztgültigkeit daherkommenden Sätzen gipfelnd, im übrigen assoziativ zwischen Erinnerung, Empfindung und Reflexion pendelnd und solcherart stark lyrisch geprägt präsentiert sich die Sprache des Romans - den nicht unstimmig elf Gedichte beschließen.
Als
weiterer wichtiger Antrieb für das Buch neben der späten Trauer um die
Verstorbenen, um das, was sie waren und was nicht, diente dem Autor wohl die
Funktion von Schmerz und Leid als Mittel zur Bewusstseinserweiterung. Diese Durchdringung der
Beschreibung von geistig-gesellschaftlicher Misere und zärtlicher Apotheose wird zu dem
besonderen Romanerfolg erheblich beigetragen haben, viele Leser werden in dem Text
vermutlich etwas von sich
und ihren Ahnen wiederentdeckt, durch diese Art der Beschreibung gewissermaßen
erlöst (oder weniger katholisch: gereinigt) und sich selbst zu einem sensibleren Leben angeregt gefühlt haben.
Im 157. Kapitel begibt sich Manuel Vilas schließlich in den Herbst 1961,
feiert nach aller Morbidität und Obsession und trotz allem Nihilismus und
Materialismus die Nacht seiner eigenen Zeugung (wenn auch begreiflicherweise nicht ganz
so orgiastisch wie Harry Mulisch in
"Die Prozedur")
und somit doch ein Fest des Lebens.
(fritz; 08/2020)
Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa"
(Originaltitel "Ordesa")
Übersetzt von Astrid Roth.
Berlin Verlag, 2020. 416 Seiten.
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Leseprobe:
"(...)
2
Nach meiner Scheidung (sie war vor einem Jahr, sie wird
zwar offiziell und durch richterlichen Beschluss an einem konkreten Datum
festgemacht, aber eigentlich ist sie eine unbestimmte Zeit, ein Prozess; auf
jeden Fall geht es dabei um mehr als nur ein bedeutsames Datum: Es geht um das
erste Mal, dass man daran denkt, das zweite Mal, die Häufung der Male, die man
daran denkt, die Zunahme von Vorfällen voller Meinungsverschiedenheiten und
Streit und Traurigkeit, die das stützen, was man denkt, und schließlich geht es
um den Auszug aus der Wohnung, und dieser Auszug beschleunigt unter Umständen
eine Vielzahl von Ereignissen, die zu einem Gerichtsentscheid führen, der aus
juristischer Sicht das Ende zu bedeuten scheint; die juristische Sicht gibt Halt
am Abgrund, sie ist wie eine Wissenschaft, insofern wir einer Wissenschaft
bedürfen, die ordnet und versichert) wurde ich zu dem Mann, der ich bereits
viele Jahre zuvor gewesen war, das heißt, ich musste einen Wischmopp und einen
Besen kaufen und Putzmittel, viele Putzmittel.
Der Hausmeister des Mehrfamilienhauses stand in der Tür.
Wir unterhielten uns ein wenig. Es ging um ein Fußballspiel. Auch ich denke an
das Leben der anderen. Der Hausmeister sieht orientalisch aus, aber er stammt
aus Ecuador. Er ist schon lange in Spanien, er erinnert sich nicht an Ecuador.
Ich weiß, dass er mich eigentlich um meine Wohnung beneidet. So schlecht es
einem auch im Leben gehen mag, es gibt immer jemanden, der einen beneidet. Das
ist eine Art kosmischer Sarkasmus.
Mein Sohn half mir, die Wohnung zu putzen. Es hatte sich
eine Menge Papierkram angehäuft, alles war voller Staub. Man kennt das, man
nimmt ein Kuvert in die Hand und bemerkt auf den Fingerkuppen dieses unangenehme
Gefühl von Staub, fast wie von Erde.
Es fanden sich vergilbte alte Liebesbriefe,
jugendlich-unschuldige, zärtliche Briefe, die Briefe der Mutter meines Sohnes,
die meine Frau gewesen war. Ich sagte zu meinem Sohn, er solle sie in die Kiste
mit den Andenken legen. Wir legten auch die Fotos meines Vaters dort hinein,
ebenso ein Portemonnaie meiner Mutter. Eine Art Friedhof der Erinnerung. Ich
wollte und ich konnte den Blick nicht von diesen Dingen abwenden. Ich berührte
sie voller Liebe und voller Schmerz.
Du weißt nicht, was du mit alldem machen sollst, oder?,
fragte mich mein Sohn.
Es gibt auch noch anderes, Rechnungen und vielleicht
Wichtiges wie Versicherungsunterlagen und Briefe von der Bank, sagte ich.
Die Banken verstopfen einem den Briefkasten mit
frustrierenden Briefen. Jede Menge Kontoauszüge. Briefe von der Bank machen mich
nervös. Sie sagen einem, wer man ist. Sie veranlassen einen, über die eigene
Bedeutungslosigkeit in der Welt nachzudenken.
Ich sah mir die Kontoauszüge an.
Warum stellst du die Klimaanlage so hoch?, fragte er
mich.
Die Hitze macht mir Angst, mein Vater hatte das auch.
Erinnerst du dich an deinen Großvater?
Das ist eine unangenehme Frage, weil mein Sohn denkt,
dass ich mit solchen Fragen versuche, Punkte bei ihm zu machen, um besser von
ihm behandelt zu werden.
Mein Sohn ist lösungsorientiert und packt mit an. Er hat
mir sehr geholfen, meine Wohnung in Ordnung zu bringen.
Plötzlich schien mir meine Wohnung nicht das Geld wert zu
sein, das ich für sie bezahle. Ich vermute, diese Gewissheit sagt am meisten
über die Reife des menschlichen Verstandes unter dem Joch des Kapitalismus aus.
Aber dank des Kapitalismus habe ich eine Wohnung.
Ich dachte wie immer an den wirtschaftlichen Ruin. Das
Leben eines Menschen ist im Wesentlichen der Versuch, sich nicht wirtschaftlich
zu ruinieren. Egal, womit er sein Geld verdient, das wäre das große Scheitern.
Wenn man seine Kinder nicht ernähren kann, verliert man in unserer Gesellschaft
jede Existenzberechtigung.
Niemand weiß, ob ein Leben ohne die anderen möglich ist.
Einzig und allein das Ansehen bei den anderen versichert einen der eigenen
Existenz. Das Ansehen macht eine Stimmung offenbar, es ist der Gradmesser, wie
man bewertet und beurteilt wird, und aus diesem Urteil ergibt sich die eigene
Position in der Welt. Es ist ein Kampf zwischen einem Körper, dem eigenen,
lebendigen Körper, und dem Wert des eigenen Körpers für die anderen. Wenn die
Leute einen begehren, die eigene Anwesenheit begehren, wird es einem gut gehen.
Der Tod jedoch
'dieser verrückte Psychopath' hebt durch
den Verfall des Fleisches, der sich über den Tod hinaus fortsetzt, sämtliche
gesellschaftlichen und moralischen Werte auf. Es wird viel über den politischen
und moralischen Werteverfall gesprochen und sehr wenig über den körperlichen
Verfall, der nach dem Tod eintritt: die Entzündung, die Explosion von
ekelerregenden Gasen und die Verwandlung des Leichnams in Gestank.
Mein Vater sprach sehr wenig über seine Mutter. Er
erinnerte sich lediglich daran, wie gut sie kochte. Meine Großmutter verließ
Barbastro Ende der Sechzigerjahre und kehrte nie wieder zurück. Das muss 1969
gewesen sein. Ihre Tochter nahm sie mit.
Ich wurde in Barbastro geboren und wuchs dort auf. Als
ich geboren wurde, lebten zehntausend Menschen in dem Städtchen. Jetzt sind es
siebzehntausend. Allein das zeigt das Potenzial des Ortes hinsichtlich einer
kosmischen und persönlichen Bestimmung.
In der Antike wurde dieser Wunsch, das Ungestaltete in
Gestalt zu verwandeln, 'Allegorie' genannt. Weil sich für fast alle Menschen die
Vergangenheit wie eine Romanfigur verdichtet.
Ich erinnere mich an ein
Foto meines Vaters aus den Fünfzigerjahren, auf dem er in seinem Seat 600 zu
sehen ist. Man kann ihn kaum erkennen, aber er ist es. Es ist ein seltsames
Foto, typisch für diese Zeit, mit wie neuen Straßen. Im Hintergrund stehen ein
Renault Ondine und eine Gruppe Frauen von hinten, mit Handtaschen, Frauen, die
inzwischen wohl tot oder sehr alt sind. Ich kann den Kopf meines Vaters in dem
Seat 600 mit einem Kennzeichen aus Barcelona ausmachen. Er hat nie erzählt, dass
sein erster Seat 600 ein Kennzeichen
aus Barcelona hatte. Auf dem Foto ist es
weder Sommer noch Winter. Gemäß der Kleidung der Frauen könnte es Ende September
oder Anfang Mai sein.
Über den Verlust all der Dinge, die es einmal gab, ist
fast alles gesagt. Erzählen möchte ich allerdings davon, wie fasziniert ich von
diesem Auto war, von diesem Seat 600, der für Millionen Spanier Anlass zur
Freude war, der Anlass zu gottloser und materieller Hoffnung war, der Anlass
war, an die Zukunft der eigenen Autos zu glauben, der Anlass zum Reisen war, der
Anlass war, andere Orte und andere Städte kennenzulernen, der Anlass war, über
das Labyrinthische der Geografie und der Wege nachzudenken, der Anlass war, an
Flüsse und Strände zu fahren, der Anlass war, sich in einer Kammer
einzuschließen, die einen von der Welt trennte.
Das Kennzeichen weist auf Barcelona hin, die Nummer ist
eine vergessene Zahl: 186 025. Etwas wird irgendwo von diesem Kennzeichen
bleiben, und daran zu denken ist, wie zu glauben.
An Format sollte es uns niemals fehlen. Mein Vater machte
für Spanien, was er konnte: Er fand Arbeit, arbeitete, gründete eine
Familie und
starb.
Es gibt wenige Alternativen dazu.
Die Familie ist eine Form bestätigten Glücks. Menschen,
die sich entscheiden, alleine zu bleiben, sterben früher, so die Statistik.
Niemand möchte früher sterben. Weil zu sterben nicht lustig ist, es hat auch
etwas Altertümliches. Todessehnsucht ist ein Anachronismus. Und das haben wir
erst kürzlich herausgefunden. Eine der neuesten Entdeckungen der westlichen
Kultur ist: Es ist besser, nicht zu sterben.
Komme, was wolle, lieber nicht sterben, vor allem aus
einem ganz einfachen Grund nicht: Es ist nicht erforderlich. Es ist nicht
erforderlich zu sterben. Früher dachte man das, man dachte, es wäre erforderlich
zu sterben.
Früher war das Leben weniger wert. Jetzt ist es mehr
wert. Die heutigen Reichen, der materielle Überfluss führen dazu, dass das
einstmalige Lumpenproletariat (jene, denen es vor Jahrzehnten egal war, ob sie
lebten oder starben) das Leben liebt.
Die spanische Mittelschicht der Fünfziger- und
Sechzigerjahre vererbte ihren Sprösslingen hochtrabende Ideen.
Ich weiß noch nicht einmal, in welchem Jahr meine
Großmutter starb. Vielleicht war es 1992 oder 1993, oder 1999 oder 2001 oder
1996 oder 2000, so ungefähr. Meine Tante rief an, um uns über den Tod der Mutter
meines Vaters zu informieren. Mein Vater sprach nicht mit seiner Schwester. Sie
hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich hörte die Nachricht ab.
Sie sagte, sie würden sich zwar nicht gut verstehen, hätten aber dieselbe
Mutter. Sie meinte: Weil sie dieselbe Mutter hätten, wäre das ein Grund,
aufeinander zuzugehen. Ich hielt nachdenklich inne, als ich die Nachricht
abgehört hatte; in die Wohnung meiner Eltern drang immer derart viel Licht, dass
die Tatsachen ihre Konturen verloren, das Licht ist machtvoller als das
menschliche Tun.
Mein Vater setzte sich in seinen Sessel. Einen gelben
Sessel. Er würde nicht zu der Beerdigung fahren, das stand für ihn fest. Sie war
in einer weit entfernten Stadt gestorben, an die fünfhundert Kilometer von
Barbastro entfernt, an die fünfhundert Kilometer von dort entfernt, wo mein
Vater in diesem Moment die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhalten hatte. Er
fuhr einfach nicht. Er hatte keine Lust zu fahren. So weit Auto zu fahren. Oder
stundenlang in einem Bus zu sitzen. Und sich diesen Bus raussuchen zu müssen.
Dieser Umstand hatte einen Sturzbach anderer Umstände zur
Folge. Ich will nicht bewerten, was passierte, sondern es erzählen oder es sagen
oder es feiern. Die Moral der Umstände ist immer ein Konstrukt der Kultur. Die
Umstände an sich sind unbestreitbar. Die Umstände sind, wie sie sind, ihre
Interpretation ist politisch.
Mein Vater fuhr nicht zur Beerdigung meiner Großmutter.
Welche Beziehung hatte er zu seiner Mutter? Er hatte gar keine Beziehung zu ihr.
Natürlich hatten sie zu Anfang eine, klar, so um 1935 oder 1940, keine Ahnung,
aber diese Beziehung löste sich nach und nach in Luft auf, verschwand. Ich
finde, mein Vater hätte zu dieser Beerdigung fahren müssen. Nicht wegen seiner
toten Mutter, sondern um seinetwegen und auch um meinetwegen. Indem er dieser
Beerdigung fernblieb, blieb er dem Leben insgesamt fern.
Das Rätselhafte daran ist, dass mein Vater seine Mutter
liebte. Er fuhr nicht zu ihrer Beerdigung, weil er unbewusst den toten Körper
der Mutter ablehnte, während sein bewusstes Ich unüberwindbar träge war.
In meinem Kopf vermischen sich tausend Geschichten, die
mit der Armut zu tun haben und damit, wie die Armut einen mit ihrem Traum vom
Reichtum vergiftet. Oder wie die Armut einen lähmt, dazu führt, dass man keine
Lust hat, ins Auto zu steigen und fünfhundert Kilometer zu fahren.
Der Kapitalismus ist in Spanien im Jahr 2008
zusammengebrochen, wir verloren uns, wir wussten nicht mehr, wonach wir streben
sollten. Mit dem Einsetzen der
wirtschaftlichen Rezession begann eine politische
Komödie.
Fast waren wir auf die Toten neidisch.
Mein Vater wurde in einem Dieselofen verbrannt. Er hatte
niemals einen Wunsch geäußert, was wir mit seinem Leichnam machen sollten. Wir
beschränkten uns darauf, uns des Toten zu entledigen (des Körpers, dessen, was
er gewesen war und von dem wir jetzt nicht mehr wussten, was er war), wie alle
es machten. Wie man es mit mir machen wird. Wenn jemand stirbt, sind wir davon
besessen, den Leichnam schnellstmöglich zu beseitigen. Den Körper auszulöschen.
Aber warum diese Eile? Wegen der Verwesung? Nein, es gibt heute ja sehr gute
Kühlschränke in den Leichenhäusern. Eine Leiche macht uns Angst. Die Zukunft
macht uns Angst, uns macht das, in was wir uns verwandeln, Angst. Es erschüttert
uns, an die Verbindung zu denken, die wir zu diesem Leichnam hatten. Es
erschrecken uns die Gedanken an die Tage, die wir an der Seite des Leichnams
verbracht haben, die Vielzahl von Dingen, die wir mit diesem Leichnam
unternommen haben: ans Meer zu fahren, mit ihm zu Mittag zu essen, mit ihm zu
reisen, mit ihm zu Abend zu essen oder sogar mit ihm zu schlafen.
Das einzige wirkliche Problem am Ende des Lebens der
Menschen ist die Beseitigung des Leichnams. In Spanien gibt es zwei
Möglichkeiten: die Erdbestattung oder die Feuerbestattung, also sich in Erde
oder in Asche zu verwandeln.
Mein Vater wurde am 19. Dezember 2005 verbrannt. Heute
bedaure ich das, es war wahrscheinlich eine vorschnelle Entscheidung. Dass wir
ihn verbrannt haben, hatte andererseits mit dem Umstand zu tun, dass mein Vater
nicht bei der Beerdigung seiner Mutter war, das heißt meiner Großmutter. Was ist
wichtiger, auf meine Verwandtschaft hinzuweisen und 'meine Großmutter' zu sagen
oder auf die meines Vaters und 'seine Mutter' zu sagen? Ich weiß nicht, für
welche Perspektive ich mich entscheiden soll. Meine Großmutter oder seine
Mutter, wie ich mich entscheide, sagt alles. Mein Vater war nicht bei der
Beerdigung meiner Großmutter, und das hatte etwas damit zu tun, was wir mit dem
Leichnam meines Vaters machten; es hatte etwas damit zu tun, dass wir uns
entschieden, ihn verbrennen, einäschern zu lassen. Es hat nicht mit Liebe zu
tun, sondern mit einem Sturzbach von Umständen. Umständen, die weitere Umstände
auslösen: der Sturzbach des Lebens, Wasser, das beständig fließt, während wir
wahnsinnig werden.
Mir wird in diesem Moment auch bewusst, dass in meinem
Leben nichts Schlimmes passiert ist, und trotzdem trage ich tiefes Leid in mir.
Der Schmerz hindert mich keineswegs daran, Freude zu empfinden; für mich ist
Schmerz sowieso eher bewusstseinserweiternd. Leid ist erweitertes Bewusstsein,
das zu allem, was gewesen ist und sein wird, vordringt. Es ist eine Art
verborgener Freundlichkeit zu allen Dingen. Ein Wohlwollen hinsichtlich allem,
was war. Und aus Freundlichkeit und Wohlwollen erwächst immer Anmut.
Es ist eine Art allgemeines Bewusstsein. Leiden ist eine
ausgestreckte Hand. Es ist Freundlichkeit den anderen gegenüber. Wir lächeln,
doch innerlich brechen wir zusammen. Wenn wir lieber lächeln, anstatt tot auf
der Straße umzufallen, hat das mit Anmut, Sanftheit, Wohlwollen, Nächstenliebe,
Respekt den anderen gegenüber zu tun.
Ich weiß noch nicht einmal, wie ich die Zeit
strukturieren soll, wie sie definieren. Ich kehre zu diesem Nachmittag im Mai
2015 zurück, den ich in diesem Augenblick erlebe, und ich sehe auf meinem Bett
verstreut eine Vielzahl Medikamente. Es ist alles dabei: Antibiotika,
Antihistaminika, Anxiolytika, Antidepressiva.
Und dennoch feiere ich, am Leben zu sein, und ich werde
es immer feiern. Der Tod meines Vaters wird in immer weitere Ferne rücken, oft
habe ich bereits Schwierigkeiten, mich an ihn zu erinnern. Trotzdem macht mich
das nicht traurig. Dass mein Vater der vollkommenen Auflösung entgegengeht,
während ich, abgesehen von meinem Bruder, der Einzige bin, der sich an ihn
erinnert, scheint mir von ausgesprochener Schönheit.
Meine Mutter starb vor einem Jahr. Als sie noch lebte,
wollte ich manchmal über meinen Vater sprechen, aber sie wollte nicht. Auch mit
meinem Bruder kann ich nicht groß über meinen Vater sprechen. Das ist kein
Vorwurf, mitnichten. Ich verstehe, dass das unangenehm ist, und in gewisser
Weise die Scham. Weil das Reden über einen Toten in einigen traditionellen
Kulturen, oder zumindest in jener, mit der ich aufgewachsen bin, eine
ausgesprochene Schamlosigkeit voraussetzt.
Also blieb ich alleine mit meinem Vater. Und ich bin der
einzige Mensch auf dieser Welt - ich weiß nicht, ob mein Bruder das macht -, der
sich tagtäglich an ihn erinnert. Und sich tagtäglich seine gänzliche Auflösung
vergegenwärtigt. Eigentlich erinnere ich mich nicht tagtäglich an ihn, er ist in
mir, ich habe mich von mir selbst zurückgezogen, um ihm Unterschlupf zu
gewähren.
Es ist, als hätte mein Vater nicht für mich am Leben sein
wollen, ich will damit sagen, dass er mir sein Leben nicht offenbaren wollte,
den Sinn seines Lebens: Kein Vater will für den eigenen Sohn ein Mensch sein.
Meine gesamte Vergangenheit versank, als meine Mutter dasselbe wie mein Vater
machte: Sie starb. (...)"