Robert Walser: "Der Spaziergang"
Werke Band 14
Ein Schwellentext modernen
Erzählens und ein vorzüglicher obendrein
"Geist, Hingabe und Treue
beseligen ihn und heben ihn hoch über seine eigene unscheinbare
Spaziergängerperson hinaus, die nur zu oft im Geruch und schlechten Rufe des
Vagabundierens und unnützen Herumstreichens steht. Seine mannigfaltigen Studien
bereichern und belustigen, besänftigen und veredeln ihn und streifen mitunter,
so unwahrscheinlich das auch klingen mag, hart an exakte Wissenschaft, die dem
scheinbar leichtfertigen Bummler niemand zutraut. Wissen Sie, daß ich hartnäckig
und zäh im Kopf arbeite und oft im besten Sinn tätig bin, wo es den Anschein
hat, als ob ich ein gedankenlos und arbeitslos im Blauen oder im Grünen mich
verlierender, saumseliger, träumerischer und träger, schlechtesten Eindruck
machender Erztagedieb und leichtfertiger Mensch ohne Verantwortung sei?" (S.
44/45)
Einen "Schwellentext des modernen
Erzählens", wie es in dem Nachwort ganz zurecht heißt, präsentiert der
Suhrkamp Verlag als Band 14 der gesammelten Werke Robert Walsers. Ursprünglich
wurde die Novelle "Der Spaziergang" als Auftragswerk in einem Sammelband
Schweizer Erzähler im Jahre 1917 veröffentlicht, freilich dachte Walser von der
vorgegebenen Länge abgesehen gar nicht daran, eine Novelle im klassischen Sinn
beizusteuern, viel eher ist zu vermuten, dass der Auftrag unbeabsichtigt
anspornend das seine zu der Modernität des Textes beigetragen hat.
Mit dem ersten Satz verlässt der
Erzähler sein "Schreib- oder Geisterzimmer", während der nächsten drei durcheilt
er das Stiegenhaus, die übrigen sehen wir ihn auf, berichtet er von,
seinem ausgedehnten, abwechslungsreichen Spaziergang durch eine Schweizer
Kleinstadt; am Ende ist es dunkel geworden und Zeit für die Rückkehr nachhaus.
Dazwischen liegen gute fünfzig Seiten Spaziergang und modernes Erzählen,
angefangen mit dem, was im Nachwort als Überblendung von Erzählzeit und
erzählter Zeit bezeichnet wird, dass nämlich der Erzähler einmal als unmittelbar
Handelnder oder Erfahrender (bisweilen sogar im Präsens), dann wieder und
vornehmlich als im Nachhinein (und im Imperfekt) Erzählender, bei dem es sich
übrigens um einen professionellen, obschon wenig erfolgreichen Schriftsteller
handelt, in Erscheinung tritt.
Überhaupt gestaltet sich die
Geschichte recht sprunghaft: wie spontan wird dem Leser in Aussicht gestellt und
gleich wieder zurückgenommen, ein wenig vorgegriffen oder ins Konjunktivische
verfallen oder mit kleinen Einschüben wie längerer direkter Rede und Reflexion
versehen, kurzum, beständig gegen die konventionelle Ewartungshaltung (erst
recht des Lesers von dazumal) erzählt. Weitgehend konventionell ist hingegen das
chronologische Vorgehen von Vormittag bis Abend, geradezu überkonventionell die
Zierlichkeit der verwendeten Sprache, einer Sprache voller Adjektive und
Adverben und Hilfszeitwörter und einer wahren Orgie an Höflichkeitsfloskeln.
Zierlichkeit und Höflichkeit
entsprechen freilich der Grundstimmung, denn gleich zu Beginn heißt es, dass
sich der auf die Straße Tretende in einer romantisch-abenteuerlichen, tief
beglückenden Gemütsverfassung befand. Diese Grundstimmung prägt die Novelle bis
fast zum Ende, indem sie auch auf die anderen Personen, die der Erzähler im Zuge
seines Spaziergangs trifft oder aufsucht, eine ehemalige Schauspielerin, eine
angehende Sängerin, einen Buchhändler, die gute Frau Aepi, bei welcher er zum
Mittagessen geladen ist, einen Schneidermeister, einen Bankbeamten und Andere
(erstaunlich viel hat da Platz), gleichsam abfärbt, und sie sich einer ähnlich
manierlichen Sprache befleißigen lässt, alles dies allerdings, ohne dabei ihre
eigenen Anliegen, Sichtweisen und Empfindungen zu verheimlichen. Dass unter
ähnlichen Umständen üblicherweise meist ganz andere Worte und Urteile fallen,
ist offenkundig und sorgt den ganzen Text über für einen doppelten Boden und
mitschwingende Ironie, welche sich jedoch nur ganz selten unverhohlen äußert wie
etwa in einem Anschlag, in welchem sogenannte bessere Herren für Kostgängerei
gesucht werden, wo es unter anderem heißt:
"Ein besserer Herr ist nach unserer Meinung nur
der, der sich ziemlich viel eitles und albernes Zeug einbildet und der sich vor
allen Dingen einzubilden vermag, daß seine Nase besser ist als irgend eines
beliebigen andern guten und vernünftigen Menschen Nase. Das Betragen eines
bessern Herrn spricht diese eigentümliche Voraussetzung deutlich aus, und
hierauf verlassen wir uns. Wer nur gut, grad und ehrlich ist und weiter keinen
andern bedeutsamen Vorzug aufweist, der bleibe uns bitte fern; denn er scheint
uns kein feinerer und besserer Herr zu sein." (S. 61)
Nur zweimal verzichtet der Text
ganz auf Ironie - bei
der Beschreibung eines mystischen Erlebnisses und ganz zum Schluss, wenn der
doppelte Boden ... doch man lese selbst.
Was sonst noch zu "Der
Spaziergang" erwähnt werden muss: die Kleinstadt ist in weiten Teilen, wenn auch
mit fantastischen, die innere Erzählwirklichkeit widerspiegelnden Elementen, an
die Heimatstadt Robert Walsers, Biel, angelehnt, in welcher der Autor den
Lebensabschnitt von 1913 bis 1921 verbracht, ihre Eigentümlichkeiten und
Veränderungen genau registriert und dabei an ihrer Beschränktheit gewiss das
eine und andere Mal gelitten hat.
Der
große Krieg, der zur Zeit der Niederschrift rund um das kleine Land im Gange
war, schlägt sich subtil, anhand in allzu lockerem Gebrauch befindlicher
Vokabel und Metafern in dem Text nieder und trägt das seine zum bedrohlichen
Vibrieren in der oberflächlich heiteren Novelle bei. Was der Erzähler über seine
Rede an die junge Sängerin, welcher er für ihr "schmelzendes Mozart- oder
Hirtinnen-Lied" ein großes Kompliment macht und eine strahlende Künstlerkarriere
voraussagt, anmerkt, dass er nämlich dies alles "mehr nur zu meinem eigenen
Vergnügen redete, als um von der Kleinen gewürdigt und begriffen zu werden"
(S. 31), gilt wohl bis zu einem gewissen Grad ebenso für "Der Spaziergang"
insgesamt, dass Robert Walser diesen nicht zuletzt für sich selbst geschrieben
hat, als originelle Art, die eigene Hypersensibilität in einer dieser
Eigenschaft wenig freundlichen modernen Welt umzusetzen.
Es verwundert nicht, dass andere große Neuerer seiner Zeit wie
Robert Musil
und Franz Kafka
ihren Schweizer Kollegen hoch geschätzt haben.
(fritz; 12/2020)
Robert Walser: "Der Spaziergang"
Mit Abbildungen. Herausgegeben von Lukas Gloor, Reto Sorg und Irmgard Wirtz.
Berner Ausgabe, Suhrkamp, 2020. 125 Seiten.
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