Samstag, 28. Juli 2012

...und stiehlt die Garben weg vom Feld

Auf dem Weg zur Porta Posterola die staubige Via Garibaldi entlang kam ich am Milchladen vorbei, dessen Besitzer eben dabei war sich vor seinem Laden eine Zigarette anzuzünden. Was für ein schönes Bild, dachte ich. Das hätte ich gerne festgehalten.
Aber nicht erst seit ich das Buch von Susan Sontag "Über Fotografie" gelesen habe scheue ich mich, Menschen zu fotografieren. Durch das Ablichten, oder Abschießen - nicht umsonst nennt man das Fotografieren der Paparazzi so - stiehlt man dem Menschen etwas weg, so meine Empfindung. Man fängt etwas von ihm ein, dessen er sich nicht einmal bewusst sein muss. Selbst in exotischen Ländern, oder gerade dort, habe ich es immer vermieden, Menschen abzulichten. Auf meinen Bildern sind so unspektakuläre Motive wie die Pyramiden, ein Kugelfisch oder ein Riesensteinpilz zu sehen. Und das Meer. In allen Farben, zu allen Jahreszeiten. Selten aber, fast nie habe ich Menschen fotografiert. Auch von mir selbst gibt es kaum Fotos. Meist stammen sie von der Bühne, von öffentlichen Auftritten. Mich selbst abzulichten hat etwas eigentümlich narzisstisches. Man rückt sich für einen Augenblick in ein bestimmtes Licht, fängt sich ein, und stiehlt sich doch etwas weg. Vielleicht erklärt das, warum ich mir beim Betrachten dieses Bildes ein wenig verloren vorkomme. Wenn man sein Bild in die Offenheit der Welt - und das hier IST ein öffentlicher Raum - hineinwirft, wirft man nicht immer auch ein Stück von sich selbst mit weg, obwohl man glaubt, sich zu vervielfältigen? So denke ich - und bin vielleicht gerade deshalb nicht.

Zigarette

Mittwoch, 25. Juli 2012

Dein Jakobsweg

Der Tag versprach so schön zu werden: Mit dem amerinischen Freund saß ich in seiner Küche, wir hatten eine Honigmelone zu orangefarbenen Schiffchen aufgeschnitten und aßen dazu vom Parmaschinken. Ich erzählte ihm von der Oper, versuchte ihm das aus meiner Sicht Besondere daran schmackhaft zu machen und wählte als Hörbeispiel Claudia Muzio, wie sie "Cecilia" singt, das saß. Ergriffen lauschte der Freund, und ich plauderte weiter, über Stimmführung in den verschiedenen Epochen, vom Belcanto und was ihn ausmache...
Die Sonne fiel durch die hohen Fenster und durch die offene Tür vom Hof herein, so dass es uns vorkam als säßen wir unter freiem Himmel. Die hohen Wände und der Marmorboden hallten wider vom Klang dieser göttlichen Stimme, und berauscht gingen wir in den Tag: der Freund, welcher danach in die Stadt fuhr und ich, die sich zum Singen bereit machte, als das Handy klingelte.

Ich sah den Namen des Anrufers im Display und wusste sofort was dieser Anruf bedeutete: Keiner unserer gemeinsamen Freunde würde mich ohne Grund hier in Italien anrufen, wenn nicht irgendetwas an deiner Situation sich gravierend verschlechtert hätte. Allerdings, was hätte sich noch verschlechtern können? Vor zwei Tagen kam der Zustandsbericht einer Freundin als Rundmail. Eine Verlegung ins Hospiz sei abgebrochen worden, man hätte dich an einen Tropf gehängt. Ich fühlte mich ohnmächtig, beschloss aber, dass ich jetzt im Urlaub sei und sowieso nichts tun könne. Ich verhielt mich still und schrieb nichts dazu. Aber ich wünschte mir zwei Dinge, die sich ausschlossen: "Warte noch, bis ich zurück bin." und "Ja, geh. Lass los!"

Wir, deine Freunde, die dich gemeinsam pflegten, schreiben uns immer sofort, wenn es aktuelle Veränderungen gibt. Nun also, ich kannte die Aufs und Abs, reagierte mit der Zeit gelassener auf solche Katastrophenmeldungen. Wie viel hast du schon ausgehalten, und wie oft hab ich an deinem Bett gesessen, deine Hand gehalten und geglaubt, du wärest schon auf deinem letzten Weg, um dich dann am nächsten Tag wieder strahlend und aufrecht im Bett sitzend vorzufinden. Nein, du würdest nicht so schnell gehen. Kurz vor meiner Abreise hatten wir noch den Jakobsweg geplant, von dem du so sicher warst ihn noch einmal gehen zu können. Wir alle wussten nie, wie ernst du das meinst, und ob du wirklich noch daran glaubst. Ausgesponnen haben wir diese Reise jedenfalls bis ins kleinste Detail: Flick und Flack, die Packpferde, welche du brauchen würdest, die Farbe der Satteltaschen, und wie die Stulpen der Pferde bestickt sein müssen, damit man kleine Dinge dort hineintun könne. Geld würdest du nicht brauchen, denn diese kleinen Dinge würdest du gegen Essen eintauschen...
Ich mochte diese Verschiebung, dieses Bild, welches du für das Unaussprechliche gewählt hattest. Mit dir in deine Welten einzutauchen, deinen Gedanken zu folgen, die der Tumor in deinem Hirn zu den absurdesten Konstrukten verwirbelte, das lies mich mein gesamtes Denken über Logik über Bord werfen. Es war wunderbar, mit dir zu spinnen! Es gab keinen, nicht einen einzigen Tag, an welchem du mich nicht zum Lachen, zum Wundern oder zum Staunen gebracht hättest mit deiner unendlichen Phantasie und deinem Glauben an das Schöne im Leben, an das Gute im Menschen. Und wer, wenn nicht du, hätte zweifeln dürfen...
Du warst mein Leuchtstern am Seelenhimmel während dieser ganzen letzten Zeit, und nie, niemals musste irgendwer dich trösten. Das ist das Wunderbare an dieser ganzen Geschichte: dass du uns, deinen Freunden, so viel Liebe, Kraft und Lachen geschenkt hast, während dein Körper an Schläuche angeschlossen und mit Medikamenten zugeschüttet langsam im Bett zerfiel. Dass wir, die wir teilweise einander nicht einmal kannten, durch dich zu Freunden geworden sind. Das wird bleiben.

Nun also der Anruf.
Es ist seltsam. So oft hab ich versucht, mir vorzustellen wie es sein wird wenn du stirbst. Wie sich das anfühlt: Der Tod. Und dann kommt er in zwei Sätzen durch ein Handy...
"Weine doch nicht!" hast du einmal zu mir gesagt, kannst du dich noch erinnern? Als mir einmal die Tränen kamen während wir das Vorspiel vom "Lohengrin" im Radio hörten und ich deine Hand hielt, die immer dünner und kraftloser wurde. "Wir haben doch soviel Schönes! Wir haben uns!"
Ich muss dir für so vieles Danke sagen.

Übrigens, du hast doch vor ein paar Wochen den Pfeil haben wollen, den ich beim Bogenschießen in der Mitte gespalten hatte, und ich ließ ihn dir, weil es dich so sehr freute, ihn anzuschauen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich dir sagte ich wolle ihn aber unbedingt wiederhaben, denn das sei etwas ganz Großes: den Pfeil des vorherigen Schützen, welcher bereits ins Schwarze getroffen, noch gespalten zu haben! Weißt du was? Behalt ihn. Wie klein käme ich mir jetzt vor, ihn wieder zurückhaben zu wollen. Und was ist schon groß. Der Tod ist groß.
Aber noch größer ist was du aus ihm gemacht hast.


P.S. Eben kam eine Nachricht von deinem Freund aus Spanien.
DER 25. JULI IST DER NAMENSTAG UND GROSSE FESTTAG DES SANTIAGO, DES HEILIGEN JAKOBS. ES IST DER HEUTIGE TAG, AN DEM SEIN ANDENKEN GEFEIERT WIRD. ES IST DER WICHTIGSTE UND SPIRITUELLSTE TAG FÜR SANTIAGO DE COMPOSTELA UND:
FÜR ALLE JAKOBSWEGPILGER!!!


Ich wusste, du wirst ihn gehen, deinen Jakobsweg. Gute Reise, mein Freund.


Dienstag, 24. Juli 2012

Am Anfang ist kein Wort

"Als ich hinunterstieg zum Rio Grande,
war da noch immer dieser Käse in meinem Kopf.
Dieser verdammt harte Käse. Wie ein Nagetier hatte ich meine Vorderzähne in einen besonders alten Schafskäse geschlagen und mir mühsam kleine Käsekrumen abnagt"

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber irgendwann bei Käse und Wein sprachen wir über das Schreiben, der amerinische Freund und ich.

Ich schreibe ja nicht mehr, seit ich aufgehört habe. Ich würde gerne wieder anfangen. Aber all die nichtgeschriebenen Worte eines ganzen Jahres plus das Jahr selbst, also die Zeit, die vergangen ist, ergeben eine Last die mich niederdrückt sobald ich nur ans Anfangen denke.
"Schreib doch über den Käse!" sagte der Freund. "und wie mühsam es ist, ein Stückchen davon abzubeißen. Nur ein paar Worte."

Worte. Wie alte, vertrocknete Brezeln stecken sie mir zwischen den Rippen. Gleich neben den Brezeln liegt übrigens ein mumizfizierter Fisch, der einmal mein Herz gewesen ist.

Als ich später vom Berg hinuntersah auf den Fluss, glaubte ich plötzlich am Ufer ein gelbes Eierschwammerl zu sehen. Mit einem Mal drehte sich der Fisch in meiner Brust auf die andere Seite und seufzte tief auf. Ich hab mich vielleicht erschrocken! (Immerhin war er tot.)

Es ist Abend geworden, und ich nage weiter an meinem Käse. Diesmal an einer weicheren Stelle.

Soll das jetzt ein Anfang sein?
Nagen und Denken. Die sind schon miteinander verwandt.

Sonntag, 8. Januar 2012

Angekommen

Ich bin angekommen, würde ich sagen wollen. Angekommen in meiner neuen Stadt, in meinem neuen Leben, welches so anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Wien hat ja nicht auf mich gewartet, sondern ich hab auf Wien gewartet. Bis ich es nicht länger aushielt in meiner alten Stadt, so lange habe ich auf Wien gewartet. Eines Nachts ist Wien dann zu mir gekommen, im Traum. Pack deine Sachen, hat es gesagt. Mach einfach! Mir war das unheimlich. Geradezu absurd war das Gefühl, morgens bei bei meinem Chef anzurufen und ihm zu sagen, dass ich seine Stadt, sein Theater und sein Ensemble verlassen werde. Für die Liebe, sagte ich. Das verstand er. Dieses Argument verstehen wahrscheinlich alle Menschen überall auf der Welt.
Dann ging eigentlich alles sehr schnell, weil immer alles sehr schnell geht, was ich wirklich will.
Als ich in Wien ankam, war die Liebe nicht mehr da. Sie war weitergezogen, zu einer anderen Frau, oder zu mehreren. Was weiß ich. Eigentlich spielt das auch keine Rolle mehr. Sie hat mich nach Wien gerufen, und bevor sie sich verzogen hatte, waren Wien und die Liebe eigentlich ein- und dasselbe gewesen. Ein Mischgefühl aus Abenteuer, Literatur, Architektur und Erotik. Es gibt bestimmte Plätze in Wien, die ich jetzt meide, weil an ihnen ein Kuss oder ein bestimmter Satz klebt, den die Liebe dort hat liegen lassen. Glücklicherweise sind es nur wenige, sonst hätte ich mir überlegen müssen die Stadt wieder zu verlassen, da es unmöglich gewesen wäre, Liebesleerstellen zu finden.

Jetzt ist es Winter. Die Stadt und ich, wir haben uns miteinander vertraut gemacht. Sie hat mir Menschen gegeben, die zu mir passen. Sie hat mir ein Weihnachtszuhause und eine Weihnachtsfamilie geschenkt. Im Gegenzug gebe ich ihr alles, was ich habe. Meine Begabungen, Talente, meine Zeit und meine Arbeit. Viel Neues entsteht. Ich bin meinem Traum von einem selbstbestimmten, kreativen Leben nicht nur ein Stück näher gekommen. Ich bin mitten drin.

Sonntag, 21. August 2011

Stakkato

Arbeit.
Arbeit.
.
.
Wunsch:
Aussteigen,
Veränderung,
Weggehen.
Stark.
Plötzlich:
Drei freie Tage.
Verwunderung.
Ich registriere:
Unermessliche Weite.
Reflexhafte Möglichkeiten.
Der Neokortex als Schnellkochtopf.
Eine Wespe fliegt durchs Zimmer.
Dann: Die Festsetzung.
Klick.
AB8762
Wien
Mitnehmen:
Schuhe
Konzertkleid
Noten
Lockenwickler
Dann: die Aussetzung.
Bitte nicht Anschnallen.
Während des Fluges
Ausstieg links.
Ich registriere:
F41.0
Im freien Fall
Flügelwuchs.
.
.
Leben.
Leben!

Sonntag, 31. Juli 2011

Schreiben. Eine Erregung. Kapitel 1-6

1.

Was stöhnt sie denn?"
"Sei still, sie weint."

So wie sich das Wasser überlaufend an die Ränder drängt, so sammeln sich Wörter, verdichten sich, wollen hinaus und geschrieben werden. Aber warum, und zu welchem Zweck? Wen drängt es, dieses Geweinte zu lesen? Wer will teilhaben an ihm? Und - darf man diese Frage stellen, als Schreibender? Hat sie je einer gestellt, den es drängte, der schreiben musste?
So fragt sich einer, der es doch wissen müsste. Den das Schreiben selbst am Leben erhält, dem es Balsam und Gift zugleich ist.

"Schreib!" hatte er gesagt. " Wenn du nicht schreibst, wird es dich umbringen. Aber es bringt dich auch um wenn du schreibst. So oder so. Du kannst nirgendwo hin. Je früher du beginnst, desto besser."

Das war vorgestern.

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2.
"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heißt ein
Altes Liedchen - "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht!"...

Sie trennte dem Fisch den Kopf ab, und als wäre das nicht genug, stach sie ihm langsam mit einem spitzen Messer auch noch die Augen aus. Damit er sein eigenes Leid nicht mit ansehen muss, sagte sie. Ich trug zwei Teller zum Tisch, während sie den Fisch in der Pfanne wendete. Das war mittags.

So, wie man ein Kind mit sich herumträgt, neun Monate im Leib. So trage sie ihre Geschichte mit sich herum, hatte sie gesagt. Doch die Angst hielte sie davon ab, zu schreiben. Die Angst, dass sich alles Bahn brechen würde. Dass sie den Lauf der Dinge nicht würde voraussehen können. Dass die Geschichte sich dann selbst schriebe, sie wieder einholen würde. Und mit ihr alle Anderen, die darin vorkämen.

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3.

"Auch meinen Schlüssel nahmen sie hinweg,
die Himmlischen,
und warfen ihn ins Meer."


Heute klingt ihre Stimme ein wenig freier. Sie hätte angefangen, sagt sie. Mitten in der Nacht sei sie aufgewacht und hätte zu sich selbst gesagt : Jetzt ist es soweit!
Sie sei aufgestanden, langsam, sei ins Nebenzimmer gegangen, um sich ein Blatt Papier zu holen und den gelben Bleistift. Er hätte schon ewig dagelegen, mehrere Zeiten lang. Jetzt nahm sie ihn auf, prüfte seine Spitze, die sie sich in den Finger drückte, und roch an dem lackierten Holz. Ein Geruch, der sie noch immer an die ersten Tage ihrer Schulzeit erinnerte. Ganz ruhig sei sie auf einmal gewesen. Ihre nackten Füße auf dem Holzfußboden, die kühle Nachtluft, welche durch das Fenster hereindrang und ihren unbekleideten Körper streichelte, das sanfte Licht der Straßenlaterne, welches von draußen ins Zimmer fiel, all dies hätte ihr die Gewissheit gegeben, dass es jetzt gut sei. Dass der Moment gekommen wäre, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte. Dann sei sie zurück ins Bett gestiegen
und hätte begonnen. Einfach so.

Ob es ihr nichts ausmache, sich mir so ganz und gar anzuvertrauen, zu reden angesichts der Bedrohung meines Schweigens. Und ob sie nicht befürchte, sich mir untertan zu machen durch ihren Drang, sich zu offenbaren.
"Warum fragen Sie? "
Und dann, nach einer Weile:
"Nein. Was soll mir noch geschehen?"

einäugig die Vorsicht:
Geheimes versenkend
nicht achtend aber
flaches Gewässer

Stille! Sie ahnt.


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4.

"Durch jene schmale Öffnung
dringest du zu einer Höhle,
deren Innerstes verwahrt
dein Buch des Lebens. -

Nun eile!"


Die Erinnerungen kamen langsam, zuerst bruchstückhaft, später flossen sie durch sie hindurch und drängten sich schneller auf, als sie schreiben konnte. Manchmal musste sie die Ordnung der Ereignisse erst wiederfinden, ihren Ablauf rekonstruieren. Ein Ereignis jedoch stand unverfälscht und unverrückbar im zeitlichen Ablauf der Dinge vor ihrem geistigen Auge. Es hatte all die Jahre im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses überlebt und hartnäckig jedem Versuch seiner Verfälschung, Beschönigung oder gar Bereinigung durch allzu beflissene Therapeutenhände widerstanden. Jetzt schrieb es sich sozusagen selbst hinaus. Sie musste nichts tun, nichts in Worte fassen oder nach einer Sprache suchen, sie musste nur diesen dunklen Gang in ihrem Innern freihalten und darauf achten, dass kein Gedanke die Übertragung der Aufzeichnung störte.

Nachdem wir uns bereits am Morgen gesehen hatten, fiel ich in einen Schlaf, der den ganzen Tag andauerte bis zur Dämmerung. Das Zimmer war erfüllt von einer seltsamen Einsamkeit. Ich dachte an ihre dunklen Augen, die halb geschlossen waren wenn sie redete und die eine Art Traurigkeit in sich bergen, von der man selbst befallen wird wenn man nicht wegschaut. Vielleicht muss ich davon ausruhen, von dieser Schwäche, von ihrer Zerbrechlichkeit, an welcher ich ja in gewisser Weise teilhabe, jetzt, da sie mir ihre Geschichte erzählt. So wie alle Menschen aneinander teilhaben, wenn sie sich erst einmal in das Innere des Dschungels begeben um sich dort ihre Geschichten zu erzählen. Ob sie es nun wissen oder nicht.

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5.


"Seid ihr alle da?"
"Zähl nur, Schwester - ja!"


Der erste Schultag nach den Ferien war ein warmer, sonniger Augusttag. Sie lief durch die Pfützen, die sich im aufgerissenen Schotter der Straßen gesammelt hatten und versuchte, so genau und vorsichtig in das Wasser zu treten, dass es nur ihre Schuhsolen, nicht aber die weißen Strümpfe benetzte. Sie hatte diese Art zu gehen als ein Spiel erfunden, sie wettete jedes Mal mit sich selbst, ob sie es schaffen würde, sich nicht die Strümpfe zu beschmutzen, und als sie durch das schwere Eisentor in das Schulgebäude eintrat, triumphierte sie.
Der Lärm auf den Gängen verteilte sich zugleich mit den Kindern nach und nach in die Klassenzimmer. Die Luft vibrierte von der Aufregung des ersten Schultages, es roch nach frisch gedruckten Büchern, Umschlägen aus Plastik und Bleistiften. Dieses Zukunft verheißende Lachen der Kinder, hier würde es immer zu finden sein, innerhalb dieser Mauern gab es keine Leere, keinen Tod. Der schrille Ton der Schulglocke zerriss die Luft, und nach und nach schlossen sich alle Türen.
Nur sie war in keines der Zimmer gegangen.
Sie stand allein in der Mitte des langen Flures und versuchte sich zu erinnern, in welche Klasse sie gehörte. Sie presste ihr heißes Gesicht gegen den grauen kühlen Lack der Tür, ihr Ohr versuchte vergeblich ein Geräusch einzufangen, eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. Laut las sie die Nummern der Klassenräume, die ihr jedoch nichts sagten, ebensowenig wie die bunten Bilder an den Türen. Sie wusste mit einem Mal nicht mehr, wie sie hierher gekommen war. Alles, der Name ihrer Lehrerin, die Zimmernummer, der Schulweg, jedes Ereignis löste sich allmählich in verschwommene Nebel auf, sobald ihr Verstand danach fassen wollte. Sie durchsuchte angestrengt jeden Winkel ihres Gedächtnisses nach brauchbaren Spuren, die sich jedoch sofort in die Unendlichkeit des Vergessens verkrochen, sobald sie ihrer habhaft zu werden glaubte. Die Einsamkeit des Flures kroch an ihren weißen Strümpfen herauf, legte sich allmählich an die Ränder ihres Körpers und wurde nach und nach zu ihrer einzigen Gewissheit. Während sich ihre Augen weiteten und kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichneten, zählte der Zeiger der Schuluhr eine Zeit, welche schon nicht mehr die ihre war.
Und während sie auf der frisch gebohnerten Treppe saß, die zum zweiten Stock des Gebäudes führte, (diese Treppe war ihre einzig Verbündete in diesem Moment, und noch Jahre später bewirkte der Geruch von Bohnerwachs eine sofortige und totale Entspannung bei ihr), während sie also auf dieser Treppe saß, da fiel sie langsam aus der Zeit heraus.

Es gibt Tage, an denen haben wir nichts zu sagen oder wir können über das, was uns bewegt, nicht sprechen. Gestern kam sie sehr spät. Sie sah mich versonnen aus ihren schmerzdunklen Augen an, während wir nichts taten als da zu sein und zu schweigen. Und dann hörten wir einfach Musik. Musik, von der irgendjemand einmal sagte, dass sie die Fähigkeit habe das auszudrücken was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen.
Das war gestern.


Blind nun
Kairos im fliegenden
Wechsel der Gedanken
so sag mir an

was zwischen uns gewesen


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6.


"Sie gütig, Schwester, wir verschuldens nicht;
sie fehlt uns schon seit gestern!"


Weil sie es nicht besser wussten, diagnostizierten die Ärzte des städtischen Hospitals schließlich eine Hirnhautentzündung. Irgendwann fand sie sich in einem Bett wieder, welches an einer weißgetünchten Wand stand. Hinter der Wand war es Nacht. Vom dem Ereignis blieben ihr nur einzelne Wörter, welche sie in die Finsternis rief. Dann ruhte sie aus von ihrer Reise.
Die Erregung ihrer Sinne schrieben die Ärzte dem hohen Fieber zu und verordneten Bettruhe sowie regelmäßige Spaziergänge im angrenzenden Park des Spitals mit anderen Grenzgängern. Allerdings bemerkte niemand das immer öfter stattfindende Reisen des Kindes in eine andere Wirklichkeit, und selbst dem aufmerksamen Beobachter seines Zustandes entzog sich die Tatsache, dass die meiste Zeit des Tages für sie nicht zählte. Sie selbst sah sich außerstande, eine Erklärung dafür zu finden, es verstellte ihre Welt so ganz und gar, auch widersprach es allen ihren Erfahrungen. Es blieb ihr ein Rätsel, und nachdem sie durch sich selbst nichts darüber erfahren konnte und ohnehin ahnte, dass die Bekanntgabe ihres Geheimnisses einer baldigen Entlassung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht förderlich war, beließ sie es schließlich dabei und gab sich einer Sprachlosigkeit anheim, welche sie nie mehr ganz verlassen würde und erst Jahrzehnte später vom Schreiben abgelöst werden sollte.

Samstag, 30. Juli 2011

Kapitel 7

"Und schwindelt nicht das Auge meines Geistes
Noch stets hinunter in den jähen Trichter
Der Zeit? - Zeit, was heißt dieses Wort?"


Wir hatten uns aus den Augen verloren, und ich hatte die Hoffnung aufgeben, sie jemals wiederzusehen. Bis sie plötzlich eines Tages vor mir stand.
Ihre frühere Blässe war einem zartbraunen Teint gewichen, und eine befremdliche Klarheit strahlte aus ihren Augen, die mich schmerzte.
Sie war fröhlich geworden.
Ich suchte nach Spuren ihrer früheren Verweigerung, fragte dieses und jenes, aber auf alles gab sie bereitwillig und offen Antwort. Das verwirrte mich, und ich fragte sie, ob wir uns nicht in ein Café begeben wollten. Ich verspürte große Lust, sie auszufragen, in sie einzudringen und das Geheimnis dieser verstörenden Fröhlichkeit zu erfahren.
Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr sonnengebleichtes Haar, warf den Kopf nach hinten und lachte ein so schrecklich schönes Lachen, dass es mir einen Stich versetzte. Sie hakte ihren schlanken Arm unter meinen, steckte die Hand in meine Manteltasche und zog mich, die ich nun unsicher neben ihr mehr gezogen wurde als selbst ging, in eben jenes Café, in welchem wir uns vor zwei Jahren das letzte Mal trafen.
Damals hatte sie begonnen, mir ihre Geschichte zu erzählen. Bis zu jenem Tag, als ich ihr sagte, dass es nun genug sei. Dass ich nichts mehr hören wolle über sie und ihr Leben, dass es schon nicht mehr ihre Geschichte sei, die sie da erzähle, sondern zugleich auch meine eigene und die aller Anderen.
Ob sie jetzt, da wir uns auf so glücklichen Zufall wieder getroffen hätten, nicht weiter erzählen wolle, fragte ich sie.
Sie hätte während der letzten beiden Jahre mehrmals mit mir gesprochen, sagte sie. Genau genommen hätte sie niemals aufgehört mit mir zu reden, es müsse wohl an mir liegen, dass ich nichts mehr von ihr vernommen habe. Gerne könne sie fortfahren, sie müsse aber darum bitten, dass ich mich nicht wieder hinreißen ließe, mich selbst durch sie zu betrachten. So würde es ihr leichter fallen, von sich zu reden.
Ich versprach es ihr.

Mittwoch, 20. Juli 2011

Kapitel 8

"Wer ist das Kind? Es gleicht den andern nicht.
Mit sonderbarem Anstand trägt es sich,
und ernsthaft ist sein Blick."



Wo sie beginnen sollte, fragte sie mich. Ob sie einfach da weitermachen solle, wo sie aufgehört hatte zu erzählen.

Ich wusste, dass sie als Kind lange krank gewesen war. In dieser Zeit hatten tiefgreifende Veränderungen in ihr stattgefunden, die sie selbst nicht bennen konnte, von denen sie aber sagte, dass sie ihr Denken über die Welt gründlich verändert hatten. Ich bat sie, dort anzuknüpfen, in der Zeit, als sie das Hospital verlies. Damals war sie sieben Jahre alt.

Die Willkür, mit welcher die Ereignisse über sie hereinbrachen, verursachte ihr ein zunehmendes Gefühl der Verunsicherung. Wo auch immer sie sich befand, zwischen den Wänden des Hauses, auf einer Straße oder im Wald (der Wald war das Unheimliche überhaupt), überall wurde sie sich jäh der Zerstörbarkeit ihres Körpers und der möglichen Auflösung aller Dinge um sich herum bewusst. Und so verwunderte es sie nicht weiter, als eines Tages ein fremder Mann anstelle ihres Vaters ihre Hand nahm und sie neben sich her durch die Straßen zog.
So hineingestellt in eine Landschaft, die keinerlei Zeichen der Erkennung für sie trug, empfand sie nunmehr Alles und Jeden sowie sich selbst als einen Irrtum. Da sich die Welt ihr so derart verstellte, dass sie weder zwischen Dingen noch unter Menschen eine Art Geborgenheit empfinden konnte, beschloss sie, die Dinge selbst zu richten.
Jeden Abend vor dem Einschlafen sortierte sie in ihrer Vorstellung alle Personen, Ereignisse und deren Ablauf so, wie sie ihr richtig erschienen und wie sie von Anfang an hätten sein sollen. Die Wände ihres Zimmers rückten auseinander und gaben die Bühne frei für das Spiel ihrer Phantasie. So beruhigte sie sich allmählich und schlief ein, träumend von einer Welt, die es nicht gab, und die doch ganz allein ihre war.

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