Von der Massen- zur Schwarmgesellschaft

Gestern sind bei mir zwei Texte hochgeploppt, die unterschiedlicher kaum sein können. Weil sie aber ganz gut zwei Enden einer Diskussion markieren, haben sie doch etwas miteinander zu tun: Es geht um das Internet bzw. die digitale Öffentlichkeit und wie diese zu bewerten ist - als Chance oder als Bedrohung.

Für Rolf Schwartmann ist “die Netzgemeinde” - also die Öffentlichkeit im Internet - eine Bedrohung. Bedroht sieht der Medienrechtler nicht weniger als das Grundgesetz und damit die Demokratie. Als das Grundgesetz entstand, habe es noch kein Internet gegeben, in dem sich Massen nach kaum kalkulierbaren Prozessen selbst organisieren und mobilisieren. Nun betreibe aber die Netzgemeinde “Lynchjustiz” an der Eigentumsordnung und stelle in den Diskussionen um das Urheberrecht “die Technik” vor “das Recht”.

Und weiter:

Wie verhält sich das Gericht, wenn die Netzgemeinde Fakten schafft und wenn sie das Volk mehr zu repräsentieren scheint als das Parlament? Für das Grundgesetz jedenfalls repräsentieren die Parlamentarier das Volk. Nach den verheerenden Erfahrungen des Dritten Reiches mit Schwarmverhalten pflegt es eine besondere Zurückhaltung gegenüber unmittelbaren demokratischen Entscheidungen. In ihm ist das Gesetz der kleinen Zahl verankert, von dem jede Entscheidung lebt.

Felix Stalder sieht das Internet hingegen als Chance, unter Umständen sogar als Utopie, die wahr werden könnte. Für den Medientheoretiker bewegt es sich in jeweils verschiedenen Phasen und verschiedenen Ausbreitungsgraden – also gleichzeitig und ungleichzeitig zugleich – im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen Autonomie und Kooperation.

Stalder beschreibt die Entwicklung eines Traumes, in dem es um die Erweiterung bestehender menschlicher Kooperationsformen geht – und damit um die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten, wie ihn Ingenieure hervor gebracht haben, die seit den 1960er Jahren an den Grundlagen der Netzwerktechnologie arbeiteten, auf die Gesellschaft als Ganzes:

Alle Formen klassischer, formaler Hierarchien, insbesondere auch die Unterscheidung zwischen einer Mehrheit, die ihre Ansichten durchsetzen kann, und einer Minderheit, die ihre Niederlage akzeptieren muss, wurden abgelehnt. Stattdessen wurde auf eine Pragmatik der offenen Kooperation gesetzt, die sich an zwei Leitplanken orientierte. Zum einen an der Notwendigkeit eines „groben Konsenses“ („rough consensus“), was zum Ausdiskutieren von unterschiedlichen Auffassungen zwingt, aber keine Blockade ganzer Gruppen durch einzelne zulässt. Ausführbare Software („running code“), zum anderen, verweist auf den Fokus der Kooperation, der – in klassischer Ingenieurstradition – auf konkreten Lösungen lag, die aufgrund klarer Kriterien gegeneinander abgewogen werden.

Ein bisschen spooky beim Vergleichen dieser beiden Texten ist, dass weder Schwartmann noch Stalder wirklich neue Positionen zu einem ebenso neuen Phänomen vorbringen. Eigentlich wiederholen sie nur alte Argumente für ein bekanntes Phänomen, das sich durch die Internetöffentlichkeit verstärkt hat.

Ebenso wie heute bildete sich auch am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Massengesellschaft ein neuer kultureller Aggregatzustand heraus. Seinerzeit ließen nicht zuletzt die neuen Kommunikations- und Verkehrsmittel (Eisenbahn, Telefon, etc.) sowie die entstehenden Massenmedien (überregionale Zeitungen, Radio, etc.) einen Öffentlichkeitsrahmen entstehen, der entschieden größer war und weitere Teile der Gesellschaft umfasste, als das bislang der Fall war. In der Regel fielen seine Grenzen mit denen der jeweiligen Nation zusammen.

Heute sorgt das Internet dafür, dass diese Grenzen überschritten und erneut Teile der Gesellschaft in die öffentlichen Debatten (re-)integriert werden. Man denke nur an die arabische Revolution oder an die Piratenpartei. Insgesamt scheint jedenfalls Konsens darüber zu bestehen, dass das Internet sowohl horizontal als auch vertikal andere und weiter führende Möglichkeiten der politischen Partizipation bereit stellt – nur wie diese Möglichkeiten bewertet werden, ist dann Ansichtssache.

Historisch gesehen ist die Sache tatsächlich nicht so eindeutig zu beantworten, wie es vielleicht scheinen mag, was zum Beispiel Paul Nolte festhält:

Aber die Erfahrungen der Massengesellschaft waren ambivalent, und längst nicht alle Konsequenzen, die daraus am Beginn des 20. Jahrhunderts gezogen wurden, führten in eine demokratische Richtung. (…) Was man zunächst als eine demokratische Erweiterung breiterer, auch ärmerer Schichten verstehen kann (…), verknüpfte sich zugleich mit der Idee eines Aufgehens individueller Freiheit im Rausch des Kollektivs und mit einer Neigung zur Aktion als Selbstzweck: Die Masse richtete sich, zum Befreiungsschlag formiert, gegen scheinbar verkrustete Institutionen, selbst wenn es sich um Institutionen der Demokratie handelte.

Nun bestreitet der Historiker nicht, dass wir uns seit dem späten 20. Jahrhundert (…) vollkommen andere kulturelle Reaktionen auf Phänomene der Masse, des Chaos, des Durcheinander angewöhnt haben. Aber er hält fest, dass die Massengesellschaft den Trend zur Demokratisierung in zwei Richtungen gezogen habe: in Befreiung bzw. Partizipation auf der einen und in der Bildung neuer Führungsstrukturen und der Betonung des ehernen Gesetzes der Oligarchie auf der anderen Seite.

An diesen beiden Enden der Wurst sitzen nun auch Schwartmann und Stalder sich gegenüber: Während Stratmann – deutlich polemischer (”Lynchjustiz”) als Stalder, aber darum geht es hier ja nicht – die Angst der Eliten vor dem eigenen Bedeutungsverlust und der Tyrannei der Masse verkörpert, sieht Stalder in der digitalen Öffentlichkeit die Chance zur weiteren Demokratisierung. Während der eine um die Prinzipien der repräsentativen Demokratie fürchtet, betont der andere neue Möglichkeiten zur politischen Teilhabe.

Beide beschäftigen sich mit einer alten Frage, die nie gelöst worden ist und sich mit der Weiterentwicklung der Kommunikationsmöglichkeiten immer wieder neu stellt: In welcher Ausprägung sind Führungsstrukturen notwendig, um den organisatorischen Notwendigkeiten gerecht zu werden, die eine gesellschaftliche Ordnung am Laufen halten?

Eure Öffentlichkeit

Jetzt schreit ihr alle wieder, weil ein Leistungschutzrecht kommen soll: Die Blogs sollen sich stärker vernetzen. Und die das am lautesten schreien, haben immer schon nur auf die drei, vier Alphaärsche verwiesen, die das auch für Euch tun.

Mit Kritik könnt ihr nicht umgehen. Wenn Euch etwas nicht in den Kram passt, ist es Feuilleton. Ihr geschichtsvergessenen Muttermörder: Ohne die Entwicklung Feuilleton wäret ihr und eure öffentliche Position gar nicht denkbar.

Ohnehin pinkelt ihr den Verlagen immer nur so lange richtig ans Bein, bis sie euch dafür bezahlen, was ihr vorher umsonst machen musstet.

Es gibt zu viele Ideologen unter euch.

Und zu viele Kindsköpfe.

Inzwischen überlege ich, ob ich Teil Eurer Öffentlichkeit sein will: Ich will keine Partei ergreifen, niemanden wegbeißen und ich will auch kein Geld vom Internet. Aus welchen Gründen also bleiben?

Machen wir uns nichts vor XL

Während die technisch-ökonomische Zivilisation einer gigantischen Systemintegration unterworfen ist, wird derselbe Prozeß aus kulturkritischer Perspektive als Desintegration, Differenzierung und im besten Falle noch als Individualisierung beschrieben. Während die elektronisch vermittelte Gleichzeitigkeit und die Fülle der Informationen immer mehr Wissen über die Erde verfügbar macht, ist von Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit die Rede. Während die Erdteile zusammenrücken, stellt sich das Bild totaler Auflösung ein. (…)

Wenn die technisch-ökonomische Integration auf dem Globus nicht als kulturelles Phänomen gedeutet wird, dann wird auch die Tendenz zur Globalisierung verkannt. Das Symbol mangelt es an einer sinnstiftenden Symbolwelt. Kurz: Die globale Zivilisation ist ohne Kultur.

Johannes Rohbeck tritt in Technik - Kultur - Geschichte an, um die Geschichtsphilosophie zu retten, und bietet dabei (mitunter etwas sperrig zu lesende) Einblicke in die Geschichte des Fortschritts, der Globalisierung, der Technikphilosophie von 1750 bis 2000 (via Untoter Ostgote).

Links (03.06.2012)

Kathrin Göring-Eckhardt hat in der Zeit mit Giovanni di Lorenzo und Frank Schirrmacher die beiden wohl derzeit maßgeblichsten Journalisten zum Gespräch über Politik, Internet und Öffentlichkeit gebeten.

Andrian Kreye, ebenfalls kein unbedeutender Journalist, hat einen desillusionierten Text zum Internet geschrieben: zu den religiösen Zügen der Technologie-Euphorie, zu Assange, Liquid Democrazy und Singularity.

Und Carlo Rovelli macht sich Gedanken darüber, warum die Quantenphysik in den vergangenen Jahren nicht so recht voran gekommen ist, hat aber eigentlich einen wirklich großartigen Text über das Denken geschrieben.

Spiele sind Regelsysteme

Durchaus faszinierend, welche Analogien zwischen Brettspielen und Gesetzen Marc-André Casasola Merkle da auf der re:publica 2012 dargelegt hat. Eine Einführung in einige Strukturprinzipien funktionierender sozialer Regelsysteme, zum Beispiel Netzwerken à la twitter.

Wer eine Stunde Zeit hat, kann sich das gut anhören. Allen anderen sei nochmals das Interview mit dem Spieleentwickler in der taz empfohlen.

Links (28.05.2012)

Die grösste Gefahr für das Web sind die Versuche grosser Unternehmen oder Regierungen, seine Nutzung zu kontrollieren, Zugänge zu blockieren oder das, was Nutzer im Netz machen, auszuspionieren, hat der World-Wide-Web-Begründer Tim Berners-Lee mal wieder betont und im NZZ-Interview mit Juliane Leopold davor gewarnt, “die Vorteile eines offenen, freien Internets als selbstverständlich” anzusehen.

Als tatsächlich offen und frei kann man zB die Sozialen Netze nicht bezeichnen, wenn google plus seine Nutzer zwingen kann, ihre im Ausweis stehenden Namen zu offenbaren, oder facebook einfach Fotos löscht, deren Vomnetznahme nicht einleuchtet (zB stillende Mütter). Felix Neumann greift deshalb die Regulierungsdiskussionen auf, die sich um die Social-Media-Unternehmen drehen, und denkt über die Grauzonen nach, die zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre bestehen: Die Frage sei, ob und worin sich die Regeln bürgerlicher Salons oder Kaffeehäuser, in denen Zeitung gelesen und Argumente ausgetauscht wurden und so Öffentlichkeit entstand, von denen der großen Sozialen Netze überhaupt unterscheiden: Diese Regeln, so Neumann,

sind nicht wesentlich verschieden von Kleiderordnungen und sprachlichen Codes, die bei Tisch und im Café einzuhalten sind: Bisweilen explizit, oft implizit, nicht immer und verläßlich, aber doch oft genug sanktioniert, durchsetzbar ohne wirklich funktionierenden Rechtsschutz, und durchgesetzt nicht etwa durch Beamte, sondern durch Angestellte.

Ändert sich das jetzt grundsätzlich, wenn unser Caféhaus nicht mehr am öffentlich zugänglichen Platz steht, sondern Facebook ist?

Die Kaffeehaus-Metapher greift auch Peter Glaser auf, dessen Kolumne in Futurezone übrigens zu den Perlen der Internetschreiberei in deutscher Sprache gehört:

Die Generation, die nun mit dem Internet aufwächst, lebt nicht mehr mit dem Netz, sie lebt im Netz. Diese neuartige Technosphäre nur als Nachrichten-Umschlagplatz oder digitales Gewerbegebiet zu betrachten, greift zu kurz. Im Netz sind Medien nicht mehr nur Dinge, die wir benutzen – wir leben heute in unseren Medien, auf Facebook, Twitter, in Foren und Blogs. Es sind Pendants zu Straßencafes, Wohngemeinschaften, Clubs.

Außerdem schrub ich auf google plus etwas zu einem meines Erachtens ziemlich kulturpessimistischen Pfingst-Essay, den Botho Strauss in der NZZ veröffentlicht hat:

Einen schwer verdaulichen Essay-Happen hat der immer mal wieder heftig umstrittene Dramatiker Botho Strauss da in der NZZ serviert, den man auf ganz unterschiedlichen Ebenen goutieren kann. Er ist zB durchaus als Bestätigung dessen zu lesen, was Perlentaucher Thierry Chervel neulich mutmaßte: dass die Autoren das Netz vor allem als Bedrohung sehen, weil sie es nicht verstanden haben.

Aber vielleicht wäre das auch ein bisschen sehr schlicht, und vor allem: Was sollte das bringen?

Auf das Internet bezogen - und ich kann da nicht umhin, zwischen den ganzen überbordenden Bildungsmetaphern und -anspielungen eine Kritik an demselben heraus zu lesen - birgt dieses Essay doch vor allem den Vorwurf, dass die Technik und das Wissen “unserer Tage” keinen Raum für Kultur böten und, schlimmer noch, keinen Ort für Kritik oder gar Widerstand.

Ich persönlich glaube an das Gegenteil, zumindest an meinen besseren Tagen. Aber solche Texte wie dieser hier von Strauss zeigen mir halt auch, dass “wir Internet-People” noch lange nicht zum Mainstream vorgedrungen sind, noch immer keine Erzählung anbieten können, um mehr Leute davon zu überzeugen, dass das Netz eben kein Feind des Geistes, der Kultur ist. Ganz und gar nicht.

Noch aber schreibt jemand wie Strauss:

In der virtuellen Welt kann durch Spiel und Abgleich der Geist ein höheres Risiko sowohl der Entfaltung wie der Verstrickung eingehen als durch irgendeine Form des Widerstands. (…)

Wer sich an technischen Neuerungen berauscht, ist ein Schwachkopf. Wer sich ihrer zu bedienen versteht, ist ein Alltagsmensch, aus dem noch einmal etwas Besonderes werden könnte, wie zu allen Zeiten. Der Bewegungsraum eines Menschen muss zu fünf Achteln anachronistisch sein und darf nur zu drei Achteln aus Unübersehbarem bestehen. (…)

Früher gab’s mehr von dem, was war. Heut gibt’s zu viel von dem, was wird. (…)

Wissen und Technik unserer Tage haben bisher keinen sprachbildenden Einfluss, scheinen nicht chiffrierfähig. (…)

Die ästhetischen Valeurs sind die bedrängtesten. Was interessiert es, ob millionenweis kommuniziert wird, wenn der Hort des unduldsam Schönen keine chaotischen Schwingungen mehr in die Social-Cloud absetzt?

Zuckerberg auf den Spuren Quételets

Der belgische Statistiker und Astronom Lambert Adolph Quételet (1796 - 1874) kann als der Begründer der modernen Sozialstatistik gelten. (…) Ausgangspunkt von Quételets Theorie war die These, daß die menschlichen Handlungen eine Struktur regelmäßiger Wiederkehr aufweisen. In seinem Hauptwerk (…) konstruierte er nun einen “homme moyen”, dessen wahrscheinliche Handlungen sich für die Zukunft ebenso voraussagen ließen, wie sie statistisch in der Gegenwart und Vergangenheit zu erfassen waren. (…)

Bei Quételets “mittlerem Menschen” handelte es sich (…) in Wahrheit um ein soziales Artefakt, das sich aus den statistischen Durchschnittseigenschaften einer empirisch umgrenzten Bevölkerungsmenge (…) zusammensetzte. (…) Damit schuf er die theoretische Grundlage für eine sozialpolitische Zukunftsvorsorge bislang ungekannten Ausmaßes (…) [,] zur “sozialen Physik”, das heißt zur umfassenden Theorie des sozialen Verhaltens.

Für Quételet und die ihm folgende Sozialstatistik schien der Erforschung der Zukunft seither keine Grenzen mehr gesetzt. Das Forschungsfeld sozialstatistischer Zukunftsaussagen glaubten sie sogar überhaupt nur noch durch die Menge verfügbarer Daten begrenzt.

Tja, der Börsengang Facebooks ist bislang beschissen bescheiden verlaufen. Möglicherweise ist die Vermessung des Menschen also weit weniger wert als allgemein vermutet. Aber es hätte ja auch etwas Beruhigendes, wenn der Herr Zuckerberg auch nicht weiter käme in seinen Bemühungen wie einer seiner Vermessungsurahnen, der Herr Quételet. (Quelle: Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft; besten Dank für die Empfehlung an den Untoten Ostgoten.)

mein kind ist geiler als dein kind

Neobürgerliche Kinder-Erziehung mitsamt elterlicher Profilneurosen, auf den Punkt gebracht von Fil.

Links (21.05.2012)

Frank Riegers Roboterutopie in der faz für eine (bessere) Gesellschaft, in der Maschinen und Algorithmen Steuern zahlen und ihren Anteil am Gemeinwohl leisten, wird nicht zuletzt wegen ihres Erscheinungsortes (bürgerliche Presse) viel diskutiert. Eine lesenswerte Replik hat zum Beispiel Stefan Schulz geschrieben, die vor allem der Rehabilitierung des Menschen in einer automatisierten Gesellschaft dienen soll: So lange Maschinen an Nullen und Einsen (also an die Limitierungen von Syntax) gebunden sind, können sie nur an Geschwindigkeit aber nicht an Qualität zulegen.

Da Rieger alles und jeden über den Automatisierungskamm schert, sind wohl auch Zweifel an der wirtschaftlichen Aussagekraft des Artikels nicht unberechtigt. (Christoph Kappes hat aus dieser Perspektive eine Entgegnung angekündigt, die ich hier ggfs. nachtragen würde.) Meiner Meinung nach hat der Text aber vor allem eine gesellschaftspolitische Stoßrichtung:

Die derzeitige Finanzierung unseres Gemeinwesens beruht größtenteils auf der Besteuerung von menschlicher Arbeit und menschlichem Konsum. (…) Die zunehmende Automatisierung und Flexibilisierung der Produktion führt nun aber zwangsläufig dazu, dass immer weniger Menschen einen regulären Lohn beziehen. (…) Mit der bisherigen Steuerphilosophie kann die nächste Automatisierungswelle daher den sozialen und finanziellen Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft innerhalb weniger Jahre verursachen. (…) Die Alternative: ein schrittweiser, aber grundlegender Umbau der Sozial- und Steuersysteme hin zur indirekten Besteuerung von nichtmenschlicher Arbeit und damit zu einer Vergesellschaftung der Automatisierungsdividende.

An dieser Stelle und hinsichtlich der Dividenden-Forderung trifft er sich übrigens mit Rainer Sommer und dessen Überlegungen zum bedingungslosen Grundeinkommen bei Telepolis.

Social Media und menschelnde SAPisierung

Die sozialen Medien perfektionieren die Vermessung des Menschen. Facebooks Börsengang wird zeigen, wie viel Geld das wert ist, hat Sascha Lobo neulich in seiner Spiegel-Kolumne geschrieben. Für diese Behauptung hat der einzige deutsche Internet-Popstar u.a. eine Untersuchung angeführt, die gezeigt hat, dass die professionelle Auswertung von Facebook allemal mehr bringt bei der Bewerbersuche der Wirtschaft als ausgeklügelt standardisierte Testverfahren.

So weit sind wir also bereits gekommen bei der Quantifizierung bzw. SAPisierung dieser Welt: Alles, was nicht bei 3 auf den Bäumen ist, wird gemessen und in Prozesse gegossen. Schon lange nicht mehr nur in den börsennotierten Unternehmen, sondern auch in den kleinen Klitschen. Nicht mehr nur in der Architektur, sondern auch im Handwerk. Selbst die Politik wird gerade von einer gewissen Partei, die gerade sehr erfolgreich ist, auf ihre Vermessbarkeit hin getestet. Und nun also Social Media.

Interessant dabei ist, dass mehr Standardisierung gleichzeitig mehr Menschlichkeit erfordert. Nur Menschen sind in der Lage, die Verwerfungen der Standardisierung, die Grausamkeiten jeder einzelnen Excel-Datei wieder einigermaßen wettzumachen. Empathie-Schnittstellen können bis auf weiteres eben nur Menschen sein.

Auch eine Socialmediaisierung der Bildungslandschaft würde bedeuten, dass es (menschliche) Experten geben müsste, die Online-Kommunikation entsprechend auswerten und deuten könnten.

Der kanadische Wirtschaftsprofessor Joshua Gans nimmt die vielen Kurse, die von den verschiedensten Universitäten und Unternehmen derzeit online gestellt werden, zum Anlass, um über die Folgen der Digital Revolution in Education nachzudenken.

Seine Quintessenz: Noten und Abschlüsse werden an Bedeutung verlieren, und die stetig in Optimierung begriffenen standardisierten Assessments der Unternehmen reichen nicht mehr aus, um die für sie besten Absolventen herauszufiltern. Die Lösung liegt für Gans bei den Professoren, die den Online-Dialog mit ihren Studenten pflegen und diese dann nach bestimmten Kriterien bewerten sollen - ein Social-Media-System für die Schnittstelle Hochschulbildung und Wirtschaft, bestehend aus Likes und Dislikes sowie persönlichen Empfehlungen.

Das mag man gruselig finden, wenn man noch alte humboldtsche Bildungsideale im Kopf hat. Wahrscheinlich ist es aber gesünder und vor allem realistischer, das zur Kenntnis zu nehmen und das beste daraus zu machen. So wie Martin Lindner etwa, der neulich festgestellt hat, dass die Forderungen der neoliberalen, entsolidarisierten Welt und der kommunitaristisch vernetzten neuen Welt derzeit zusammen fallen. Es sei aber falsch, gute neoliberale Bildung aus moralischem oder bildungsbürgerlichem Dünkel abzulehnen. Richtig verstanden sei eine solche Bildung Ausbildung für den Guerillakampf. Dazu müsse man die Umwelt kennen, mit der man sich auseinandersetzt: “Nötig ist aber auch, die Punkte zu markieren, an dem beides eben NICHT zusammenfällt.”

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