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Autoren > Hoffmann, E.T.A.

E.T.A. Hoffmann"Die krankhaften Werke des leidenden Mannes"
Der Dichter E.T.A. Hoffmann

Von Stefan Ringel

Geboren am 24. Januar 1776 in Königsberg, gestorben am 25. Juni 1822 in Berlin.

Wenige Monate nach dem Tod E. T. A. Hoffmanns haben Freunde ein Grabmal errichten lassen, auf dem bis heute zu lesen ist:

E. T. W. Hoffmann
geb. Königsberg in Preußen den 24sten Januar 1776
gest. Berlin den 24sten Juni 1822
Kammergerichts-Rath
ausgezeichnet
im Amte
als Dichter
als Tonkünstler
als Maler
Von seinen Freunden

War das Todesdatum auch falsch - E. T. A. Hoffmann starb am 25. Juni 1822 -, so dokumentiert das Grabmal doch seine vielseitige künstlerische Begabung. Trotz dieses Multitalents durchlief er eine schwierige persönliche Entwicklung. Erschwerend kommt hinzu, dass Hoffmanns Zeitalter geprägt war von politischen Unruhen und Kriegen. Immer wieder wurden persönliche Entwicklungen von politischen Einschnitten unterbrochen, abgelenkt oder bestimmt.

Herkunft
Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. München: Hanser 1998Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann - so sein richtiger Name - stammt aus einer Königsberger Juristenfamilie, seine Eltern waren Cousin und Cousine. Diese Herkunft bestimmte seine berufliche Laufbahn von Anfang an: er hatte Jurist zu werden! Schon früh scheiterte die Ehe seiner Eltern - Hoffmann war zu diesem Zeitpunkt gerade vier Jahre alt. Der impulsive und lebenslustige Vater ging nach Insterburg. Seine Mutter, eine ordnungsliebende und beständig auf ihren Ruf bedachte Person, kehrte niedergeschlagen in das Haus ihrer Mutter zurück, wo sie bis zu ihrem Tod von der Gesellschaft zurückgezogen lebte. Ihr im Hause lebender älterer Bruder Otto Wilhelm Doerffer, von Hoffmann meist nur Sir Ott oder O-Weh-Onkel genannt, übernahm die Erziehung des Jungen. Otto Wilhelm Doerffer war ein gescheiterter Jurist, bigott und pedantisch, der sich seinen Tages- und Wochenablauf minutiös eingeteilt hatte. Zur bizarren Atmosphäre des großmütterlichen Hauses trugen auch die Mieter einer Wohnung im ersten Stock bei, eine gewisse Frau Werner mit ihrem Sohn Zacharias, der sechs Jahre älter als Hoffmann war, und der von seiner Mutter als der wiedergeborene Messias verehrt wurde. Zacharias Werner sollte später ein erfolgreicher Dramatiker werden, ehe er 1814 den Dichterberuf aufgab, Priester wurde und als Kanzelredner reüssierte.

Nur wenige Lichtblicke gab es für das musisch begabte Kind in dieser Zeit: zu diesen zählte eine geliebte alleinstehende Tante, die ebenfalls im Hause lebte, die Freundschaft zu Theodor Gottlieb von Hippel, Sohn eines Landpfarrers und späterer Erbe des gleichnamigen Stadtpräsidenten und Schriftstellers, und die Musik. Viele Jahre später beschrieb er in "Der Musikfeind" einen Jungen, der in einem feindlichen Umfeld Trost darin findet, seinen Kopf an das Klavier zu lehnen, einen Akkord niederzudrücken, die Augen zu schließen und in seinen Gedanken davonzuschweben: "Ich war in einer andern Welt; aber zuletzt mußte ich wieder bitterlich einen, ohne zu wissen, ob vor Lust oder vor Schmerz." [1] Hoffmanns Liebe zur Musik wurde geduldet, sogar insofern unterstützt, als er Musikunterricht erhielt. Hätte er seinen Wünschen folgen dürfen, gerne wäre er zu dieser Zeit Musiker und Komponist geworden, auch wenn er in dieser Zeit erste schriftstellerische Versuche unternahm, doch die Familie bestand auf einem Jura-Studium.

So studierte er also durchaus mit Erfolg Jura an der Universität seiner Heimatstadt und arbeitete anschließend seit Oktober 1795 als Auskultator am Königsberger Gericht. 1796 verließ er seine Heimatstadt und übersiedelte zu einem Onkel nach Glogau. Hintergrund war ein Verhältnis zu einer verheirateten zehn Jahre älteren Musikschülerin namens Dora Hatt, das auf diese Weise von der Familie unterbunden wurde.

Frühe Jahre in Glogau, Berlin und Posen
G. Wittkop-Menardeau: E.T.A. Hoffmann. Reinbek: Rowohlt 2000In Glogau lebte der junge Hoffmann auf. In der freien und Kunst interessierten Atmosphäre, die in der Familie des Onkels vorherrschte, fand er einen Rückhalt. So half er beispielsweise dem Maler Aloys Molinary bei der Ausmalung der Jesuiterkirche und widmete sich kleineren Kompositionen. In dieser Zeit verlobte er sich zudem mit seiner Cousine Wilhelmine, genannt Minna. Doch auch die berufliche Ausbildung kam nicht zu kurz: 1798 bestand er das zweite juristische Examen mit dem Prädikat "überall ausnehmend gut". Kurze Zeit später folgte er der Familie seines Onkels nach Berlin, wo er am Kammergericht tätig wurde. Berlin war ein erster Höhepunkt im Leben des jungen E. T. W. Hoffmanns: in der kulturell umtriebigen Stadt knüpfte er rasch Kontakte zu namhaften Künstlern: er lernte die Schriftsteller Jean Paul und Ludwig Tieck kennen, legte - allerdings erfolglos - sein Singspiel "Die Maske" dem Direktor des Nationaltheaters, August Wilhelm Iffland, vor, nahm Kompositionsunterricht bei Johann Friedrich Reichardt und freundete sich mit dem Schauspieler Franz von Holbein an. Im März 1800 bestand Hoffmann sein drittes juristisches Examen und wurde kurze Zeit später zum Assessor in Posen ernannt. Die Stadt Posen lag im polnischen Teil Preußens: eine schmale preußische Oberschicht, die in Zivilverwaltung und Militär zerfiel, stand einer großen polnischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber. Zwischen den Mitgliedern der Zivilverwaltung und des Militärs gab es schon seit längerer Zeit Spannungen. Der familiären Kontrolle endgültig entwachsen, verlebte Hoffmann ungeachtet dessen in Posen eine ungezwungene und heitere Zeit in deren Konsequenz er die Verlobung mit Minna Doerffer schon bald löste.

Erste Veröffentlichungen
Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Freiburg: Rombach 1996Hoffmann arbeitete in dieser Zeit an zahlreichen Kompositionen, darunter eine Messe und eine Vertonung von Goethes "Scherz, List und Rache". Für Kotzebues Zeitschrift "Der Freimüthige" verfasste er das "Schreiben eines Klostergeistlichen an seinen Freund in der Hauptstadt", einen Essay über die Verwendung des Chores in Schillers "Die Braut von Messina". Der Essay wurde seine erste literarische Veröffentlichung. Die Zwistigkeiten zwischen dem Militär und den Beamten kulminierten schließlich im Frühjahr 1802: auf einer Karnevalsredoute tauchten Karikaturen auf führende Militärs in Posen auf. Der örtliche Generalmajor drängte beim preußischen König auf eine Bestrafung der Urheber: tatsächlich wurden mehrere Personen strafversetzt oder gar aus dem Staatsdienst entlassen. Nur der Zeichner der Karikaturen konnte nicht ermittelt werden, obwohl allen Beteiligten klar war, dass nur E. T. W. Hoffmann über das notwendige Können verfügte. Aus dieser misslichen Lage befreite man sich mit folgendem Beschluss: Hoffmann wurde zum Regierungsrat befördert und gleichzeitig in eine einsame und entlegene Ortschaft der polnischen Provinz, nach Plock, versetzt. Kurz vor seiner Abreise heiratete Hoffmann die Polin Michaelina Rorer.

Plock und Warschau
Plock war für Hoffmann ein Albtraum: abgeschnitten vom geistigen und kulturellen Leben verkümmerte er. In einem Brief an seinen Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel nennt er die Kleinstadt einen Sumpf, in dem man nur bei größter Anstrengung nicht versinke. Auf einer Karikatur hat er dies festgehalten: auf einem hohen Stuhl thront sein Vorgesetzter, Präsident von Beyer, der mit einer langen Stange seine Mitarbeiter immer wieder in den Schlamm, aus dem sie sich gerade mühsam herausgearbeitet, zurückstößt. Auf Theodor Gottlieb von Hippel setzte Hoffmann seine Hoffnung auf eine Befreiung aus dieser Situation. Er bittet seinen Jugendfreund, der mittlerweile Karriere in der preußischen Regierungsadministration gemacht hatte, in Berlin ein gutes Wort für ihn einzulegen (Hippel sollte in späteren Jahren noch bis zum Vortragenden Rat beim König aufsteigen). Tatsächlich hatten Hippels Interventionen Erfolg: 1804 konnte Hoffmann Plock verlassen, sein Weg führte ihn ans Gericht nach Warschau.

Sofort erstattete er seinem Jugendfreund Bericht vom neuen Leben:

„Ich bin ich Warschau angekommen, bin heraufgestiegen in den dritten Stock eines Pallazzo's in der FretaGasse No 278, habe den freundlichen Gouverneur [Generallieutenant v. Köhler], den Präsidenten [v. Meyer], der die Nase 1/8 Zoll über den Horizont emporhebt und drey Orden trägt, und ein ganzes Rudel Collegen gesehen und schwitze jetzt über Vorträgen und Relationen! - Sic eunt fata hominum! - Schriftstellern und komponiren wollte ich, mich begeistern im Hain von Lazeki und in den breiten Alleen des Sächsischen Gartens, und nun? - Erschlagen von acht und zwanzig voluminibus ConkursAkten wie von Felsen, die Zeus Donner herabschleuderten, liegt der Riese Gargantua, und der Renegat ächzt unter der Last dreyer Todtschläger, die zur Festung bereit noch den lezten fürchterlichsten Todtschlag begehen." [2]

Eindrucksvoll komisch sind auch Hoffmanns Schilderungen wie nicht nur die Arbeit bei Gericht sondern auch das städtische Leben ihn von seinen künstlerischen Arbeiten abhält:

"Dicht unter meinem Fenster entstanden zwischen drey Mehlweibern, zwey Karrenschiebern und einem SchifferKnechte einige Differenzien, alle Partheyen plaidirten mit vieler Heftigkeit an das Tribunal des Höckers, der im Gewölbe unten seine Waaren feil bietet - Während der Zeit wurden die Glocken der PfarrKirche - der Bennonen - der DominikanerKirche (alles in meiner Nähe) gezogen - auf dem Kirchhofe der Dominikaner (gerade über mir) prügelten die Hoffnungsvollen Katechumenen zwey alte Pauken, wozu vom mächtigen Instinkt getrieben die Hunde der ganzen Nachbarschaft bellten und heulten - in dem Augenblick kam auch der Kunstreiter Wambach mit JanitscharenMusik ganz lustig daher gezogen - ihm entgegen aus der neuen Straße eine Heerde Schweine - Große Friction in der Mitte der Straße - sieben Schweine werden übergeritten! Großes Gequike. - O! - O! - ein Tutti zur Qual der Verdammten ersonnen! - Hier warf ich Feder - Papier bei Seite, zog Stiefeln an und lief aus dem tollen Gewirre heraus durch die Krakauer Vorstadt - durch die neue Welt - Bergab! - Ein heiliger Hain umfing mich mit seinen Schatten! - ich war in Lazeki!" [3]

H.L. Arnold (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. München: Edition Text + Kritik 1992Trotz der eindrucksvollen Klagen Hoffmanns erreichte sein künstlerisches Schaffen in Warschau neue Höhen. Er komponierte nach einem Text von Clemens Brentano das Singspiel "Die lustigen Musikanten", das 1805 auch in Warschau uraufgeführt wurde, und nach einem Text Duval von Rohrmanns das Singspiel "Der Kanonikus von Mailand". Ferner wurde er Zweiter Vorsitzender der in Warschau ansässigen Musikalischen Gesellschaft, deren Räume im Mniszekschen Palast er ausmalte. Auf den Konzerten der Gesellschaft betätigte er sich als Pianist und Dirigent. Unter seiner Leitung wurde seine Symphonie in Es-Dur uraufgeführt. Über all diesen Tätigkeiten versäumte er seine Dienstpflichten nie, sondern erwarb sich bei seinen Vorgesetzten "das Zeugniß des Fleißes und der Geschicklichkeit" [4]. Von der Art und Weise, wie er berufliche Pflichten und künstlerische Neigungen miteinander zu verbinden wusste, erzählt sein Biograph und Freund Julius Eduard Hitzig, den er als Kollegen am Gericht in Warschau kennen gelernt hatte:

"Nicht selten war es, daß Partheien, die einen Contrakt zu schließen hatten, und aus seinem Hause zu dem Mniszekschen Pallast gewiesen wurden, sich in dem weitläufigen Lokale mühsam nach ihm durchfragten, und dann ihren eignen Augen nicht trauen wollten, als er auf Vorzeigung der Präsidial-Verfügung, die ihn mit Aufnahme des Geschäfts beauftragte, schnell vom Malergerüste herabkletterte, die Hände wusch, ihnen vorantrabte, und mit gleicher Fertigkeit die Feder als den Pinsel führend, in wenigen Stunden ein gerichtliches Instrument, oft über die verwickeltsten Verhältnisse, auf das Papier hinwarf, an welchem auch die schärfste Critik nichts auszusetzen fand." [5]

Flucht vor Napoleon
S. M. Moraldo (Hrsg.): Das Land der Sehnsucht. Heidelberg: Winter 2002Das glückliche Leben in Warschau endete mit dem Einmarsch Napoleons und der Niederlage Preußens 1806. Polen wurde zu einem selbstständigen Staat unter französischem Protektorat. Die dort lebenden preußischen Beamten wurden aufgefordert, ein Treue-Eid auf den neuen Staat abzulegen. Da niemand an eine lange Dauer dieser Neuordnung glaubte und sich auch niemand eine Rückkehr in den preußischen Staatsdienst verbauen wollte, leistete natürlich niemand den geforderten Eid. Hoffmann und seine Kollegen teilten sich den Inhalt der Gerichtskasse und versuchten nach Berlin zu kommen, in der Hoffnung, dass ihnen der preußische Staat dort helfen werde. Doch Hoffmann zögerte, kurze Zeit war für ihn auch eine Übersiedlung nach Wien denkbar, schließlich jedoch brachte er seine Frau und die wenige Monate alte Tochter Cäcilia zu ihren Eltern nach Posen und reiste von dort weiter nach Berlin. Die Zustände in Berlin waren katastrophal, der preußische Staat praktisch handlungsunfähig, die preußischen Beamten konnten von ihrem Arbeitgeber keinerlei Hilfe erwarten. Zu allem Überfluss wurde Hoffmann das wenige Geld, das er bei sich hatte, gestohlen. Wochenlang hungerte er, hielt sich mit Zeichnungen für Zeitungen und Zeitschriften notdürftig über Wasser. Aus Posen kamen deprimierende Nachrichten: seine Frau war schwer erkrankt, die gemeinsame Tochter gestorben.

Bamberger Zeit
Schließlich setzte er alles auf eine Karte: er rückte eine Annonce in die Zeitung, in der er sich als Komponist und musikalischer Leiter empfahl. Vor diesem Hintergrund nahm er auch Kontakt zur "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" in Leipzig auf, suchte dort Unterstützung für seine Ambitionen und bewarb sich als Mitarbeiter. Beide Schritte waren erfolgreich: aus Bamberg kam eine Antwort auf seine Annonce, darin wurde er gebeten als Arbeitsprobe die Vertonung eines mitgelieferten Librettos vorzulegen. Auch aus Leipzig kam positive Nachricht: der Verleger der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung", Rochlitz, sicherte Hoffmann seine Unterstützung zu und versprach ihm, ihn späterhin mit Kritiken zu beauftragen. Schließlich kam das Engagement als Kapellmeister am Bamberger Theater zustande. 1808 reiste er einer ungewissen Zukunft als Künstler entgegen.

Als Hoffmann Bamberg erreichte, hatten sich dort weitreichende Änderungen ergeben. Graf von Soden, der Hoffmann noch engagiert hatte, war zwischenzeitlich als Leiter des Theaters zurückgetreten und hatte die Geschäfte einem gewissen Heinrich Cuno überlassen. Cuno wusste mit dem neuen Mitarbeiter wenig anzufangen: nach nur zwei Monaten verliert Hoffmann seinen Posten als Kapellmeister und bleibt der Bühne nur als Theaterkomponist verbunden. Um sich finanziell abzusichern, beginnt er Musikunterricht zu geben. Am 12. Januar 1809 schreibt er zudem an Rochlitz, erinnert ihn an sein Versprechen bezüglich möglicher Beiträge, und übersendet mit diesem Brief eine Erzählung mit dem Titel "Ritter Gluck", die dann bereits im Februar des Jahres erscheint. Damit beginnt E. T. A. Hoffmanns Karriere als Schriftsteller.

Beginn der Schriftsteller-Karriere: "Ritter Gluck"
"Ritter Gluck" weist schon viele Merkmale Hoffmannschen Erzählens auf, wie überhaupt die meisten seiner Erzählungen einem Grundmuster folgen, das er lediglich variiert. [6] Diese Eigenart seines Werkes führt nach Ansicht zahlreicher Literaturwissenschaftler dazu, dass es innerhalb seines Werkes keinerlei Entwicklung gibt. [7] In der Erzählung "Ritter Gluck" trifft ein Ich-Erzähler in einem Berliner Kaffee einen seltsamen Fremden. Sie geraten in ein Gespräch über Musik allgemein, über musikalische Aufführungen in Berlin im weiteren und über die Werke des vor einigen Jahren verstorbenen Komponisten Christoph Willibald Gluck im besonderen. Der Fremde schildert in langen, mythologisch-mythischen Ausführungen das Wesen der musikalischen Inspiration. Plötzlich bricht der Fremde mitten in seiner Rede ab und läuft davon.

Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg: Junius 1998Einige Monate später trifft der Erzähler den Fremden vor einem Theater wieder, wo er einer Aufführung von Glucks "Armida" lauscht. Er spricht ihn an und beide nehmen ihre einstige Diskussion wieder auf: der Fremde beklagt sich über die Art und Weise, wie Gluck in Berlin aufgeführt werde. Die Einwände des Erzählers lässt er nicht gelten und lädt ihn schließlich zu sich nach Hause ein, um ihn dort von seinen Ansichten zu überzeugen. Der Erzähler folgt ihm. In der Wohnung des Fremden angekommen, findet er im Regal sämtliche Werke Glucks vor. Der Fremde nimmt eines davon und beginnt es am Klavier zu spielen. Groß ist das Erstaunen des Erzählers, dass überhaupt keine Noten auf den Blättern stehen, noch größer sein Erstaunen darüber, wie der Fremde die Werke Glucks spielt: er variiert nämlich die Werke ganz im Sinne des Komponisten. Auf seine überraschte Frage: "Was ist das? Wer sind Sie?", verschwindet der Fremde in ein Nebenzimmer und kehrt bald darauf in einem Galakostüm vergangener Tage zurück und antwortet ihm sonderbar lächelnd: "Ich bin der Ritter Gluck!"

Hoffmann hat das erzählte Geschehen im Berlin des Jahres 1806/1807 situiert, nennt bekannte Straßen, Plätze und Cafés. In dieser realen Kulisse lässt er den verstorbenen Komponisten Christoph Willibald Gluck auftreten. Realität und phantastische Begebenheit überschneiden sich, gehen scheinbar nahtlos und oftmals unmerklich für den Leser ineinander über. [8] Der Leser ist herausgefordert, ob er das Erscheinen des toten Glucks im realen Berlin als Gespensterglaube abtun will (jahrzehntelang hing Hoffmann der Spitzname "Gespenster-Hoffmann" an), ob er dem Ich-Erzähler ein Hirngespinst unterstellen will, ob er den Vorfall metaphorisch verstehen will (der Geist Glucks wird beschworen), ob er in dem seltsamen Fremden einen Verrückten erblickt, der sich für Gluck hält, oder ob er darin eine Form höchster Artistik sehen will, die artifizielle Aufhebung von Realität und Phantastik innerhalb der Kunst. [9]

Gefangen in Inspirationen
G. R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart: Metzler 1988Im Februar 1809 erklärt Cuno seinen Bankrott. Ein Gremium aus angesehenen Bürgern übernimmt die Leitung der Bühne. Hoffmann lebt derweil von seinem Einkommen als Musiklehrer, vertreibt in Kommission Musikalien für den Musikverlag Breitkopf & Härtel, bei dem auch die "Allgemeine Musikalische Zeitschrift" erscheint, und schreibt Rezensionen, Kritiken und Erzählungen für die AMZ. Wegweisend sind dabei insbesondere sein Aufsatz über Beethovens 5. Sinfonie, die Erzählung "Don Juan", die eine Interpretation von Mozarts Oper "Don Giovanni" enthält, und die Erfindung der Gestalt des Kapellmeister Johannes Kreisler, des romantischen Künstlers par excellence. Gefangen in seinen Inspirationen, die in einer endgültigen Gestalt zu Papier zu bringen ihm permanent misslingt, leidet er an dem Unverständnis und der Kunstfeindlichkeit seiner Umwelt. Glück findet er immer nur in der Sphäre seiner Phantasien und der Musik. Über Jahrzehnte galt Kreisler als alter ego seines Erfinders E. T. A. Hoffmann - Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" gibt davon bis zum heutigen Tag Zeugnis. Dabei wird einmal übersehen, dass der Erzähler sehr wohl Kritik an Kreisler übt, dass er ihn und seine Leiden auch ironisiert, dass also bereits auf dieser Ebene Distanz zu Kreisler hergestellt wird. Übersehen wird auch, dass Hoffmann ein glänzender Jurist war, der niemals diese berufliche Laufbahn mit solchem Erfolg eingeschlagen hätte, würde er wie Kreisler über ein gebrochenes Verhältnis zur Realität verfügen.

Erfolge und Lebenskrisen
Seinen beruflichen Höhepunkt in Bamberg erlebte Hoffmann ab dem Frühjahr 1810. Sein Freund Franz von Holbein übernahm die Leitung des Bamberger Theaters. Gemeinsam mit ihm sorgte Hoffmann als Dramaturg, Komponist, Regisseur und Bühnenbildner für eine Blütezeit der Provinzbühne: sie brachten Heinrich von Kleists "Käthchen von Heilbronn" in den Kulissen Hoffmanns in deutscher Erstaufführung auf die Bühne und brachten dem Theater Aufmerksamkeit und Anerkennung mit ihren Inszenierungen der Werke Calderons. Diese Blüte dauerte bis in den Sommer 1812, als Holbein Bamberg wieder verließ.

Bamberg ist auch der Ort einer der schwersten Lebenskrisen Hoffmanns. Seit einiger Zeit gibt er im Hause Mark Musikunterricht und verliebt sich dort in die 15-jährige Julia. Sie ist für ihn Inbegriff himmlischer Musik, die völlig unbefleckt vom Irdischen ist. Joachim Rosteutscher spricht von einem "ästhetischen Idol" [10]. In dieser Reinheit will er sie erhalten, wohlwissend, dass dies unmöglich ist. Sein Tagebuch aus dieser Zeit dokumentiert seine Leiden und seine Wirrungen, die er allzu oft im Alkohol zu ertränken versucht. [11] 1812 spitzt sich die Lage zu, denn Julia Mark soll mit einem Hamburger Kaufmann namens Groepel verheiratet werden. Anfang September nimmt Hoffmann an einem Ausflug der Familie Mark, der beiden Verlobten und einigen anderen Bamberger Familien nach Pommersfelden teil. Dort kommt es zum Eklat, als Hoffmann mit seinem ganzen Hass gegen Groepel hervorbricht. Hoffmann wird des Hauses verwiesen, auch andere angesehene Familien aus Bamberg schneiden ihn fortan. An ein weiteres Bleiben ist nicht länger zu denken. (Die Ehe Julia Marks sollte übrigens unglücklich werden und schließlich scheitern. In zweiter Ehe heiratete sie später einen Cousin. Ihr Enkel war der Expressionist Franz Marc).

Abschied aus Bamberg
Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt 1999Rochlitz vermittelt ihm eine Stelle als Kapellmeister bei der Theatertruppe von Joseph Seconda, die zwischen Dresden und Leipzig hin- und herpendelt. Im April 1813 verlässt Hoffmann Bamberg und reist nach Dresden. Wenige Tage zuvor unterschrieb er seinen ersten Verlagsvertrag. Der Bamberger Weinhändler und Verleger Carl Friedrich Kunz will die Aufsätze und Erzählungen, die bislang in der AMZ erschienen sind, gesammelt und um weitere Beiträge ergänzt als Buch herausgeben. Auf diesem Vertrag unterzeichnet Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann erstmals als Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Der Tausch wurde durch Hoffmanns Bewunderung für Mozart inspiriert. Noch eine weitere Vereinbarung kam in diesen Tagen zustande: durch Vermittlung seines Freundes Julius Eduard Hitzig, der die Zeit seiner Arbeitslosigkeit als Verleger überbrückte, erhielt E. T. A. Hoffmann die Zustimmung von Friedrich Baron de la Motte-Fouqué dessen Erzählung "Undine" als Opernvorlage benutzen zu dürfen; Fouqué selbst wollte das Libretto liefern. Diese günstigen Aussichten erleichterten den Abschied aus Bamberg.

Mit der Übersiedlung von Bamberg nach Dresden geriet Hoffmann vom Regen in die Traufe. Erst stürzte die Postkutsche um und Hoffmanns Frau Michalina, die trotz seiner unglücklichen Liebe zu Julia Mark stets zu ihm gehalten hatte, wurde schwer verletzt. In Dresden angekommen, stellte sich heraus, dass Seconda mit seiner Truppe bereits nach Leipzig abgereist war. Er wollte auf diese Weise den heranrückenden französischen und alliierten Truppen entgehen. Gerade in diesen Tagen nämlich kehrte die dezimierte Große Armee Napoleons aus Russland zurück. Alliierte Truppen erwarteten die Überreste des einstmals stolzen Heeres bereits, um Napoleon endgültig zu vernichten. Dresden wurde belagert und bombardiert. Am 20. Mai schaffte es Hoffmann mit seiner wiedergenesenen Frau nach Leipzig zu gelangen. Dort war die Lage nicht viel besser: unter Nerven aufreibendem Artilleriebeschuss leitete Hoffmann die Aufführungen, die Besucher blieben aus, Seconda war deshalb außerstande, die Gehälter für seine Angestellten zu zahlen.

"Der goldne Topf"
Trost findet Hoffmann in diesen Tagen in der Arbeit an seiner Oper "Undine" und an der Märchenerzählung "Der goldne Topf". In diesem Märchen erzählt er die Abenteuer des tölpelhaften Studenten Anselmus, der sich in Dresden in die Tochter des Archivarius Lindhorst verliebt, die Schlange Serpentina. Hinter der Gestalt des Archivarius verbirgt sich ein Feuersalamander, der wegen einer Jugendsünde aus seiner mythischen Welt Atlantis verbannt wurde und nun in Dresden lebt. Gelingt es ihm, seine drei Töchter an Jünglinge mit poetischem Sinn zu verheiraten, darf er zurückkehren. Eine hexenhafte Nebenbuhlerin, die Rauerin, versucht dies zu verhindern. Anselmus gerät zwischen die Fronten: immer wieder verwandelt sich für ihn unter dem Einfluss von Serpentina und ihrem Vater die wohlbekannte Alltagswelt Dresdens in märchenhafte Räume, die gleich darauf unter dem desillusionierenden Einfluss der Rauerin wieder verschwinden. Das Nebeneinander von Alltagswelt und phantastisch-mythischer Welt, in "Ritter Gluck" erstmals ausprobiert, wird in "Der goldne Topf" erweitert und ausgebaut. Gehetzt von seinen Dämonen verliert Anselmus den Glauben an die mythische Welt Atlantis und wird zur Strafe in eine Kristallflasche eingesperrt. Dort findet er zurück zu Glaube, Liebe und Hoffnung, zurück zu Serpentina, und wird deshalb erlöst. Lindhorst schlägt die Rauerin im entscheidenden Kampf, Anselmus wird aus der Kristallflasche befreit und an der Seite Serpentinas nach Atlantis entrückt.

Helmut Peters (Hrsg.): Hoffmanns Welt. 2 CDs. Universal Family/Oetinger 1998In vieldeutiger Weise schildert Hoffmann dieses Geschehen: Johannes Harnischfeger sieht darin die Wiedergabe des psychologischen Prozesses einer Regression [12], das Ende lässt sich auch als Selbstmord Anselmus' interpretieren [13]. Eine Bezugnahme auf die Psychologie, insbesondere auf die psychologischen Erkenntnisse der Zeit, ist durchaus berechtigt. E. T. A. Hoffmann kannte die einschlägige psychologische Literatur bestens (ein von ihm einige Jahre später in Berlin abgefasstes juristisches Gutachten im Mordfall Schmolling listet seine umfangreichen Kenntnisse auf), in Bamberg war er mit Dr. Adalbert Friedrich Marcus befreundet, einem führenden Irrenarzt seiner Zeit (für ihn hat Hoffmann ein Turmzimmer auf der Alten Burg ausgemalt, das leider nicht erhalten geblieben ist). Meines Erachtens sollten die psychologischen Aspekte jedoch nicht losgelöst betrachtet werden von der zeitgenössischen romantischen Naturphilosophie und ihren Spekulationen, insbesondere Gotthilf Heinrich Schuberts "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" und "Die Symbolik des Traumes" sowie Schellings "Von der Weltseele". Beide betonen, dass die Dinge in der Welt Ausfluss eines Mit- und Gegeneinanders zweier Pole seien, die von ihnen gemeinhin als Geist und Materie bezeichnet werden. Ganz in diesem Sinne gestaltet Hoffmann seine Erzählungen als Auseinandersetzung widerstreitender Kräfte sowohl im Innern des Menschen als auch in der Außenwelt. Endpunkt dieser Entwicklung ist sowohl für Schubert wie auch für Schelling die Überwindung dieses Dualismus, der endgültige Sieg der geistigen Kräfte über die Materie. Solange dieser Kampf jedoch noch anhält, gilt es aus der gewonnenen philosophischen Einsicht heraus auf den positiven Fortgang der Geschichte zu hoffen.

Die zweipolige Struktur der irdischen Erscheinungen
E. T. A. Hoffmann plädiert für eine Erkenntnis der Duplizität, für das Wissen um diese zweipolige Struktur der irdischen Erscheinungen. Den Gegensatz dazu bildet der von ihm so genannte Dualismus, wo stets eine Seite gegenüber der anderen dominiert. Alle Figuren, die im Dualismus verharren, werden in seinen Erzählungen kritisch dargestellt. Das heißt nun nicht, dass E. T. A. Hoffmann an Gespenster, Wiedergänger, Hexen und Zauberer, wie sie in seinen Erzählungen auftreten und die verschiedenen Kräfte verkörpern, glaubt: seine Erzählungen sind metaphorische Gestaltungen des Widerstreits universeller Kräfte. Hierin liegt die Wirklichkeit eines Archivarius Lindhorst, einer Rauerin oder später eines Coppelius. Doch der Trost, den die Kunst spendet, hilft nicht weiter, wenn das Gehalt ausbleibt, die Spannungen innerhalb der Theatertruppe zunehmen und Hoffmann immer öfter mit dem Leiter der Truppe, Seconda, aneinander gerät.

Niederlagen und Erfolge
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Frankfurt/M.: Insel 2000Im Juli 1814 trifft Hoffmanns Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel im befreiten Dresden ein. Mit ihm erörtert Hoffmann die Möglichkeiten einer Rückkehr in den Staatsdienst. Hippel lässt seinen beträchtlichen Einfluss spielen und erreicht es tatsächlich, dass Hoffmann im Oktober des Jahres am Kammergericht in Berlin seine berufliche Laufbahn als Jurist wieder aufnehmen konnte. War er damit als Künstler gescheitert: zweimal hatte sich Hoffmann als musikalischer Leiter versucht, doch sowohl in Bamberg als auch bei Seconda war er gescheitert. Das Scheitern kann durchaus mit den äußeren Umständen begründet werden, doch herrschten an anderen Bühnen etwa andere Umstände? Zumindest Seconda war ein anerkannter und erfolgreicher Theatermann. Mit Sicherheit erinnerte sich Hoffmann auch noch an Bamberg zurück, wo das Orchester sich schlichtweg geweigert hatte, mit dem "Auswärtigen" zusammenzuarbeiten. Hoffmann empfand zweifellos sein Scheitern am Theater als eine persönliche Niederlage, vor allem als Musiker.

Als er im September in Berlin eintraf, war sein erstes Buch, die "Fantasiestücke in Callots Manier", bei Kunz in Bamberg erschienen. Sie machten ihren Autor über Nacht berühmt. Hoffmann war Stadtgespräch in der preußischen Metropole. Und auch ein großer Erfolg als Komponist sollte ihm schließlich gelingen: er hatte seine Oper "Undine" beendet. In märchenhaften Kulissen des bekannten Architekten Schinkel erlebte sie am 3. August 1816 ihre Uraufführung im Königlichen Schauspielhaus. Die erfolgreiche Geschichte ihrer Aufführungen endete nach etwa elf Vorstellungen mit dem Brand des Theaters, dem auch die Kulissen zum Opfer fielen. Nach dem Wiederaufbau des Schauspielhauses war noch kurz von einer Wiederaufnahme der Oper in einer überarbeiteten Fassung die Rede, was jedoch niemals zustande kam.

"Der Sandmann"
P.Chr. Giese (Hrsg.): Lektürehilfen. E.T.A. Hoffmann - Der Sandmann. Stuttgart: Klett 2002In den folgenden Jahren war E. T. A. Hoffmann am Kammergericht erfolgreich tätig [14] und stieg zu einem der bestbezahlten Autoren seiner Zeit auf. Den "Fantasiestücken" folgten schon bald ihr Pendant, die "Nachtstücke". Aus dieser Sammlung wurde insbesondere die Erzählung "Der Sandmann", schon von Sigmund Freud zum Gegenstand psychoanalytischer Betrachtungen gemacht, bekannt. Triumphierten im "Goldnen Topf" noch die guten Mächte, so erzählt "Der Sandmann" von Sieg des Bösen. Unter dem Einfluss des scheinbar unsterblichen Coppelius, der schon seinen Vater zu Grunde richtete, verliebt sich der Student Nathanael in die lebensgroße mechanische Puppe Olympia. Als Nathanael dies erkennen muss, verfällt er dem Wahnsinn. Nach seiner Erholung kehrt er zurück zu seiner Verlobten Clara. Bei einem gemeinsamen Ausflug auf einen hohen Turm, glaubt er unten im Menschengewimmel Coppelius wiederzuerkennen. Gepackt vom Wahnsinn will er Clara den Turm hinabschleudern, kann jedoch daran gehindert werden, woraufhin er selbst in den Tod springt.

Die facettenreiche Erzählung, die widersprüchliche Perspektiven und Ansichten vermischt, erzielt eine Vieldeutigkeit, die einen irritierten Leser zurücklässt. Hinzu kommt ein dichtes Netzwerk metaphorischer Bilder und Anspielungen, wobei ganz besonders die Metaphernkomplexe Auge und optische Instrumente eine zentrale Rolle spielen. Ähnlich arbeitet der Roman "Die Elixiere des Teufels": eine wirre Geschichte um einen mordenden Mönch - oder war es sein Doppelgänger, der diese Untaten beging? Die Beschreibung einer Ich-Spaltung nimmt wissenschaftliche Analysen der Schizophrenie vorweg, bringt sie in Bezug zu frühkindlichen Prägungen und lockt deshalb seit ihrem Erscheinen viele Psychoanalytiker und Psychologen an.

"Die Serapionsbrüder"
Peter Härtling: Hoffmann oder Die vielfältige Liebe. Eine Romanze. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001Hoffmanns bevorzugtes Medium zur Veröffentlichung seiner Erzählungen waren Jahrbücher und Almanache. Die Herausgeber zahlten hervorragend und verlangten Erzählungen von übersichtlicher Länge, die sich neben der juristischen Arbeit leicht schreiben ließen. Ergänzt um wenige neue Beiträge veröffentlichte Hoffmann diese Erzählungen später in der Sammlung "Die Serapionsbrüder." Der Titel greift den Namen eines Freundeskreises auf, der sich um Hoffmann in Berlin gebildet hatte. In unregelmäßigen Abständen traf sich Hoffmann mit seinem Kollegen Julius Eduard Hitzig, den Schriftstellern Adalbert von Chamisso und Carl Wilhelm Salice Contessa sowie dem Arzt David Ferdinand Koreff zum Meinungsaustausch und zum Erzählen neuer Geschichten. Die 28 Erzählungen und Essays in "Die Serapionsbrüder" sind eingebettet in eine Diskussion zwischen mehreren Freunden über Literatur, Musik und die erzählten Geschichten. Eine besondere Stellung nimmt dabei die erste Erzählung der Sammlung, "Der Einsiedler Serapion", ein. Ein Verrückter lebt in einem Wald nahe einer Stadt und hält sich für den Einsiedler und Märtyrer Serapion. Der Ich-Erzähler will ihn von diesem Wahnsinn heilen, muss sich jedoch belehren lassen, dass er selbst verrückt sei, wenn er meine, einen Verrückten heilen zu können. Anschließend erzählt ihm der Einsiedler mit einer solchen berückenden Kraft eine Erzählung, dass der Ich-Erzähler völlig hingerissen ist. Serapions Wahnsinn, seine völlig Loslösung von der Realität, gibt seinen Erzählungen ihr magisches Kolorit. Er geht völlig in seinen Phantasien auf, ganz im Gegensatz zu manchem Schriftsteller, der dies vergeblich versucht:

"Woher kommt es anders, als daß der Dichter nicht das wirklich schaute wovon er spricht, daß die Tat, die Begebenheit vor seinen geistigen Augen sich mit allen Schauern, ihn nicht begeisterte, entzündete, so daß nur die inneren Flammen ausströmen durften in feurigen Worten: Vergebens ist das Mühen des Dichters uns dahin zu bringe, daß wir daran glauben sollen, woran er selbst nicht glaubt, nicht glauben kann, weil er es nicht erschaute."

Diese erzählerische Kraft wollen die Serapionsbrüder auch in ihren Erzählungen realisieren, doch dabei im Gegensatz zu Serapion stets eingedenk sein, dass die Realität der Hebel sei, der die menschliche Phantasie in Gang setze:

"Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgendein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist. Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt."

Politische Bekenntnisse
Die Ermordung des Schriftstellers Kotzebue durch einen Studenten 1819 hatte Auswirkungen auch auf E.T.A. Hoffmann. Der preußische Staat nutzte das Attentat, um gegen Burschenschaftler und Liberale vorzugehen. Hoffmann wurde Mitglied einer Immediat-Untersuchungs-Kommission, deren Aufgabe es war, die Ermittlungen gegen die Verdächtigen durchzuführen. Schon bald geriet der Jurist Hoffmann in Widerspruch zu den politischen Absichten, die mit dieser Kommission verfolgt wurden. Er vertrat energisch den Standpunkt, dass nur Taten und nicht Gesinnungen Gegenstand juristischer und polizeilicher Untersuchungen sein könnten. Also nicht unbedingt Sympathie mit den Inhaftierten trieben ihn an, sondern das Beharren auf klaren Rechtsgrundsätzen. Der Staatssekretär im Innenministerium, von Kamptz, wurde zum erbitterten Gegenspieler Hoffmanns, der die Rückendeckung seiner Kollegen in der Kommission hatte.

E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Mit Materialien. Hrsg. v. Wolfgang Pfister. Hollfeld: C. Bange 2002Am Fall des Turnvaters Jahn eskalierten die Auseinandersetzung: Friedrich Ludwig Jahn hatte die Turnerbewegung gegründet, um körperlich starke Soldaten im Kampf gegen das verhasste Frankreich heranzubilden. Viele Studenten schlossen sich dieser Bewegung an: man versprach ihnen, dass nach der erfolgreichen Befreiung von der französischen Besatzung eine Verfassung eingeführt würde. Nach der Niederlage Napoleons erwies sich dieses Versprechen schon bald als gegenstandslos. Das alte absolutistische System wurde wiederhergestellt und durch einen Bund der größten europäischen Staaten, geschlossen auf dem Wiener Kongress, befestigt. Jahns Wunschtraum war stets die Rückkehr zu germanischen Tugenden: für ihn persönlich hieß dies, dass er sich Haare und Bart wachsen ließ, das Waschen als zivilisatorische Schwäche ansah und deshalb unterließ und die Franzosen gerade so sehr hasste wie der ordentliche Germane einstmals die Römer. Aus dieser Gesinnung machte er keinen Hehl, doch resultierten aus ihr auch keine strafbaren Handlungen, so dass Hoffmann keine juristische Handhabe gegen Jahn sah. Er veranlasste dessen Freilassung, von Kamptz verfügte die erneute Inhaftierung und weitere Untersuchungen. Tagebücher und Briefe der Inhaftierten wurden untersucht, aus fadenscheinigen Formulierungen Anklagen gebastelt.

"Kater Murr"
In seinem Roman "Lebens-Ansichten des Katers Murr" griff Hoffmann erstmals diese Praktiken an. Doch dies blieb noch unbemerkt. Die Idee, einen Kater, der sich das Schreiben beigebracht hatte, seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen, war offensichtlich skurril genug, um von politischen Angriffen abzulenken. Noch verwirrender wird die Konstruktion dieses Romans dadurch, dass der Kater angeblich für die Abfassung seiner Lebensgeschichte ein anderes Buch zerriss und dessen Blätter als Löschpapier verwendete. Bei der Drucklegung, so berichtet der Herausgeber im Vorwort, sei nun ein peinlicher Fehler passiert: beide Texte, die Lebensgeschichte des Katers und die Geschichte aus dem anderen Buch, seien versehentlich gemeinsam abgedruckt worden. So ende immer wieder abrupt die Biographie des Katers und ebenso abrupt beginne die Geschichte eines gewissen Kapellmeisters Kreisler. Aus der Gegenüberstellung des selbst ernannten Künstlers Murr und des an der Welt und den Menschen leidenden romantischen Künstlers Kreislers bezieht der Roman einen Großteil seiner Komik, seiner Tragik und seiner Tragikomik, denn dies alles vermischt sich im Text.

"Meister Floh"
E.T.A. HoffmannDas Märchen "Meister Floh", das dem bekannten Märchenschema E. T. A. Hoffmanns folgte - wenngleich in den späten Märchen das Glück nicht in Gestalt einer Entrückung in ein fernes Märchenreich auf die Helden wartete, sondern in der Erkenntnis der allgemeinen Duplizität, was ein glückliches Leben im Hier und Jetzt garantierte, lag -, dieses Märchen also, erneuerte die Angriffe gegen von Kamptz, der in der Gestalt Knarrpantis karikiert wurde. Hoffmann benutzte inkriminierte Tagebuchstellen aus seinen Akten, um das Verfahren gegen politisch Unliebsame satirisch bloßzustellen. Unvorsichtigerweise erzählte er davon: im Weinhaus Lutter & Wegner, wo er und sein Freund, der berühmte Schauspieler Ludwig Devrient, Stammgäste waren, gab er seine satirischen Absichten preis. Das Innenministerium ließ daraufhin das Manuskript beim Verlag in Frankfurt beschlagnahmen. Hoffmann drohte ein Disziplinarverfahren, doch war er zwischenzeitlich schwer erkrankt. Schon auf dem Krankenbett diktierte er eine brillante Verteidigungsschrift: von Kamptz musste den Argumenten Hoffmanns zustimmen, wollte er nicht seine Karikatur in "Meister Floh" bestätigen. Auch Hippel war schon wieder im Hintergrund tätig. Niemand weiß, wie das Verfahren geendet hätte, denn E. T. A. Hoffmann starb am 25. Juni 1822. Von Kamptz, der später Polizeiminister wurde, und Innenminister Schuckmann verfolgten Hoffmanns Witwe noch mit ihrem Hass. Sie weigerten sich standhaft, ausstehende Gehälter an die Witwe dieses "Aussätzigen" (so Schuckmann in einem Brief an Justizminister Dankelman vom 18. Oktober 1828) zu zahlen.

Urteile
Das literarische Verdammnisurteil über Hoffmann fällte kein geringerer als Goethe:

"... denn welcher treue, für Nationalbildung besorgte Theilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutend-fördernde Neuigkeiten gesunden Gemüthern eingeimpft worden." [15]

Das Urteil Goethes galt in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein als verbindlich. In Russland und Frankreich jedoch fanden Hoffmann und sein Werk schnell Freunde. Die französischen Romantiker bewunderten seine Erzählungen, Baudelaire pries seine Erzählung "Prinzessin Brambilla" als einen Katechismus der hohen Ästhetik und in St. Petersburg gründeten Bewunderer einen Serapionsbund. In beiden Ländern gehört Hoffmann bis zum heutigen Tag zu den meist gelesenen deutschsprachigen Autoren. Seit den sechziger Jahren lebte auch in Deutschland das Interesse wieder auf. Heute gilt E. T. A. Hoffmann als einer der herausragenden Erzähler der Romantik und sein Werk als ein wichtiger Beitrag an der Nahtstelle zwischen traditionellem und modernem Erzählen, das in seiner Vielschichtigkeit immer wieder neue Impulse aussendet, sich ihm aus den unterschiedlichsten Perspektiven und mit den verschiedensten Methoden zu widmen.

Stefan Ringel

© TourLiteratur / Autor
Alle Rechte vorbehalten

Stefan Ringel ist Autor des Buches:
Realität und Einbildungskraft im Werk E.T.A. Hoffmanns. Weimar: Böhlau Verlag 1997.

Buchcover (von oben nach unten):
1) Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phntasten. München: Hanser Verlag 1998.
2) Gabrielle Wittkop-Menardeau: E.T.A. Hoffmann. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt Verlag 2000.
3) Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns. Freiburg/Br.: Rombach Verlag 1996. (= Rombach Litterae.)
4) Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. München: Edition Text + Kritik 1992.
5) Sandro M. Moraldo (Hrsg.): Das Land der Sehnsucht. E.T.A. Hoffmann und Italien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2002.
6) Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 1998.
7) Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart: Metzler Verlag 1988. (= Sammlung Metzler.)
8) Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1999.
9) Helmut Peters (Hrsg.): Hoffmanns Welt. 2 CDs. Universal Family/Oetinger 1998.
10) E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Mit Illustrationen von Hugo Steiner-Prag und einem Nachwort von Jochen Schmidt. Frankfurt/Main: Insel Verlag 2000.
11) Peter Christian Giese (Hrsg.): Lektürehilfen. E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. Stuttgart: Klett Verlag 2002.
12) Peter Härtlings E.T.A.-Hoffmann-Roman: Hoffmann oder Die vielfältige Liebe. Eine Romanze. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001.
13) E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Mit Materialien. Hrsg. v. Wolfgang Pfister. Hollfeld: C. Bange Verlag 2002. (= Königs Erläuterungen und Materialien.)

Weiterführende Links zu E.T.A. Hoffmann
Sekundärliteratur zum Autor

Anmerkungen

[1] Hoffmann, E.T.A.: Phantasie- und Nachtstücke. München: Winkler 1960. S. 308. [zurück]

[2] Brief an Theodor Gottlieb von Hippel vom 11. - 14. Mai 1804, abgedruckt in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. 3 Bde. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Hrsg. v. Friedrich Schnapp. Bd. 1: Königsberg bis Leipzig 1794 - 1814. München: Winkler 1967. S 190. [zurück]

[3] E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. 3 Bde. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Hrsg. v. Friedrich Schnapp. Bd. 1: Königsberg bis Leipzig 1794 - 1814. München: Winkler 1967. S 190 f. [zurück]

[4] E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung von Friedrich Schnapp. München: Winkler 1974. S. 95. [zurück]

[5] E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung von Friedrich Schnapp. München: Winkler 1974. S. 107. [zurück]

[6] Vgl. Nehring, Wolfgang: E.T.A. Hoffmanns Erzählwerk. Ein Modell und seine Variationen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (1976), Sonderheft. S. 3 - 24. [zurück]

[7] Im Gegensatz dazu: Köhn, Lothar: Vieldeutige Welt. Studien zur Struktur der Erzählungen E.T.A. Hoffmanns und zur Entwicklung seines Werkes. Tübingen 1966, der vorsichtig von einer Tendenz im Werk E. T. A. Hoffmanns spricht. Vgl. auch Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns. Freiburg 1996. Und: Ringel, Stefan: Realität und Einbildungskraft im Werk E.T.A. Hoffmanns. Köln, Weimar u. Wien 1997. [zurück]

[8] Zur Technik des Übergangs vgl. Deterding, Klaus: Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E. T. A. Hoffmann. Zur Konstitution des Poetischen in den Werken und Selbstzeugnissen. Frankfurt a. M., Bern, New York u. Paris 1991. [zurück]

[9] Vgl. Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart u. Weimar 1993. Vgl. des weiteren vom gleichen Autor: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin 1999. [zurück]

[10] Vgl. Rosteutscher, Joachim: Das ästhetische Idol im Werke von Winckelmann, Novalis, Hoffmann, Goethe, George und Rilke. Bern 1956. [zurück]

[11] Hoffmann, E.T.A.: Tagebücher. Nach der Ausgabe Hans von Müllers mit Erläuterungen v. Friedrich Schnapp. München u. Darmstadt 1971. [zurück]

[12] Vgl. Harnischfeger, Johannes: Die Hieroglyphen der inneren Welt. Romantikkritik bei E.T.A. Hoffmann. Opladen 1988. [zurück]

[13] Vgl. Auhuber, Friedhelm: In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen 1986. [zurück]

[14] Einen Einblick gibt: Hoffmann, E.T.A.: Juristische Arbeiten. Hrsg. und erläutert von Friedrich Schnapp. München: Winkler 1973. [zurück]

[15] E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung von Friedrich Schnapp. München: Winkler 1974. S. 747. [zurück]

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