Chronik literarischer Wanderungen
Ein Ausstellungs- und Internetprojekt über die türkische und türkischdeutsche Literatur
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Türkische Literatur in deutscher Sprache (1800-2008)
Dialog Edition, Duisburg 2008, 144 Seiten,
16,00 Euro (D), ISBN 978-3-9812594-0-7Türkischdeutsche Literatur
Chronik literarischer Wanderungen
Dialog Edition, Duisburg 2008, 92 Seiten,
12,00 Euro (D), ISBN 978-3-9812594-1-4
Die größte Migrantengruppe in Nordrhein-Westfalen stammt aus der Türkei. Die Rede über Integrationsprobleme der MigrantInnen bezieht sich oftmals nur auf die türkischstämmige Bevölkerung. Deren große Bedeutung in NRW lässt sich am Beispiel der Stadt Duisburg verdeutlichen: Duisburg hat etwa 500.000 Einwohner, zwölf Prozent stammen aus der Türkei, bei der jungen Generation sind es rund dreißig Prozent. Türkisch ist in einigen Stadtteilen die Mehrheitssprache. Im öffentlichen Leben der Stadt, wie etwa in der Straßenbahn, im Kaufhaus, auf Straßen und Plätzen oder in der Gastronomie, ist sie vielfach gegenwärtig. Häufig löst die Präsenz oder gar Dominanz einer unverständlichen Sprache in der „eigenen” Stadt bei der alteingesessenen, deutschstämmigen Bevölkerung ein Gefühl von Fremdheit und auch Bedrohung aus. Um solchen Erfahrungen und Ängsten zu begegnen, ist es wichtig, Deutschen einen Zugang zur türkischen Kultur zu ermöglichen. Wenn die türkische Kultur die Chance hat, sich mittels der deutschen Sprache selbst darzustellen, so ist dies die beste Grundlage für den Dialog und die Integration in die plurale Kultur Deutschlands. Wichtige Mittler sind hierbei öffentliche Kulturinstitute und Träger der kulturellen Bildung. Oft fehlen ihnen allerdings Medien und Material, die einen authentischen und verständlich angelegten Zugang zur türkischen Kultur und ihren Künsten ermöglichen. Diese Lücke will das Projekt „Literaturen aus Deutschlands Nischen” von Dialog e.V. Duisburg schließen.
Das von der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen geförderte Projekt setzt zwei Schwerpunkte: die Erarbeitung einer Wanderausstellung und die Einrichtung eines Internetarchivs. Die Ausstellung ist in zwei Teile gegliedert: Sie präsentiert erstens die türkischdeutsche Literatur, die im Zusammenhang mit der Einwanderung nach Deutschland entstanden ist und zweitens Literatur türkischer Autoren, die ins Deutsche übersetzt wurde.
Türkisch-deutsche Literaturbeziehungen: ein ungleicher Austausch
Türkische Literatur in deutscher Sprache eröffnet vielseitige authentische Einblicke in eine Kultur, die ihre Rolle in Europa spielen will und kann. Anders als die Literatur aus den anderen ehemaligen Anwerbeländern Südeuropas, wie zum Beispiel Spanien, Griechenland oder Italien, die über den internationalen Buchmarkt eine größere Beachtung findet, ist die der Türkei in der europäischen Literaturrezeption unterrepräsentiert. Laut Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels wurden 2004 nur vier belletristische Texte aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt, das sind 0,2 Prozent aller neuen Belletristik-Übersetzungen.
Arbeitsmigration und literarische Integration
Den seit den sechziger Jahren nach Deutschland eingewanderten TürkInnen standen keinerlei Vorbilder zur Verfügung, die ihnen gezeigt hätten, was der Übergang vom Leben als Bauer zu dem als Arbeiter, von den ländlichen kulturellen Traditionen zur Modernität bedeutet. Sie brachten nicht mehr mit als ihre eigene Sprache, die sie nur leidlich beherrschten. Sie waren unvorbereitet, ihnen fehlte eine Brücke, es mangelte an Mitteln, um Kontakt zu der Gesellschaft aufnehmen zu können, in die sie nun gekommen waren. Wie von einem Sturm überrascht, rückten sie ratlos eng zusammen. Ihre Wohnviertel, Kaffeehäuser, Lebensmittelläden, Moscheen und Heimatvereine waren die (sogenannten Trans-) Institutionen, die ihnen den Übergang ermöglichten und gewissermaßen zu Pfeilern dieser zunächst fehlenden Brücke wurden. Innerhalb dieser Entwicklung bildeten sich die Grundlagen einer kulturellen Infrastruktur, als deren Teil die „Gastarbeiterliteratur”, Migranten- , beziehungsweise Migrationsliteratur entstand. Die soziale Basis dieser Literatur konstituiert sich zum einen aus schreibenden türkischen Arbeitern, zum anderen aus türkischen Intellektuellen, insbesondere Schriftstellern, die im Zuge der Einwanderungswelle ebenfalls in die Bundesrepublik kamen.
Die türkische Migrationsliteratur zeichnet sich durch verschiedene Charakteristika aus: Texte, die auf Türkisch geschrieben wurden und nur in der Originalsprache erschienen sind; Texte, die in der Fremdsprache Deutsch geschrieben wurden und auch nur auf Deutsch erschienen sind; Texte, die auf Türkisch geschrieben wurden aber nur oder auch in einer deutschen Übersetzung erschienen sind und letztlich Texte, die in zwei- oder mehrsprachigen Ausgaben erschienen sind. In letzter Zeit lassen sich in Deutschland Namen von MigrantInnen auf den Gebieten von Literatur, Film oder bildender Kunst immer häufiger wahrnehmen. Dass KünstlerInnen aus Migrantenfamilien auch auf internationaler Ebene erfolgreich sind und weltweit Preise erhalten, hat ihren spezifischen Beitrag zum kulturellen und künstlerischen Leben Deutschlands in die aktuelle Diskussion gebracht. Über sie ist viel geschrieben und gesprochen worden. Die Ausstellung zeigt die Entstehung und Entwicklung dieser Literaturen und lädt zu einer literarischen Entdeckungsreise ein.
Die Ausstellung präsentiert auf Stoffbannern und Tafeln im attraktiven Design biografische Kurzportraits und großformatige Fotografien von AutorInnen. Ergänzt durch reproduzierte und vergrößerte gut gestaltete Buchdeckel, Wandlyrik und anderes grafisches Material entsteht ein sinnlich anregendes Panorama der türkischdeutschen und türkischen Literatur. Je nach den jeweiligen räumlichen und technischen Möglichkeiten werden auch eine Bücherschau und Literaturverfilmungen gezeigt. Musikalische Untermalung verdeutlicht die besondere Verbindung von Poesie und Musik in der türkischen Literatur.
Internetarchiv historischer Bücher
Wie bereits erwähnt, begannen die deutsch-türkischen Kulturbeziehungen schon lange vor der Arbeitsmigration der 1960er Jahre. Erste Veröffentlichungen osmanisch-türkischer Literatur in deutscher Sprache erschienen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit sind türkischsprachige Texte auf Deutsch erschienen, von denen viele nicht mehr auf dem Markt erhältlich sind und nur aufwendig über das Bibliothekssystem beschafft werden können. Diese Internetseite will den Zugang zu solchen Werken erleichtern. Bücher und Texte, deren Urheberrechte längst abgelaufen sind, werden eingescannt und dort publiziert. Doch www.tuerkischedeutsche-literatur.de will mehr werden als ein Archiv. Letztendlich digitales Abbild dieser und der Bibliographie „Türkische Literatur in deutscher Sprache“, wird die Internetseite eine laufend wachsende Datenbank türkischer Literatur in deutscher Sprache und der türkischdeutschen Literatur. Ergänzt wird das ganze durch Abbildungen der Text- und Fotobanner der Ausstellung. Eine wichtige Zielgruppe des Internetarchivs sind junge Türkischdeutsche, die auf der Suche nach ihren Wurzeln gern auf die historische türkischdeutsche Literatur zurückgreifen. Interessant ist das Archiv aber auch für all diejenigen, die mehr über die türkische Literatur und Kultur und über ihre Verbindungen zu Deutschland und Europa erfahren möchten.