Literatur in Tirol und Südtirol

Einblicke 

  

 

Interview mit Toni Bernhart,
Im Brenner-Archiv am 27. Mai 2011

Wie an die Volkstheatertradition in der gegenwärtigen Theaterszene Tirols angeknüpft wird bzw. wie sie verändert weiterwirkt, ist von Interesse - unter anderem auch in Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt "Frau Mundes Todsünden" das im Rahmen von Sparkling Science abgewickelt wurde/wird.
Die Sicht eines Autors, der unter anderem auch Volksstücke verfasst, darf bei so einer Bestandsaufnahme nicht fehlen. Toni Bernhart hat mit „Langes afn Zirblhouf“ (2002) wieder ein Volksstück geschrieben.
„Gschmugglt weart nicht mea“ wurde 2011 von der Theatergruppe ’s Lorgagassl in Stilfs uraufgeführt.
Neben diesem neuen Stück kam im Laufe des Gespräches die Rede auf die Rolle des Dialektes in Stücken, auf dramatische Vorbilder und auf die Arbeit mit Laienbühnen. Darüber hinaus stand Toni Bernharts Arbeit als Regisseur und als Herausgeber von historischen Volksstücken im Raum. Das Interview, von Barbara Hoiß geführt, wird hier gekürzt wiedergegeben.


Was reizte Dich daran, mit Gschmugglt weart nicht mea neun Jahre nach Langes afn Zirblhouf wieder ein Volksstück zu schreiben?

Neben dem Reiz waren ja auch die äußeren Umstände sehr wesentlich. Die Theatergruppe ’s Lorgagassl hatte den Wunsch, zu ihrem 10-jährigen Bestehen ein Stück von mir zu spielen. Da ist die nächste Frage, welches Stück möchten die denn spielen? Damit ist unausgesprochen die Entscheidung für diese Gattung schon gefallen. Der Regisseur Pankratius Eller ist sehr angetan von Langes afn Zirblhouf und hat sich so etwas in der Art gewünscht. Der Reiz war also von vornherein da. Das ist wichtig festzuhalten. Ich habe nicht entschieden, jetzt wieder ein Volksstück zu schreiben, sondern die Zusammenarbeit mit der Theatergruppe ’s Lorgagassl hat gewissermaßen vorgegeben, dass ich ein Volksstück schreibe. Ich war überzeugt, dass diese Theatergruppe ein Volksstück sehr gut spielen wird.
Der Reiz war schon sehr groß. Ich habe bisher ja nur ein Volksstück geschrieben. Das war Langes afn Zirblhouf. Das ist neun Jahre her. Wieder ein Stück im Dialekt zu schreiben, das hat mich schon interessiert. Den Dialekt als Bühnensprache zu verwenden.  Und bestimmte logische Gesetzmäßigkeiten, die am Dialekt hängen, auszuloten.

Du hast ja in Gschmugglt weart nicht mea die Einheit des Ortes bewahrt und alles in der Stube spielen lassen. Der Begräbniszug führt sogar durch die Stube durch. Welche Rolle spielt die Einheit des Ortes für das Stück?

Einheit des Ortes, nun ja, das war eher praktisch bedingt. Ortswechsel kann für eine Laienbühne ein bühnentechnisches Problem sein. Ich dachte, ich komme der Gruppe entgegen und belasse es bei einem Ort. Denn die Vorstellung eines linearen, kausalistischen Stückes kam auch meiner Idee sehr entgegen. Ich hatte also einen einzigen Ort, das ist in einem Volksstück immer die Stube. Und da drin muss alles passieren. Und wenn ich ein Begräbnis stattfinden lasse, dann muss das auch in der Stube stattfinden. Das sieht am Ende dann so aus, als hätte ich – akademisch gesprochen – die Einheit des Ortes gewahrt. Es war aber eher ein bühnenpraktischer Jux.

Die Figuren, die in der Stube sind, beschäftigen sich nur mit Randthemen. Schmuggeln, als Hauptthema, kommt nur selten vor. Man soll und will aber nicht darüber reden. Hier gibt es eine starke Parallele zu Langes afn Zirblhouf. Hier sprechen die Figuren über das zentrale Thema ebenfalls nicht. Über die wesentlichen Dinge wird geschwiegen. Die werden vor der Stube gelassen. Auch bei Martinisommer liegt der Schwerpunkt außerhalb. Interessiert dich dieses Außerhalb?

Das interessiert mich sehr. Ich lasse gerne Figuren über etwas sprechen, das überhaupt nicht zur Sache gehört. Und wenn es mir gelingt, trotzdem klarzumachen, worum es eigentlich geht, dann bin ich sehr zufrieden. Das ist für mich eine ganz wesentliche Triebfeder in der Dialoggestaltung. Mit Nichtinhalt oder scheinbarem Nichtinhalt die Welt zu erzählen. Da beginnt ein Dialog zu schillern. Wenn das gelingt und man sitzt im Publikum, dann tut sich etwas auf: Ein Graben, ein Paradies oder die Hölle. Ich brauche nur ein bisschen nachzuhelfen und für kurze Momente bestimmte Inhalte überdeutlich hinstellen. Bei Gschmugglt weart nicht mea macht das schon allein der Titel. Der legt alles fest. „Gschmugglt“ das erste Wort. Damit hat das Ganze einen Stempel. Jeder weiß, Schmuggeln ist das Thema. Ich kann dann schreiben, worüber ich will, aber das Ganze ist und bleibt ein Schmugglerstück. Eigentümlich ist noch die Negation, da habe ich lange darüber nachgedacht. Im Grunde geht es ja um die Setzung, um die Behauptung, da ist dann zweitrangig, ob etwas negiert wird. Thomas Bernhard hat dies in grandioser Weise durchdekliniert. Freilich, „Gschmugglt weart nicht mea“ ist auch  kein Schmugglerstück, das würde ich sofort unterschreiben. Wenn es da überraschenderweise oder enttäuschenderweise recht wenig ums Schmuggeln geht, das hat mehrere Gründe. Es wollten ja 15 Personen mitspielen. 15 Personen auf der Bühne sind sehr, sehr viele Personen. Ich hatte den Ehrgeiz, dass es keine Statistenrollen gibt, sondern dass jede Rolle ihre eigene Geschichte hat. Da sprengen die 15 Personen einfach das Stück. Je mehr Personen auftreten, umso mehr schwindet das Thema aus dem Stück. Mir gefiel es sehr gut, das Stück so verlaufen zu lassen. Schließlich ist Schmuggeln ein Thema, das ja auch Schmunzeln macht.
 
Inwiefern?

Es sind ja immer die gleichen klischeehaften Geschichten, die man so oft erzählt bekommt, bis man sie nicht mehr hören mag. So etwas wollte ich im Stück auch nicht nacherzählen. Dafür habe ich einen ziemlich langen Monolog geschrieben, der so ziemlich alle Schauergeschichten zusammenfasst, die es über das Schmuggeln zu erzählen gibt. Der Inhalt ist eine Collage aus vielen Gesprächen mit ehemaligen Schmugglern. Herausgekommen ist dann der Metzgermonolog.

Damit meist du den von Otto.

Ja. Das ist auch weitaus die längste Passage.  Man mag es gar nicht hören. Am Ende ist dann aber alles erzählt und es kann weitergehen – gewissermaßen ohne Schmuggeln.

Es gibt ja auch kaum Stücke, die sich mit dem Schmuggeln beschäftigen.

Richtig. Da gibt es wirklich nicht viel. Georges Bizets Oper Carmen, Karl Schönherrs Weibsteufel, da kommt Schmuggel am Rande vor. Aber viel mehr gibt es nicht.

Man merkt, gerade wenn man auf das erste Stück Langes afn Zirblhouf zurückgreift, dass deine Dialektstücke viel mit Sprachkritik zu tun haben.  Die Leute werden im Dialekt stiller, auch durch das wenige Vokabular, das sie zur Verfügung haben.

Stiller sein und weniger sprechen können. Schreiben im Dialekt bedeutet einerseits eine sprachlich reduzierte Ausdrucksmöglichkeit, weil sich im Dialekt bei weitem nicht alle Themen und Lebensbereiche differenziert verbalisieren lassen. Und genau dies bedingt andererseits eine große Poesie: Man ist gezwungen, das Unsagbare in dieser gedrungenen Sprache durch Metaphern zu umschreiben. Das wirkt sehr subtil. Dialekt und Literatur ist ja gerade in Tirol, im Alpenraum und auch in Südtirol immer wieder ein wichtiges Thema, ja ein identitätsstiftendes Grundsatzthema. Oft wird behauptet, dass die Ausdrucksmöglichkeiten im Dialekt größer seien als in der Standardsprache, dass die Emotionalität eine viel tiefere sei usw. Ich halte das für Blödsinn. Das kann nur jemand sagen, der die Standardsprache nicht beherrscht. Standardsprache ist differenzierter, umfassender, man kann über alles sprechen, sofern man mit Sprache über etwas sprechen kann. Im Dialekt kann man bei weitem nicht über alles sprechen, weil einfach die Wörter fehlen. Man kann sich mit Umgangssprache helfen, die dann aber oft interlinear übersetzter Standard ist, das hat mit Dialekt nichts mehr zu tun. Man übersieht sehr gerne, dass Dialekt eine große Einschränkung bedeutet. Eine Einschränkung an Ausdrucksmöglichkeit, an Gestaltungsmöglichkeit. Aber genau diese eingeschränkte Ausdrucksmöglichkeit ist für mich ein sehr reizvolles Gestaltungsmittel, wenn ich im Dialekt schreibe. Und ganz wichtig ist natürlich, dass man einen Basisdialekt  sehr gut beherrscht. Ich kann nur in meinem eigenen Vinschgauer Dialekt schreiben, nicht zum Beispiel  im Ötztaler oder Sillianer Dialekt– das geht nicht. Ich kann wahrscheinlich mein Leben dort verbringen, aber es wird nicht gehen. Wahrscheinlich lernt man eine Sprache insgesamt auch leichter als einen Dialekt. Dialekt kann man nicht lernen, da muss man hineingeboren sein.
Und über den Dialekt hinaus interessiert mich natürlich die Frage, wie entsteht eine dialogische Situation, wie entsteht Mitteilung, was wird mitgeteilt, was wird wie mitgeteilt, und was wird auf welche Weise verstanden oder missverstanden. Es ist eher immer ein Nachspüren der Möglichkeit als Sprachkritik. Und auch das Um und Auf, wenn ich Dialekt für Dialoge verwende.

Gibt es die Form betreffend einen Unterschied, ob Du an Dialektstücke oder an Stücke in der Standardsprache herangehst?

Eigentlich kaum. Mich interessieren seit vielen Jahren, vielleicht seit Langes afn Zirblhouf, lineare Dramaturgien, chronologische, kausalistische Dramaturgien. Und zeitliche Linearitäten. Das hat mich eine Zeitlang überhaupt nicht interessiert, mittlerweile interessiert es mich sehr viel mehr. Dadurch ist ja schon viel an Form da. Nicht-lineare, nicht-chronologische Dramaturgien schließen sich aus. Der Unterschied ist dann nicht so groß, ob ich im Dialekt oder in Standarddeutsch schreibe.

Bei Gschmugglt weart nicht mea fällt vor allem die Figur der Banklhuckerin auf, die nichts sagt und doch eine der wichtigsten Figuren ist, wenn es um den Dialekt geht. Sie macht viel vom Dorfleben aus.

Da könnte ich jetzt sprachphilosophisch werden oder mit einer Anekdote antworten. Ich bleibe lieber bei der Anekdote, die erklärt, warum es diese Figur gibt. Weil ich wusste, welche Schauspielerinnen und Schauspieler im Stück spielen werden, habe ich mich mehrmals mit der Gruppe getroffen, um sie besser kennen zu lernen. Eine Schauspielerin sagte zu mir, dass sie  nur eine kleine Rolle spielen will, am liebsten eine Rolle ohne Text, die nur auf einer Bank hockt. Ich habe die Idee aufgegriffen und weitergesponnen und dann kam es zu dieser Figur. Sie spricht nicht und sitzt die längste Zeit auf einer Bank. Sie ist natürlich im Bühnenraum, sie interagiert und kommuniziert, sie kann gar nicht anders. Aber eben ohne Sprache. Das wirkt einerseits komisch und andererseits hintergründig.

Gibt es Volksstückautoren, die Du dezidiert als Vorbilder bezeichnen würdest?

Nein, denn ich möchte die Vorbilder auch nicht im randständigsten Bereich suchen, den es in der Literatur gibt. Aber wenn jemand gut schreibt, ist es egal, ob er Volksstücke schreibt  oder etwas anderes. Auf die Kunst kommt es an, nicht auf die Gattung. Das gilt zum Beispiel für Johann Nestroy. Was mich bei Theaterautoren grundsätzlich interessiert: Wie baut jemand Dialoge? Wie legt jemand jemandem Sprache in den Mund? Wie wird Sprechen zu Raum und umgekehrt? Ich studiere das sehr gerne zum Beispiel bei Lars Norén.

Du hast ja mit Hirlanda und Das Laaser Spiel vom Eigenen Gericht historische Volksstücke  herausgegeben und Dich sicher auch intensiv mit historischen Volksstücken beschäftigt. Inwiefern hat das deine Arbeit an den eigenen Volksstücken beeinflusst?

Ich glaube, nicht so viel. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich gerne eine gewisse Schizophrenie pflege. Ich finde, es ist problematisch, einerseits über Sprache und Literatur zu reflektieren, also literaturwissenschaftlich zu arbeiten, und andererseits selber Texte zu produzieren. Das verträgt sich nur sehr schwer für mich. Und es verträgt sich grundsätzlich sehr schwer. Wahrscheinlich gibt es unbewusste Verbindungen, aber ich vergesse immer das eine, wenn ich das andere tue. Sonst stört das. So gesehen, würde ich sagen, hat meine Beschäftigung mit historischen Volksschauspielen keinen Einfluss auf mein Schreiben. Ich behaupte das einfach mal so und ich weiß gleichzeitig, dass es nicht stimmt. Aber selber kann ich das auch nur sehr schwer einschätzen.
Wenn ich Regie mache, dann ist es etwas anderes: Da hilft mir mein literarhistorisches Wissen sehr. Gerade bei historischen Sachen wie dem Laaser Jedermann, dem Laaser Spiel – wo ich ja auch den Ehrgeiz hatte, aus einer trocken wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text etwas total Sinnliches zu machen. Wo niemand  mitkriegen soll, dass eine ganz orthodoxe wissenschaftliche Textedition dahinter steht. Das darf nicht sichtbar sein, weil es fürs Publikum langweilig wäre, das muss ein Wurf sein, der als Schauspiel anspringt. Ich wollte auch zeigen, dass man mit einem Text aus dem 18. Jahrhundert zeitgenössisches Theater machen kann. Stücke aus dieser Zeit werden ja kaum gespielt. Da scheint eine Diskrepanz da zu sein, die diese  Stücke für uns heutige Menschen unerträglich machen. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Wahrscheinlich ein Missverständnis aus Unwissenheit.

Aber du bist beim Laaser Jedermann schon am Text geblieben?

Sklavisch. Wenn es um den Text geht. Also ich habe mit allen Schauspielern einzeln – und wenn die Rolle noch so klein war –  lange Leseproben gehalten, wo ich mit ihnen den Text zerdröselt habe. Ich wollte den Schauspielern die Angst vor dem historischen Text nehmen, aber ich wollte auch sprachliche Genauigkeit, sprachgeschichtliche Genauigkeit. Nach den Leseproben habe ich aber nie mehr über den Text gesprochen. Bei der ersten Probe auf der Bühne hat Heinz Köfler, ein herrlicher Schauspieler, der den Hanswurst gespielt hat, gesagt, er sei sich im Text noch nicht ganz sicher. Da habe ich gesagt: „Der Text ist jetzt komplett wurscht. Wir spielen Theater, wir sagen ja nicht Text auf. Vergiss den Text. Theaterspielen kannst du auch ohne Text.“

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Anmerkungen zur gegenwärtigen Szene des außerberuflichen Theaters und der Volksbühnen aus der Sicht des Spielleiters.
Ein Gespräch mit Ekkehard Schönwiese

wiedergegeben von Christine Riccabona

Wie an die Volkstheatertradition in der gegenwärtigen Theaterszene Tirols angeknüpft wird bzw. wie sie verändert weiterwirkt, ist von Interesse - unter anderem auch in Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt das im Rahmen von "Sparkling Science" abgewickelt wurde/wird. Es lag daher nahe, einen Blick auf gegenwärtige Theaterprojekte zu werfen und ein Gespräch mit Ekkehard Schönwiese zu suchen, in dem der aktuelle Stand gelebter Theaterkultur jenseits der etablierten Institutionen wie des Landestheaters oder des Kellertheaters - beleuchtet werden sollte.
Die Themen des Gesprächs reichten von allgemeinen Überlegungen zu gegenwärtigen Stücken und ihren Stoffen bis hin zur Frage nach der Funktion des „Spiels“ an sich, zur regionalen Verankerung des Volksstücks oder auch zum Thema Theater als ‚Ort der Begegnung’ und der Erfahrung von Gemeinschaft.
Das Gespräch fand am 24. 3. 2010 im Brenner-Archiv statt, vorliegende Fassung gibt in gekürzter Form die wichtigsten Inhalte wieder.

„Der Spielplan am Land hat sich innerhalb der letzten 100 Jahre natürlich ungeheuer verändert. Das, was wir heute landläufig als „Volksstück“ („ländliches Lustspiel“, „Bauerntheater“) bezeichnen, betrifft eine ganz bestimmte Tradition, und wir vernachlässigen dabei, dass es hunderte Jahre früher schon eine lebendige Theaterkultur gab, die man ebenso zur Geschichte des Volksstücks zählen muss: das „Volksschauspiel“. Volksstücke sind ja Stücke, die, vereinfacht gesagt, aus dem Volk für das Volk gemacht sind. Und diese Tradition gibt es bis heute. Ein Beispiel aus dem Zillertal: Martina Schwemberger, eine zeitgenössische Autorin von Volksstücken, dramatisierte die ungewöhnliche Lebensgeschichte der letzten Wildschützin des Tales („Die Floitenschlagstade“, UA Ginzling 2008). Da geht es nicht etwa um Erinnerung an ‚Geschichte’ oder um einen Anspruch von literarischen Gesichtspunkten aus. Es ist vielmehr so, dass die Autorin deshalb so ‚ankommt’, weil sie die Art des Gespräches der Menschen untereinander, wie die Leute miteinander reden, sehr genau trifft. Es kommt weniger auf die Inhalte an, sondern es geht um das, was zwischen den Menschen daneben passiert. Da geht es um Leid, um das Schicksal einer Frau. Im Spiel wird Emotionalität unmittelbar vermittelt. Wie die Spieler auf der Bühne agieren, wie sie sprechen, das trifft die Seele. Es geht um die Emotionalität, darin liegt ein Impuls, der im gegenwärtigen Volksspiel zum Ausdruck kommt.
2008 gab es im Zillertal im Rahmen von „stummerschrei“ eine künstlerisch hervorragende Aufführung - mit Amateuren und Profis - des Don Quixote-Stoffes.  Das kam bei weitem nicht so gut an wie die „Flointenschlagstaute“. Mit Do Quixote war man künstlerisch und stilistisch weit höher auf dem Berg  als in Ginzling. Aber so ist es: Je höher man künstlerisch kommt, desto dünner ist die Luft, und da kommen nicht so viele hinauf.
Bei der Reform von Volksschauspielen eignet sich Altbekanntes am besten, beispielsweise der Stoff über den Wildschütz Jennerwein (dramatisiert von E. Schönwiese in: „s’Almröserl, ein Stubenspiel“, 2004) In diesen Stoffen finden sich die alten Mythen über die Menschen, ‚Bergmythen’... Alles kann man hineinverpacken, aber es geht um die unmittelbare Berührungsfläche, um ‚Berührbarkeit’ im und durch das Spiel. So gesehen hat das Volksschauspiel eine andere soziale Bedeutung, einen anderen sozialen Status als das ‚Kunsttheater’.
Was am Land momentan am meisten gespielt wird, sind Stücke, die sich am amerikanischen Boulevardtheater orientieren. Das sind in erster Linie Beziehungsstücke. Konflikte, die diese Stücke austragen, waren immer schon Thema im Volksstück. Boulevardstücke geben nun dafür ein zeitgemäßes Muster vor. Sie eignen sich besonders gut, unsere Zeit abzubilden, unsere Zeitbefindlichkeit, unsere Beziehungsgrotesken. Früher fand man das im Bauerntheater, aber diese bäuerliche Welt existiert ja nicht mehr, solches Bauerntheater gibt es nur mehr als (schaurigen) Verkaufsartikel für den Tourismus, und da auch nur in einem Segment, in dem die überkommenen Klischees der bäuerlichen Welt noch ziehen. Das lebendige Volksspiel hingegen hat sich längst aus regionalpatriotischen Umklammerungen gelöst.
(Vgl. zum Thema des Bauerntums im Theater: Ekkehard Schönwiese, Vom Heroisieren und Verdammen des Bauernstandes. Reflektiert im Spiel.)
Unser Land ist geprägt von einer langen Zeit der Unmündigkeit und von einem langsamen Heraustreten aus der politischen und weltanschaulichen Unmündigkeit. Spiel ist per se immer eine Möglichkeit, aus der Unmündigkeit herauszutreten, darin liegt auch sein aufklärerisches, emanzipatorisches Potential. Auf der individuellen Ebene geschieht dies dadurch, dass man in Rollenspielen andere Perspektiven einnehmen und sich durch Rollentausch aus Strukturen und vorgegebenen Mustern befreien muss. Das ist ja der eigentliche Wert der Theaterpraxis all der vielen Laienbühnen am Land: der Prozess der Umsetzung und der ‚Gestaltung’. Es ist ein Fest der Dorfgemeinschaft, ein solidarisches Gemeinschaftserlebnis. In den zwei Stunden der Aufführung ist die Bühne eine Gegenwelt.

„Volksschauspiele sind Medien der Gemeinschaftsbildung. Sie sind der Treibstoff für einen Motor, der das Fahrzeug des Tradierens in Bewegung bringt. An ihren Stoffen entzündet sich Explosives der Gegenwart. Und die sind vor allem „integrativ“. Sie machen die Verdrängungsmechanismen geschlossener Gemeinschaften zum Spielthema.“ (Schönwiese: Vom Volksschauspiel zur SitCom, S. 6)

Das bedeutet vor allem auch, die intellektuelle Distanz zugunsten einer Naivität, verstanden als unverbildete Unmittelbarkeit, aufzugeben. Das Wiederfinden der Natürlichkeit - ein langer Weg - ist der Kern des Volkstheaters. Heinrich von Kleist hat diesen Prozess in seinem Essay „Über das Marionettentheater“ treffend beschrieben.
Die Frage: Wer ist der Kranewitter von heute? ist eigentlich völlig falsch, wir fragen nach einem Autor, nach literarisch bewertbaren Stücken, und das hat natürlich mit der Schriftlichkeit unserer literarischer Überlieferung zu tun. Die Frage nach dem neuen Volksstück aus dieser Perspektive trifft die Sache nicht, auch wenn in dem einen oder anderen Fall wirklich Literatur dabei herauskommen kann. Aber diese Frageperspektive bleibt am Begriff des ‚Werkes’ und an der des ‚literarischen Ranges’ eines Autors hängen und geht an der eigentlichen Theaterpraxis des „Volksschauspiels“ vorbei. Volkstheater findet in der jeweiligen Gegenwart statt, das Augenmerk liegt auf dem Geschehen auf der Bühne. Wichtig ist sein Prozesscharakter, der Autor/ die Autorin schreibt nicht für den Druck, sondern für die Bühne. Allerdings - in Bezug auf eine Bewertung aus kultureller bzw. literarischer Sicht - spielt der Verlust der Schriftlichkeit, verbunden damit der Verlust literarischer ‚Kanonisierbarkeit’ - eine große Rolle. „Unser Literaturverständnis ist sprachlastig“ (Vgl.: Schönwiese: Keiner kennt Hans Renz, Darstellendes Spiel, 4 / 2010, S. 6). Ein solches Literaturverständnis sucht die Festschreibbarkeit. Ein auf das Geschehen im „Spiel“ konzentriertes Theater hingegen ist flüchtig wie das Leben. Darauf die Wahrnehmung zu richten, bedeutet eine andere Ausrichtung des Kunstsinns. Da treffen natürlich auch zwei Kulturen aufeinander: Unsere (kanonisierte) Volksstücktradition, die „von oben“, von der Rampe“ gespielt wird, die eine klare Trennung von Zuschauer und Akteuren aufweist, mit einem quasi pädagogischen Auftrag: ‚Theater als Verbesserungsanstalt’. Und auf der anderen Seite eine Tradition des freien improvisierten Theaterspiels wie sie beispielsweise der Südamerikaner Augusto Boal mit seinem „Theater der Unterdrückten“ bei uns in den letzten dreißig Jahren bekannt gemacht hat, Engagement und Solidarität mit den ArbeiterInnen, für eine Politik von unten. Da geht es um die Emanzipation der Zuschauenden, die im Geschehen, in der Kommunikation stattfindet.
Das ist eine Tradition, die ja schon bis zum antiken Welttheater zurückreicht, die aber auch hier bei uns in Tirol schon im 15. Jahrhundert existiert hat. Sie kommt sozusagen von der ‚Straße’, man denke nur an den Südtiroler Vigil Raber, an die Fasnachtsspiele. Und sie zeigte sich im spielerischen Treiben auf den Jahrmärkten. „Dieses wurde geradezu zum Sinnbild für die Leidenschaft des homo ludens jenseits bürgerlicher und höfischer Konventionen“ (Schönwiese: Vom Volksschauspiel zur SitCom, S. 9). Diese Spieltradition stand im Gegensatz zum geistlichen Theater, zum Passionsspiel, zum Schultheater und später natürlich zum feudalen bürgerlichen Theater.
Wem nützt(e) das bürgerliche Theater? Ist es nicht die Fortsetzung des Feudalismus mit anderen Mitteln, schließlich leistet man es sich. Aber wo beginnen wir demokratisch zu werden?

„In jedem Spiel ‚geht es um etwas’. Es stellt durch aufgestellte Regeln Spielordnungen her, die die Ordnungen des Alltages für die Spieldauer außer Kraft setzen. Auf dem Fußballplatz geht es um den Ball. Und beim Schlußpfiff ist das Spiel aus. Im Brauchspiel geht es um den Brauch. Auch er setzt für eine bestimmte Dauer Gesetze des Alltages außer Kraft und bringt überlieferte Ordnungen ins Spiel. Das Ausziehen des Kostüms entspricht dem Schlußpfiff. Aus dem Heiligen Geist wird wieder der Nachbar, aus dem Teufel wieder der Bruder. So weit, so gut. Nur, es besteht ein Unterschied zwischen den Rollen im Sportspiel und denen im Brauchspiel. Darstellende Rollen sind Verkörperungen, die nicht spurlos wegzupfeifen sind. Spiele, die sich als Abbild der Realität oder gar als Chronik der Zeit verstehen, hinterlassen Bilder und Spuren im Alltag. Also scheint es legitim, das Volksschauspiel aus seinem historisch definierten Kontext herauszulösen, um es auf den Prüfstand der Erneuerungsfähigkeit zu stellen.“ (Schönwiese: Vom Volksschauspiel zur SitCom, S. 48)

Der Mensch selber ist die Schrift, nur ein Bruchteil vermittelt sich über die Sprache, der Großteil ist Verkörperung. Die Gestaltung, die Gestalt auf der Bühne, das Spiel, ist die Botschaft. Ein Beispiel: Die Jugendtheatergruppe ‚Funtasy’ der ‚KreativWerkstätte’ von ‚Jugend-Land-Künstler’ studierte ein Stück ein („Ehrensache“, 2010, Vgl. Darstellendes Spiel, Nr. 3, 2010), das man unter das Thema ‚Ausländerproblematik’ subsumieren könnte. Es handelt unter anderem von Sprach- und Verständigungsproblemen. ‚Ausländerproblematik’ wird aber nicht als Thema von oben herab einem Publikum vorgespielt. Die Bühne wird vielmehr ein Ort der Begegnung mit dem Fremden, ein Ort der Integration, an dem Sprachbarrieren durch das Spiel überwunden werden, das Wesentliche passiert im Spiel, in der Bewegung. Das ist ein anderer Weg, als ihn ein Text, eine (gesellschaftskritische) Literatur anbietet. Literatur ist eine ganz andere Welt als das Theater, Literatur heißt etwas niederschreiben, spielen heißt etwas aufheben.
Theater so verstanden hat keinen Vorhang, keine Rampe, es gibt keinen Unterschied zwischen denen auf der Bühne und denen im Publikum. Das ‚Spiel’ ist keine Vortragssituation mit Distanz, das ‚Spiel’ ist Kommunikation, die Beteiligten agieren auf einer Ebene. Die Vortragenden sind dem Text verpflichtet, die Spielenden hingegen den Menschen.

 
Weiterführende Texte:


Ekkehard Schönwiese: Vom Volksschauspiel zur SitCom (Innsbruck 2002).

Ekkehard Schönwiese Volksschauspielforschung. Zum Neudenken (Innsbruck 1999).

Ekkehard Schönwiese: Keiner kennt Hans Renz. In: Darstellendes Spiel, 4 / 2010, S. 6.

Ekkehard Schönwiese: Schönherr – „Familie“ unbekannt. In: Darstellendes Spiel, 4 / 2010, S. 5.

Ekkehard Schönwiese: Mit-Teilen statt Vor-Machen. In: Darstellendes Spiel, 4 / 2010, S. 8-9.
 

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Anna Rottensteiner: Von der Auflösung. Nachzeichnung einer Entwicklung in den Werken von Waltraud Mittich, März 2010

Wir alle tragen noch unsere unsterblichen Städte in uns 
Bogdan Bogdanovich 

In der digitalen Fotografie bezeichnet Auflösung die Punktdichte einer Wiedergabe oder Bildabtastung und ist damit - neben der Farbtiefe - ein Maß für die Qualität. In der „klassischen“ Fotografie bezeichnet Auflösung oder Auflösungsvermögen die Fähigkeit eines Objektivs, Films oder Sensors, bestimmte kleinste Strukturen noch wiedergeben zu können. Aus der Vielzahl der Punkte ergibt sich ein dichtes Bild, das der Wahrnehmung in der Wirklichkeit in nichts nachstehen möchte, das die Wirklichkeit so getreu wie möglich nachbilden möchte.
Eine hohe Anzahl an Punkten, die miteinander in Bezügen und Verbindungen stehen, kennzeichnet auch die Prosa von Waltraud Mittich von Beginn ihres Schreibens an. Doch geht es ihr, so die These, nicht um eine möglichst realistische Darstellung der Wirklichkeit, sondern um das Herausarbeiten eines vielschichtigen Gewebes. Eine Textur, die aus den unterschiedlichsten Elementen von Erzählen, Reflexion, Erinnerung, Fiktion und Imagination besteht und so Wirklichkeit in ihrer Eindimensionalität hinterfragt. Sowohl auf der Ebene der Erzählpositionen als auch auf der der Figurenkonstellationen findet eine Dezentralisierung und Enthierarchisierung statt. Dabei vermag dieses Verfahren  eine Tiefenschärfe freizulegen, in der Erlebtes, Erlesenes, Imaginiertes gleichberechtigt nebeneinander stehen und ineinander verwoben sind. Fixierungen werden dadurch zum Schwingen gebracht, Bilder beginnen zu vibrieren, Identitäten lösen sich in Multidimensionalitäten auf. Eine andere Art von Wirklichkeit tut sich auf.
Dabei findet von ihrer ersten Publikation „Mannsbilder. Prosa“ aus dem Jahr 2002 bis zur zuletzt vorliegenden, dem zweisprachigen Essay „Topographien. Topografie“ (Raetia Verlag 2009) eine Verfeinerung und Intensivierung der Auflösung statt, wobei die topografischen und literarischen Bezüge ausgeweitet werden.



Mannsbilder

Im Jahr 2002 debütierte Waltraud Mittich mit dem Prosaband „Mannsbilder“ (Skarabaeus Verlag). In der äußeren Struktur chronologisch streng angeordnet – jedem Jahrzehnt ab den Fünfziger Jahren bis zum neuen Jahrtausend ist eine Geschichte zugeordnet – entwirft die Autorin  Bilder von Männern, die heute im Land „ihren Mann“ stehen, von gestandenen oder gestrandeten Männern. Die Perspektive ist dabei die einer weiblichen Ich-Erzählerin, die in die Geschichten in diesem Land  „an den Rändern, wo die Geschichte nachsichtiger und grausamer war als anderswo“ (Mannsbilder, S. 5) auf irgendeine Weise involviert war. Doch die Art des Involviertseins wird bereits zu Beginn des Buches relativiert, in eine Vielzahl von Möglichkeiten aufgesplittert; so wird als Motto dem Buch vorangestellt: „Ich bin nicht die Erzählerin. / Ich bin nur die, welcher erzählt worden ist. / Oder ich bin eine, die dabei war, als alles geschah. / Oder ich bin jene, der es widerfuhr.“ (ebda, S. 1)
Wir finden, graphisch voneinander abgehoben, zwei Stimmen vor, eine, die die Geschichten erzählt und die andere, die kommentiert. Erzählen und Schreiben sind somit auf zwei Ichs aufgespalten: „Ich bin Moia, eigentlich Marie. [… ] Die Geschichten, die ich zu erzählen habe, schreibe nicht ich, das macht meine Freundin, es ist die im schwarzen Kleid.“ (ebda, S. 60 und 63) Diese zweite Stimme greift ein, formal und stilistisch oft knapp und poetisch, fast archaisch anmutend verkürzt; inhaltlich hart, leidenschaftlich, manchmal auch resignativ und anklagend, kreidet sie die Moralvorstellungen an, an denen einzelne zugrunde gehen.
Die erste, Moia, eigentlich Marie, ist auf die eine oder andere Weise persönlich involviert, was beiden aber gemeinsam ist, ist eine Grundhaltung: die der parteiischen  Reflexion auf der Seite jener, denen die Geschichte zusetzte, seien es nun Mann oder Frau.
Und doch, auf der letzten Seite, in einem poetischen Epilog, erscheinen Erzählerin und Schreibende als eine, als zwei Seiten ein und desselben Prozesses des Erinnerns. Im Nachhinein sozusagen werden die vorher stringent durchgehaltenen Erzählpositionen aufgelöst.
Zusätzlich zur Erzähl- und Reflexionsebene arbeitet die Autorin authentisches Material aus der Zeit ein. Die Montagen von Texten aus der Tageszeitung des Landes, aus Kinoprogrammen, Liedtexten, politischen Ereignissen von Weltbedeutung aus den entsprechenden Jahrzehnten verleihen dem Text eine zusätzliche Dimension und Dichte. Ein klaffender Abgrund tut sich auf zwischen dem, was in der „großen“ Welt geschieht und dem, was in der „kleinen“ Welt von Bedeutung ist. Und so entsteht das Portrait eines Landes, in dem seine „Macher“ ins Visier genommen werden, teilweise hart mit ihnen ins Gericht gegangen wird. Das Bild einer Gesellschaft, in der die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern unangetastet blieben; ein urwüchsiges Patriarchat herrscht im Tal zu Füßen der Weißen Berge.

 
berühren sie jedes

„Ich habe kein anderes Land/ als dieses/ ein Männerland/.“ So lesen wir (noch) in „Mannsbilder“ (S. 56). Weit über die „Weißen Berge“ hinaus führend und doch (noch) von ihnen ausgehend, so könnte man kurz gesagt die Position in Mittichs Roman „berühren sie jedes“, der 2004 im Skarabaeus Verlag erschien, umreißen. Es ist die Geschichte einer Rückkehr. Fotografin Dolly Meyer kehrt unerkannt in ihr Heimatdorf zurück und lässt im Rückblick ihr Leben Revue passieren.
Da sind die Displizinierungsprozesse durch den Großvater des elternlos aufwachsenden Mädchens, das zwiespältige Verhältnis zur Macht, symbolisiert in den Männern mit Uniform und noch einmal konkreter: im Grenzer; da ist ein Leben an den Grenzen überhaupt. Von all diesem glaubt sich die Ich-Erzählerin zu befreien, indem sie sich nach New York aufmacht. Dort baut sie sich ein Leben als Fotografin auf und lebt mit ihrer Liebe, dem Römer Francesco. Ihre Rückkehr nach Europa führt sie nach dem Aufenthalt in ihrem Heimatdorf auch nach Rom, wo sie den Spuren, der Geschichte des verstorbenen Geliebten folgt. Im Lauf der Erzählung, die zwischen mehreren Zeitebenen wechselt, wird der Erzählduktus ein befreiter, imaginierender, der sich löst von den Zwangsjacken der Wirklichkeit. Eine Erzählung über die „Wege zur Quelle“, wie es einmal im Roman heißt. Die einzelnen Realitätsschichten werden abgetragen und hinterfragt, um zum Wesentlichen vorzudringen, ein Wesentliches, das aber hinter Stand-, Schein- und Phantasiebildern verborgen zu bleiben scheint.
Wesentlich erscheint mir dabei die Suche nach dem Vater als Metapher für Sehnsucht nach Unerreichbarem: Ukrainer, Offizier, Zwangsarbeiter, kennt ihn Dolly nur vom Hörensagen, weiß nur Vages über ihn.  Diesem stellt sie eigene imaginierte Bilder gegenüber, ausgehend von einer Fotografie (Das Rekurrieren auf Fotografien von Künstlern ist ein Leitmotiv des Buches.)
Auch am Ende des Romans betrachtet Dolly eine Fotografie. Jeff Walls „restoration“ scheint mir viel auszusagen über das Verfahren der Autorin Waltraud Mittich: „Wall photographierte zunächst ein historisches Rundbild in Luzern. Auf diesem Rundbild sind Soldaten der besiegten französischen Armee im deutsch-französischen Krieg des Jahres 1870 zu sehen. […] Die Szenen des Rundbildes stellen den Hintergrund der Wall-Photographie dar. […] Im Vordergrund stehen auf einer Plattform die Restauratorinnen des Rundgemäldes. In weißen Kitteln, kühl, distanziert und professionell betrachten sie ihr Arbeitsfeld, das Rundbild. […] Es ist sicher kein Zufall, da das Bild von Frauen restauriert wird, sagte Dolly Meyer, Frauen tragen die Erinnerung, das weiß ein Mann wie Jeff Wall.“ (berühren sie jedes, S.131)
Erinnerung zwischen (weiblicher) Restauration und Auflösung. Dolly Meyer meint einmal selbst:  „Die Auflösungsprozesse sind schon sichtbar, ich selbst bin ein Beispiel dafür, sagte sie sich, aber diese Prozesse müssen noch radikaler sein.“ (ebda, S.

 
Grandhotel

 „Das Leben in den zweigleisigen Welten“ (Topographien, S. 60), Orte als Schleusen der Erinnerung und der Sehnsucht – das ist das große Thema in der Erzählung „Grandhotel“ von 2008.
Wir finden Moia wieder, die Erzählerin, sie „berichtet weiter vom immer Gleichen, schreibt Geschichten aus vergangenen Zeiten. Sie glaubt nicht, den Durchblick zu haben für ihre Zeit, entfernt gerade erst die Patina, welche die Zeit angesetzt hat in den vergangen Jahrzehnten.“ (S. 5) Und doch ist Moia auch Dolly, die vom ukrainischen Vater erzählt, und vielleicht auch Marie? Sie sammelt die Geschichten, die ihr in Tagebüchern, Begegnungen, Gesprächen zugetragen werden. Doch sie ist auch Involvierte, taucht immer wieder auf, bevor sie dem Strom der Geschichte deren eigenen Lauf lässt und wieder untertaucht. Eine Textur aus Stimmen, Geschichten, Orten, Zeiten und Sehnsüchten, die sich im Topos des „Hotels“  als Ort der Durchreise, des Ankommens im Zwischenreich konzentrieren.
Texte und Gedankengebäude weiterer Schriftsteller finden sich wie einverleibt wieder auf Papier gegossen, Verena Stefans „Häutungen“, die Revolutionärin Alexandra Rachmanova, Thomas Mann, Franz Kafka, Joseph Roth.
Intertextualität in der genuinen Formulierung von Julia Kristeva: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“ (http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Intertextualitätstheorie.html). Wobei es Mittich nicht um die Einarbeitung von klugen Anspielungen aus Gelesenem geht, sondern um den Versuch, fassbar zu machen, was letztendlich fassbar nicht ist: das Panorama einer Gegenwart, die sich aus Vergangenheit in Zeiten und Orten speist; aus Realem, Imaginiertem und Irrealem – oder Traum -; die großen Linien eines transnationalen und transhistorischen Kosmos, in dem sich Zuschreibungen an klar Ein- und Zuordenbares sowie Eindimensionales auflösen. Und  hier findet sich auch unterschwellig der Rekurs auf das „Land mit den drei Identitäten“, das sich aus der Lethargie der festgefügten Zuschreibungen nicht zu lösen vermag.

 
Topographien

Reale Orte und imaginierte Orte, Erzählen, „Fingieren“ und Reflektieren:  Im Essay „Topographien“ legen sich diese Ebenen übereinander. Die Überlagerung und gegenseitige Durchdringung der Ebenen wird  zum erzählerischen und inhaltlichen Prinzip erhoben. Es finden sich Rom, Berlin, Mailand, Wien als real durchschrittene Orte, an die die Erzählstimme konkrete Erinnerungen bindet. Leitfaden dabei ist die Frage nach den gegenseitigen Zuschreibungen der beiden Länder, denen sich die Erzählerin verbunden fühlt: was ist deutsch?, was italienisch? Was liebe ich an dem einen Land, was am anderen? Sie stimmt dabei einen Blues an, der sich von Tommasi di Lampedusa aber auch von Ingeborg Bachmann tragen lässt, deren Stimmen wie ein Flüstern und Wispern den tiefen Grund des Textes begleiten.  Fixierungen beginnen zu vibrieren, Bilder zu flimmern. Was Mittich mancherorts in Rezensionen als „Vagheit“ vorgeworfen wird, scheint mir eine große Stärke ihrer Texte zu sein: „ik gihorta dat seggn“ -  diese Zeile aus dem Hildebrandslied, die Mittich ihre Protagonistin aus „berühren sie jedes“ Dolly Meyer bei der Suche nach einem Bild zu ihrem Vater wie eine Litanei wiederholen lässt, lässt sich auch auf das Verfahren der Autorin übertragen. Fakten zusammentragen, die nirgendwo erfasst sind, von denen man hörte, las, sie mit Erinnerungen und Imagination in Schwingung versetzen, um so Einzementiertes, Vorgefasstes zu verrücken.
Zentraler Ort in den „Topographien“, und er bleibt ein Sehnsuchtsort, ist einer, der im Lauf der Geschichte mit zwei klingende Namen benannt wird: Königsberg oder Kaliningrad. Königsberg, knappe fünf Jahrhunderte lang Hauptstadt des östlichen Preußen, Hort der Aufklärung, des urbanen Geistes, der Toleranz, des Bürgerssinns,  the best of german life and letters, wie die Autorin an anderem Ort einmal meint. Aufenthaltsstadt von Heinrich von Kleist, Geburtsort von Hannah Arendt, Heimatstadt des Philosophen und Aufklärers Immanuel Kant aber auch des Schriftstellers und Romantikers E.T.A. Hoffmann. Ein Blues also auch hier, auf eine untergegangene, zerstörte Stadt, die heute eine russische Enklave ist. Doch „wir alle tragen noch unsere unsterblichen Städte in uns.“ Mittich ganz besonders. Die Bezüge zu Hoffmann sind dabei von vielfältiger Art in den „Topographien“. Zum einen entstammt eines der Motti des Buches Hoffmanns Erzählung „Prinzessin Brambilla“. Diese ist in Rom angesiedelt, verweist präzise auf Orte und Straßennamen in der Stadt, obwohl Hoffmann nie dort gewesen war. Was für die Erzählerin der „Topographien“ Kaliningrad, war für Hoffmann vielleicht Rom, auf jeden Fall: „Sehnsucht nach dem, was hinreißt, beflügelt, suche sie, suche sie, suche sie“ (ebda, S. 88). Ein poetisch umschriebener Ort, jenes Kaliningrad, von dem die Erzählerin meint: „Kaliningrad g i b t  es, ich weiß es deshalb, weil ich gewartet habe, bis der Zug abfuhr, dorthin.“ Und, zentral in der Aussage: „Über das Warten auf Kaliningrad, das ein lebenslanges Warten war, auf nichts Bestimmtes, möglicherweise ein ganz und gar sinnloses Warten auf eine Bestimmung, die es nicht gab, nicht geben konnte und Kaliningrad war nur das Wort dafür. Keine Stadt, sondern ein Zustand.(ebda, S. …) Um Zustandsbeschreibungen also geht es in den Topographien, und hier durchquert die Erzählerin Zeiten, Orte, Personen, bekannte, unbekannte. Sie alle sind gleichwertig nebeneinander gestellt in einem „enthierarchisierten“ Prozess des Erzählens, der Imagination, Reales und Fiktives gleichermaßen enthält.  Grenze und Entgrenzung fallen dadurch in eins, Wirklichkeitsschichten werden abgetragen, Mythen und Sinnbildern wird nachgespürt, um sie zu entblättern. Und auf ihren Kern hin zu entblößen, der, mit Traumbildern und Sehnsuchtsorten bevölkert, als ein Spaziergang zur Quelle hin sich erweist, einer Quelle, die aus zahllosen Wasserläufen sich speist.  „Dass das Wirkliche nur im Schriftlichen aufleuchten konnte, manchmal“ (ebda, S. 34) – diesem Wirklichen hinter den zahlreichen Wirklichkeiten, dem Unsterblichen jenseits der Sterblichkeit ist Waltraud Mittich in ihren Texten auf der Spur.

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