Anna Rottensteiner: Von der Auflösung. Nachzeichnung einer Entwicklung in den Werken von Waltraud Mittich, März 2010
Wir alle tragen noch unsere unsterblichen Städte in uns Bogdan Bogdanovich
In der digitalen Fotografie bezeichnet Auflösung die Punktdichte einer Wiedergabe oder Bildabtastung und ist damit - neben der Farbtiefe - ein Maß für die Qualität. In der „klassischen“ Fotografie bezeichnet Auflösung oder Auflösungsvermögen die Fähigkeit eines Objektivs, Films oder Sensors, bestimmte kleinste Strukturen noch wiedergeben zu können. Aus der Vielzahl der Punkte ergibt sich ein dichtes Bild, das der Wahrnehmung in der Wirklichkeit in nichts nachstehen möchte, das die Wirklichkeit so getreu wie möglich nachbilden möchte. Eine hohe Anzahl an Punkten, die miteinander in Bezügen und Verbindungen stehen, kennzeichnet auch die Prosa von Waltraud Mittich von Beginn ihres Schreibens an. Doch geht es ihr, so die These, nicht um eine möglichst realistische Darstellung der Wirklichkeit, sondern um das Herausarbeiten eines vielschichtigen Gewebes. Eine Textur, die aus den unterschiedlichsten Elementen von Erzählen, Reflexion, Erinnerung, Fiktion und Imagination besteht und so Wirklichkeit in ihrer Eindimensionalität hinterfragt. Sowohl auf der Ebene der Erzählpositionen als auch auf der der Figurenkonstellationen findet eine Dezentralisierung und Enthierarchisierung statt. Dabei vermag dieses Verfahren eine Tiefenschärfe freizulegen, in der Erlebtes, Erlesenes, Imaginiertes gleichberechtigt nebeneinander stehen und ineinander verwoben sind. Fixierungen werden dadurch zum Schwingen gebracht, Bilder beginnen zu vibrieren, Identitäten lösen sich in Multidimensionalitäten auf. Eine andere Art von Wirklichkeit tut sich auf. Dabei findet von ihrer ersten Publikation „Mannsbilder. Prosa“ aus dem Jahr 2002 bis zur zuletzt vorliegenden, dem zweisprachigen Essay „Topographien. Topografie“ (Raetia Verlag 2009) eine Verfeinerung und Intensivierung der Auflösung statt, wobei die topografischen und literarischen Bezüge ausgeweitet werden.
Mannsbilder
Im Jahr 2002 debütierte Waltraud Mittich mit dem Prosaband „Mannsbilder“ (Skarabaeus Verlag). In der äußeren Struktur chronologisch streng angeordnet – jedem Jahrzehnt ab den Fünfziger Jahren bis zum neuen Jahrtausend ist eine Geschichte zugeordnet – entwirft die Autorin Bilder von Männern, die heute im Land „ihren Mann“ stehen, von gestandenen oder gestrandeten Männern. Die Perspektive ist dabei die einer weiblichen Ich-Erzählerin, die in die Geschichten in diesem Land „an den Rändern, wo die Geschichte nachsichtiger und grausamer war als anderswo“ (Mannsbilder, S. 5) auf irgendeine Weise involviert war. Doch die Art des Involviertseins wird bereits zu Beginn des Buches relativiert, in eine Vielzahl von Möglichkeiten aufgesplittert; so wird als Motto dem Buch vorangestellt: „Ich bin nicht die Erzählerin. / Ich bin nur die, welcher erzählt worden ist. / Oder ich bin eine, die dabei war, als alles geschah. / Oder ich bin jene, der es widerfuhr.“ (ebda, S. 1) Wir finden, graphisch voneinander abgehoben, zwei Stimmen vor, eine, die die Geschichten erzählt und die andere, die kommentiert. Erzählen und Schreiben sind somit auf zwei Ichs aufgespalten: „Ich bin Moia, eigentlich Marie. [… ] Die Geschichten, die ich zu erzählen habe, schreibe nicht ich, das macht meine Freundin, es ist die im schwarzen Kleid.“ (ebda, S. 60 und 63) Diese zweite Stimme greift ein, formal und stilistisch oft knapp und poetisch, fast archaisch anmutend verkürzt; inhaltlich hart, leidenschaftlich, manchmal auch resignativ und anklagend, kreidet sie die Moralvorstellungen an, an denen einzelne zugrunde gehen. Die erste, Moia, eigentlich Marie, ist auf die eine oder andere Weise persönlich involviert, was beiden aber gemeinsam ist, ist eine Grundhaltung: die der parteiischen Reflexion auf der Seite jener, denen die Geschichte zusetzte, seien es nun Mann oder Frau. Und doch, auf der letzten Seite, in einem poetischen Epilog, erscheinen Erzählerin und Schreibende als eine, als zwei Seiten ein und desselben Prozesses des Erinnerns. Im Nachhinein sozusagen werden die vorher stringent durchgehaltenen Erzählpositionen aufgelöst. Zusätzlich zur Erzähl- und Reflexionsebene arbeitet die Autorin authentisches Material aus der Zeit ein. Die Montagen von Texten aus der Tageszeitung des Landes, aus Kinoprogrammen, Liedtexten, politischen Ereignissen von Weltbedeutung aus den entsprechenden Jahrzehnten verleihen dem Text eine zusätzliche Dimension und Dichte. Ein klaffender Abgrund tut sich auf zwischen dem, was in der „großen“ Welt geschieht und dem, was in der „kleinen“ Welt von Bedeutung ist. Und so entsteht das Portrait eines Landes, in dem seine „Macher“ ins Visier genommen werden, teilweise hart mit ihnen ins Gericht gegangen wird. Das Bild einer Gesellschaft, in der die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern unangetastet blieben; ein urwüchsiges Patriarchat herrscht im Tal zu Füßen der Weißen Berge.
berühren sie jedes
„Ich habe kein anderes Land/ als dieses/ ein Männerland/.“ So lesen wir (noch) in „Mannsbilder“ (S. 56). Weit über die „Weißen Berge“ hinaus führend und doch (noch) von ihnen ausgehend, so könnte man kurz gesagt die Position in Mittichs Roman „berühren sie jedes“, der 2004 im Skarabaeus Verlag erschien, umreißen. Es ist die Geschichte einer Rückkehr. Fotografin Dolly Meyer kehrt unerkannt in ihr Heimatdorf zurück und lässt im Rückblick ihr Leben Revue passieren. Da sind die Displizinierungsprozesse durch den Großvater des elternlos aufwachsenden Mädchens, das zwiespältige Verhältnis zur Macht, symbolisiert in den Männern mit Uniform und noch einmal konkreter: im Grenzer; da ist ein Leben an den Grenzen überhaupt. Von all diesem glaubt sich die Ich-Erzählerin zu befreien, indem sie sich nach New York aufmacht. Dort baut sie sich ein Leben als Fotografin auf und lebt mit ihrer Liebe, dem Römer Francesco. Ihre Rückkehr nach Europa führt sie nach dem Aufenthalt in ihrem Heimatdorf auch nach Rom, wo sie den Spuren, der Geschichte des verstorbenen Geliebten folgt. Im Lauf der Erzählung, die zwischen mehreren Zeitebenen wechselt, wird der Erzählduktus ein befreiter, imaginierender, der sich löst von den Zwangsjacken der Wirklichkeit. Eine Erzählung über die „Wege zur Quelle“, wie es einmal im Roman heißt. Die einzelnen Realitätsschichten werden abgetragen und hinterfragt, um zum Wesentlichen vorzudringen, ein Wesentliches, das aber hinter Stand-, Schein- und Phantasiebildern verborgen zu bleiben scheint. Wesentlich erscheint mir dabei die Suche nach dem Vater als Metapher für Sehnsucht nach Unerreichbarem: Ukrainer, Offizier, Zwangsarbeiter, kennt ihn Dolly nur vom Hörensagen, weiß nur Vages über ihn. Diesem stellt sie eigene imaginierte Bilder gegenüber, ausgehend von einer Fotografie (Das Rekurrieren auf Fotografien von Künstlern ist ein Leitmotiv des Buches.) Auch am Ende des Romans betrachtet Dolly eine Fotografie. Jeff Walls „restoration“ scheint mir viel auszusagen über das Verfahren der Autorin Waltraud Mittich: „Wall photographierte zunächst ein historisches Rundbild in Luzern. Auf diesem Rundbild sind Soldaten der besiegten französischen Armee im deutsch-französischen Krieg des Jahres 1870 zu sehen. […] Die Szenen des Rundbildes stellen den Hintergrund der Wall-Photographie dar. […] Im Vordergrund stehen auf einer Plattform die Restauratorinnen des Rundgemäldes. In weißen Kitteln, kühl, distanziert und professionell betrachten sie ihr Arbeitsfeld, das Rundbild. […] Es ist sicher kein Zufall, da das Bild von Frauen restauriert wird, sagte Dolly Meyer, Frauen tragen die Erinnerung, das weiß ein Mann wie Jeff Wall.“ (berühren sie jedes, S.131) Erinnerung zwischen (weiblicher) Restauration und Auflösung. Dolly Meyer meint einmal selbst: „Die Auflösungsprozesse sind schon sichtbar, ich selbst bin ein Beispiel dafür, sagte sie sich, aber diese Prozesse müssen noch radikaler sein.“ (ebda, S.
Grandhotel
„Das Leben in den zweigleisigen Welten“ (Topographien, S. 60), Orte als Schleusen der Erinnerung und der Sehnsucht – das ist das große Thema in der Erzählung „Grandhotel“ von 2008. Wir finden Moia wieder, die Erzählerin, sie „berichtet weiter vom immer Gleichen, schreibt Geschichten aus vergangenen Zeiten. Sie glaubt nicht, den Durchblick zu haben für ihre Zeit, entfernt gerade erst die Patina, welche die Zeit angesetzt hat in den vergangen Jahrzehnten.“ (S. 5) Und doch ist Moia auch Dolly, die vom ukrainischen Vater erzählt, und vielleicht auch Marie? Sie sammelt die Geschichten, die ihr in Tagebüchern, Begegnungen, Gesprächen zugetragen werden. Doch sie ist auch Involvierte, taucht immer wieder auf, bevor sie dem Strom der Geschichte deren eigenen Lauf lässt und wieder untertaucht. Eine Textur aus Stimmen, Geschichten, Orten, Zeiten und Sehnsüchten, die sich im Topos des „Hotels“ als Ort der Durchreise, des Ankommens im Zwischenreich konzentrieren. Texte und Gedankengebäude weiterer Schriftsteller finden sich wie einverleibt wieder auf Papier gegossen, Verena Stefans „Häutungen“, die Revolutionärin Alexandra Rachmanova, Thomas Mann, Franz Kafka, Joseph Roth. Intertextualität in der genuinen Formulierung von Julia Kristeva: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“ (http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Intertextualitätstheorie.html). Wobei es Mittich nicht um die Einarbeitung von klugen Anspielungen aus Gelesenem geht, sondern um den Versuch, fassbar zu machen, was letztendlich fassbar nicht ist: das Panorama einer Gegenwart, die sich aus Vergangenheit in Zeiten und Orten speist; aus Realem, Imaginiertem und Irrealem – oder Traum -; die großen Linien eines transnationalen und transhistorischen Kosmos, in dem sich Zuschreibungen an klar Ein- und Zuordenbares sowie Eindimensionales auflösen. Und hier findet sich auch unterschwellig der Rekurs auf das „Land mit den drei Identitäten“, das sich aus der Lethargie der festgefügten Zuschreibungen nicht zu lösen vermag.
Topographien
Reale Orte und imaginierte Orte, Erzählen, „Fingieren“ und Reflektieren: Im Essay „Topographien“ legen sich diese Ebenen übereinander. Die Überlagerung und gegenseitige Durchdringung der Ebenen wird zum erzählerischen und inhaltlichen Prinzip erhoben. Es finden sich Rom, Berlin, Mailand, Wien als real durchschrittene Orte, an die die Erzählstimme konkrete Erinnerungen bindet. Leitfaden dabei ist die Frage nach den gegenseitigen Zuschreibungen der beiden Länder, denen sich die Erzählerin verbunden fühlt: was ist deutsch?, was italienisch? Was liebe ich an dem einen Land, was am anderen? Sie stimmt dabei einen Blues an, der sich von Tommasi di Lampedusa aber auch von Ingeborg Bachmann tragen lässt, deren Stimmen wie ein Flüstern und Wispern den tiefen Grund des Textes begleiten. Fixierungen beginnen zu vibrieren, Bilder zu flimmern. Was Mittich mancherorts in Rezensionen als „Vagheit“ vorgeworfen wird, scheint mir eine große Stärke ihrer Texte zu sein: „ik gihorta dat seggn“ - diese Zeile aus dem Hildebrandslied, die Mittich ihre Protagonistin aus „berühren sie jedes“ Dolly Meyer bei der Suche nach einem Bild zu ihrem Vater wie eine Litanei wiederholen lässt, lässt sich auch auf das Verfahren der Autorin übertragen. Fakten zusammentragen, die nirgendwo erfasst sind, von denen man hörte, las, sie mit Erinnerungen und Imagination in Schwingung versetzen, um so Einzementiertes, Vorgefasstes zu verrücken. Zentraler Ort in den „Topographien“, und er bleibt ein Sehnsuchtsort, ist einer, der im Lauf der Geschichte mit zwei klingende Namen benannt wird: Königsberg oder Kaliningrad. Königsberg, knappe fünf Jahrhunderte lang Hauptstadt des östlichen Preußen, Hort der Aufklärung, des urbanen Geistes, der Toleranz, des Bürgerssinns, the best of german life and letters, wie die Autorin an anderem Ort einmal meint. Aufenthaltsstadt von Heinrich von Kleist, Geburtsort von Hannah Arendt, Heimatstadt des Philosophen und Aufklärers Immanuel Kant aber auch des Schriftstellers und Romantikers E.T.A. Hoffmann. Ein Blues also auch hier, auf eine untergegangene, zerstörte Stadt, die heute eine russische Enklave ist. Doch „wir alle tragen noch unsere unsterblichen Städte in uns.“ Mittich ganz besonders. Die Bezüge zu Hoffmann sind dabei von vielfältiger Art in den „Topographien“. Zum einen entstammt eines der Motti des Buches Hoffmanns Erzählung „Prinzessin Brambilla“. Diese ist in Rom angesiedelt, verweist präzise auf Orte und Straßennamen in der Stadt, obwohl Hoffmann nie dort gewesen war. Was für die Erzählerin der „Topographien“ Kaliningrad, war für Hoffmann vielleicht Rom, auf jeden Fall: „Sehnsucht nach dem, was hinreißt, beflügelt, suche sie, suche sie, suche sie“ (ebda, S. 88). Ein poetisch umschriebener Ort, jenes Kaliningrad, von dem die Erzählerin meint: „Kaliningrad g i b t es, ich weiß es deshalb, weil ich gewartet habe, bis der Zug abfuhr, dorthin.“ Und, zentral in der Aussage: „Über das Warten auf Kaliningrad, das ein lebenslanges Warten war, auf nichts Bestimmtes, möglicherweise ein ganz und gar sinnloses Warten auf eine Bestimmung, die es nicht gab, nicht geben konnte und Kaliningrad war nur das Wort dafür. Keine Stadt, sondern ein Zustand.(ebda, S. …) Um Zustandsbeschreibungen also geht es in den Topographien, und hier durchquert die Erzählerin Zeiten, Orte, Personen, bekannte, unbekannte. Sie alle sind gleichwertig nebeneinander gestellt in einem „enthierarchisierten“ Prozess des Erzählens, der Imagination, Reales und Fiktives gleichermaßen enthält. Grenze und Entgrenzung fallen dadurch in eins, Wirklichkeitsschichten werden abgetragen, Mythen und Sinnbildern wird nachgespürt, um sie zu entblättern. Und auf ihren Kern hin zu entblößen, der, mit Traumbildern und Sehnsuchtsorten bevölkert, als ein Spaziergang zur Quelle hin sich erweist, einer Quelle, die aus zahllosen Wasserläufen sich speist. „Dass das Wirkliche nur im Schriftlichen aufleuchten konnte, manchmal“ (ebda, S. 34) – diesem Wirklichen hinter den zahlreichen Wirklichkeiten, dem Unsterblichen jenseits der Sterblichkeit ist Waltraud Mittich in ihren Texten auf der Spur.
|