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 Literatur im Lichthof - Zoom

 

Christoph W. Bauer: In einer Bar unter dem Meer. Erzählungen
Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2013


Erzählungen. Erzählungen? Erzählungen!

© Haymon, 2013Es gibt Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet und Daniil Charms Miniaturen aus dem Archipel Gulag; es gibt Italo Calvinos Cosmicomics aus den unendlichen Weiten der Science Ficton und Claudio Magris‘ Microcosmi aus den Détails der großen Welt; es gibt schließlich Ingo Schulzes Simple Storys aus der ostdeutschen Provinz und Judith Hermanns Geschichten aus dem Berlin der 1990er-Jahre; und endlich – um regional näher zu rücken – gibt es Irene Pruggers Erzählungen am Scheideweg der Geschlechter und, ja, jetzt gibt es Christoph W. Bauers Erzählungen „In einer Bar unter dem Meer“.

Warum werden sie gerade dort erzählt? (Denn „In einer Bar unter dem Meer" ist keine titelgebende Story, sondern der Titel von Bauers erstem Erzählungsband. Das Meer kommt nur als „Dahingeplätscher, das Emira ans Meer denken ließ“ vor, und die Bar durchaus oberirdisch als „Stammkneipe“ etwa, die eine Figur „ansteuerte“, ein gewisser Landmann, der „eine Frau in seinem Rücken laut und deutlich ‚Arschloch‘ sagen hörte.“) Nun, man mag sich die Literatur wie ein riesengroßes Meer vorstellen. Leicht möglich, dass ein Autor die Orientierung verliert ob der Weite. Oder aber er sondiert die Lage und nimmt das Steuerrad in die Hand, um von lyrischen und prosaischen in epische Gewässer zu gelangen. Wer kundig ist, wird einen guten Lotsen anheuern, Tschechow etwa, der seinen Figuren folgt und Umstände dann weglässt und verknappt. Und die Bar „unter dem Meer“? Hier muss es jedenfalls ruhig zugehen, hier lässt es sich gut beobachten, eventuell auch, wie andere Meereskundige dieses elementare Reich durchpflügen.

Warum aber überhaupt sollte man so ein Aufheben machen um Erzählungen? Einfach deshalb, weil es noch immer und wieder das Klischee gibt, dass Literatur-Aficionados Erzählungen nicht kaufen und nicht lesen. Warum eigentlich, bitte schön?! Es ist eine ungemeine Lust, Erzählungen zu lesen, so auch diese, weil sie auf kleinem Raum große Vielfalt zulassen. Die Schwedische Akademie hat heuer eine «Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte» nobilitiert, sie ist, so wollen es die Medien „die kanadische Antwort auf Tschechow“. Sie ist „eine Meisterin der Knappheit“ (Die Zeit) sowieso, „Melancholie färbt ihre Sprache“ (Tagesspiegel), „stupende Menschenkenntnis“ und ein „denkbar abwechslungsreicher, technisch höchst entwickelter, dennoch scheinbar simpler“ Erzählstil sind ihre Atouts (Die Welt). Munro, so sagt Jonathan Franzen, habe Tschechow sogar übertroffen – und der war doch nun wirklich kein Anfänger!

Wie auch immer, und zurück zum 'jungen Mann und dem Meer': Bauer bleibt in jedem Fall auf hoher See, das hier ist nichts Seichtes. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit würde er sich – angesichts der genannten Meister – sicher als Geselle einstufen, aber die hier abgelieferten Erzählungen sind beileibe nicht bloße Gesellenstücke. Munro mag im besten Sinn altmeisterlich sein, Bauer ist im besten Sinn neumeisterlich. Er verkörpert nicht Klassisches, sondern kommt doch viel eher von der coolen Lakonik der Amerikaner. An den alten, immer wieder neuen Raymond Carver erinnert das, mit einem bissig witzigen Schuss T. C. Boyle: „In einer Bar unter dem Meer“ das reimt sich ja nachgerade auf „Wenn der Fluß voll Whisky wär“.

Aber nein, es ist nicht so wie bei Bauers Filmemacher in der Erzählung „Full Shot“, der „froh war, seine Ausbildung in den USA gemacht zu haben.“ Gute Plots, gekonnter Schnitt, rasant wechselnde Stillagen – das sind durchaus auch europäische Tugenden. Vielleicht sollte man einfach dazusagen, dass diese Erzählungen sehr originell, wohl überlegt und keinesfalls abgekupfert sind. Es macht wenig Sinn, hier Geschichten nachzuerzählen oder Passagen zu zitieren – man käme aus dem Zitieren gar nicht mehr heraus. Hier findet man einen kleinen Kosmos von 19 Geschichten, subtil vernetzte Erzählstoffe, die man unbedingt zur Lektüre empfehlen kann. Bauer liest auch noch sehr gut, daher auch Lesungen besuchen! Das Schönste aber überhaupt ist, und das spürt man bei jeder Zeile: Dieser Autor wird nicht stehen bleiben, er wird sich noch weiter entwickeln.

Bernhard Sandbichler

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Carla Festi und Nicolao Merker: Il Vento della Storia. Ritratti di famiglia a Villa Clementi
Trento: Stampalith editore, 2013

 
Blick ins Nachbarland. Eine Familie in Mitteleuropa



© Stampalith editore, 2013„Kudewah“ – so lautet der Titel des unvollendeten Romans des Schriftstellers Bernhard Jülg, und es ist die phonetisch verzerrte Wiedergabe des französischen „coup de vent“. Ein Windstoß, eine Böe, die unerwartet und heftig daherkommt, die Richtung wechselt und schon auch einmal den einen oder anderen wenn nicht umwirft, so doch ins Wanken bringt. In diesem Roman unternahm Jülg den Versuch, die Geschichte seiner italienischen Verwandten im 19. Jahrhundert zu erinnern, eine in Fragmenten angeordnete Familiensaga, die sich stark an Assoziationen und Kindheitserinnerungen hält. Und an dieses „Kudewah“ lehnt sich die Publikation von Carla Festi und Nicolao Merker an: „Il vento della Storia. Ritratti di famiglia a Villa Clementi.“ Familienporträts, Villa Clementi, der Wind, der Hauch, der Atem der Geschichte.
Es ist ein beeindruckend facettenreiches Buch geworden, in dem sich die beiden Herausgeber und Mitautoren Carla Festi, Germanistin, Anglistin und Romanistin und seit langen Jahren am Institut für Romanistik hier in Innsbruck tätig, und Nicolao Merker, Neffe von Bernhard Jülg, Philosoph und langjähriger Professor an der philosophischen Fakultät von  „La Sapienza“ in Rom, der Historie der Familien Jülg, Clementi und Spath nähern. Das Zentrum ist dabei die Villa Clementi, bei Tavernaro in den Trientiner Hügeln gelegen.

Vor den Augen der Lesenden entfaltet sich aus den unterschiedlichsten Blickpunkten die Geschichte einer mitteleuropäischen Familie aus der Zeit der Donaumonarchie und darüber hinaus, mit Stationen in und (familiären) Verbindungen zu Rostock, Berlin, Wien, Krakau, Lemberg und Brescia.
Bernhard Jülg, der gleichnamige Großvater des oben erwähnten Schriftstellers, Sohn von Bauern und Winzern im Schwarzwald an den Hügeln des Rheins, war es, der, aufgrund seiner außerordentlichen Begabung vom Pfarrer zum Studium animiert, an den Universitäten von Heidelberg und Berlin (wo er u.a. mit Alexander von Humboldt Kontakt hatte) orientalische Philologie und vergleichende Linguistik studierte, unter anderem Sanskrit, Mongolisch, Chinesisch, Mandschu, Finnisch, Türkisch, Armenisch und Koptisch. Nachdem er in Krakau und Lemberg Lehrstühle innegehabt hatte, folgte er dem Ruf nach Innsbruck. Er gilt hier als der Begründer der Vergleichenden Sprachwissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität, wo er auch als Rektor tätig war. Besonders tat er sich mit der Erforschung des Kalmükischen und im Bereich der Sagenforschung hervor. Aus seiner Ehe mit Ottilie Antonie Teutgenhorst gingen fünf Kinder hervor; der Erstgeborene Karl bindet durch seine Heirat mit Maria Carolina Leopoldina Spath (geboren in Steinach mit Wurzeln ins Trentino mütterlicherseits) die weiteren Familiengeschicke an die Villa Clementi.
Dem Bildungsbürgertum angehörend, lebten die beiden in engem Verbund mit den Geschwistern von Maria in Trient. Man sprach Deutsch untereinander, beherrschte das Italienische perfekt ebenso wie den Trentiner Dialekt. Ein kulturell kosmopolitisch angehauchtes Familienleben, in dem, so Nicolao Merker, der die Familienchronik verfasste, die Politik meistens außen vor blieb. Man war kaisertreu, pflegte die Kultur und lebte für die Familie.
Doch auch in diese Familie griff der Erste Weltkrieg mit seinen Konsequenzen ein., Anhand der Buchbeiträge zu den Lebensläufen der beiden Söhne Carlo und Bernhard lässt sich dies sehr gut nachvollziehen. Nachdem die Familie sich 1918 wiederum in Innsbruck niederlässt (und Ende der 1920er Jahre definitiv nach Tavernaro zurückkehrt), beschließt Carlo, nachdem er in Innsbruck Romanische Philologie studiert hat, die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen und eine Sprachschule in Bozen zu gründen. Letztendlich unterrichtet er dann Deutsch in Brescia, gemeinsam mit seiner Frau Valeria von Wachenhusen. Die beiden engagieren sich militant gegen den italienischen Faschismus und  verbringen ein Jahrzehnt in Gefangenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtet er weiterhin an verschiedenen Orten in Italien; Valeria und er schließen sich dem PCI an (siehe dazu die Beiträge von Carlo Clementi, S. 173 f., Carla Festi, S. 269 f., Ines Pisoni, S. 315 f.). Bernhard Jülgs Leben hingegen spielt sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg vor allem in Innsbruck ab (mit ihm beschäftigen sich im vorliegenden Buch Aufsätze von Johann Holzner, S. 127 f. Und Carla Festi, s. 225 f.). Hier lernt er Ludwig von Ficker kennen und bewegt er sich in den Kreisen des „Brenner“. Nach 1921 widmet er sich ausschließlich dem Schreiben. An seinen Veröffentlichungserfolg (1941 und 1943 zwei Romane bei „Piper“) kann er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr anschließen und so verbringt er immer mehr Zeit in Tavernaro, in der Villa Clementi, wo seine Schwestern Carlotta und Maria Mercede lebten, letztere war nach dem frühen Tod ihres Mannes gemeinsam mit dem Sohn Nicolao ins Anwesen zurückgekehrt.

Das Schreiben in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen war ein wesentlicher Teil des Lebens in der Familie. Die jüngste Schwester Carlotta führte ab 1926 über sechzig Jahre lang ein Tagebuch, in dem sie mit täglicher Beharrlichkeit zu Beginn die meteorologischen Verhältnisse sowie Anmerkungen zur Hühneraufzucht notierte, das sich aber mit der Zeit zu einer veritablen Familienchronik auswuchs. Ihm ist es zu verdanken, dass die Familiengeschichte so genau rekonstruiert werden kann. Auch Carlo schrieb konsequent Tagebücher, und von besonderem Interesse sind die Briefe, die er mit seiner Frau Valeria während der Zeit der Gefangenschaft wechselte, die so genannten „Quaderni blu“, zwei blaue Hefte, in die Carlo die Briefe an seine Frau noch einmal niederschrieb (Auszüge aus den Briefen sind in vorliegendem Buch abgedruckt).

Das Besondere an der umfangreichen Aufarbeitung dieser Familiengeschichte, von der in dieser Rezension nur die wesentlichsten Eckpfeiler wiedergegeben werden können, liegt in der vielschichtigen Herangehensweise, den die beiden Herausgeber gewählt haben. So weitet sich die familiengeschichtliche Auseinandersetzung in einen kultur- und architekturhistorischen Abriss über die Geschichte Tavernaros (Enrica Buratti Rossi, S. 333f.,) jene der Geschichte der Villa Clementi (Carla Festi, Roberto Festi, S. 359f.), der in eine kulturhistorische Wanderung durch die Villenlandschaft rund um Trient, in die die Villa Clementi eingebettet ist, mündet (Roberto Festi, 381). Besonders hervorzuheben sind die Übersetzungen ausgewählter literarischer Passagen von Bernhard Jülg (vor allem die zehn Kapitel aus „Kudewah“, S. 225f.) durch Carla Festi. Abgerundet wird der schön gestaltete Band durch eine reichhaltige, farbige Bebilderung.

Anna Rottensteiner

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Martin Fritz: intrinsische süßigkeit. Lyrik
Horn: Berger 2013 (Neue Lyrik aus Österreich ; Band 4)

 

© Berger, 2013Der Band 4 der Reihe „Neue Lyrik aus Österreich“ präsentiert ein erstaunliches Debüt. Der mit „intrinsische süßigkeit“ betitelte Band des jungen Lyrikers Martin Fritz enthält höchst eigenwillige, gleichermaßen virtuose wie leichtfüßige Versgebilde, von denen nicht genau gesagt werden kann, ob sie Gedichte oder Gesänge oder ein Sprachrauschen sind. Poetisch sind sie allemal, formal stringent und klug gestaltet; singen tun sie auch, sprechend singen oder singend sprechen; und sie sind rauschend, d.h. berauscht von dem, was sie inszenieren. Sie sind Zeugnisse und Generatoren von Sprachrauschzuständen.

Martin Fritz‘ poetische Texte weben einen Klangteppich, sie evozieren eine primär aus Lauten und Klängen aufsteigende eigene Wirklichkeit. Sie präsentieren sich als weit offene Sinngebilde, in denen die Sätze grammatisch vielfach ins Leere laufen, einander durchkreuzen, sich pausenlos verschränken, über weite Strecken ohne Trennungszeichen, ohne hörbare Zäsuren. Aus „jungen“ Wörtern und „jungen“ schnellen Rhythmen formt sich ein atemloser Laut-Gesang. Wer das Glück hat, den Autor selbst lesen zu hören, wird vom stark performativen Charakter seiner Lesung mitgerissen. Fritz skandiert seine Verse,  er liest die Gedichte im Takt, durchgehend mit hoher Geschwindigkeit, und – wiewohl es keine wirklichen Melodien sind, die er singt – so ist es doch ein Sprechgesang mit deutlichem Rap-Charakter, den er den Hörerinnen und Hörern präsentiert. Die an Flowtechniken des Rap erinnernden lockeren Rhythmen, die hohe Musikalität der Sprache (die sich auch versteckter rap-ähnlicher Wiederholungen bedient) sowie der sprühende Witz machen Fritz‘ Lesungen zu  Wort-Pop-Konzerten der besonderen Art.

Das Sprachregister ist das einer jungen Szene (happy hour, mistaggte bookmarks, zappen, active beauty magazin), gekennzeichnet von einer überstarken Präsenz der Computersprache sowie Anleihen aus der Hip-Hop-Kultur, aber auch von Fragmenten einer Bildungssprache, wie sie eine junge, akademisch gebildete, polyglotte, global vernetzte Generation spricht. Das einleitende Gedicht „die tierbabies um uns sind unruhig“ präsentiert in schwindelerregender Schnelligkeit eine Unzahl sehr verschiedener Tierbabies (rotrückenspottdrosselbaby, goldbauchschnäpperbaby …), die sich voneinander jedoch gerade noch durch ihren Tierspeziesnamen unterscheiden (ihr „label“); viel eher sind sie gleich, einander gleich geworden durch „globale“ Requisiten (Einstiegsportale ins Internet) und „globale“ Tätigkeiten (im Internet) (aus klein gefalteten / zettelchen schreibt das kleine stiglitzbaby sachen dann ins internet hinein … das kleine kleiberbaby bloggt vielleicht auch eine daily graphic novel). In die virtuellen (intellektuellen) Tätigkeiten im Netz und ihre Parodien (die bewertung von / popkultur unter dem aspekt der subversivität sprich fehl genauer leistungsperspektivischem code) schieben sich ansatzweise noch Alltagsverrichtungen wie Grießschmarrn-Kochen und Alltagsgefühle wie der Ärger über Bullenschweine und  die Freude am Bier. Doch inmitten technischem Know-how und hochspezialisiertem Vokabular (inmitten einer leistungsfähigen Existenz also) überlebt die Angst vor der abschaffung der tierbabyarten, vor der endgültigen Nivellierung, vor der Niederlage im Leistungsgefecht.

Es ist nicht das Lebensgefühl eines Großstadt-Ghettos, das Fritz einfängt, sondern das einer gebildeten jungen Generation einer mittelgroßen vielleicht österreichischen Stadt (beyoncé, carly rae jepsen und rihanna zum frühstück / sternderlaufgabe neuer innsbrucker ernst / (n.i.e.) exzellenzcluster). Arbeit, Freundschaften, Liebesbeziehungen, Freizeitaktivitäten, geschäftliche und bürokratische Tätigkeiten … alles spielt sich vor dem Bildschirm ab.  Die in den Gedichten auftauchenden Stimmen gehören jungen, technisch versierten, digital kommunizierenden Menschen (darauf die katze wie viel gigabyte hat dein tag). Gesucht wird allerdings nach jemandem, mit dem – eventuell jenseits vom Internet −  noch gut zu sprechen wäre (über das was es selbst wirklich interessiert / kann sich das kleine stockentenbaby unterhalten sowieso mit niemand). Zwischen Hochleistungsdruck und virtuellen Kontakten aufgerieben, von Informationen chronisch überflutet (und ständig neue post doch niemals zeit zum selektieren da), cool und bedroht zugleich, zeugen die Stimmen vom widersprüchlichen Gefühl, erwachsen zu sein und sich doch wie ein (Tier-)Baby zu fühlen. Es ist indes die herausragende künstlerische Leistung des Autors, aus den „großen“ Themen (Identität, Zukunftsperspektiven, virtuelle Kommunikation, die sich fast anhört wie Liebe …) ein so leichtes und poppiges Stimmen-Netz zu weben, dass es klingt, als würde es eine intrinsische süßigkeit enthalten.

Im Gedicht „ketwurst“ wird mit zu vielen, zu schwierigen, weil zu speziellen Redensarten und Redeweisen gespielt. Die Ketwurst, so erklärt uns Wikipedia, sei ein typisches Produkt der DDR-Imbisskultur und habe der Abspeisung großer Menschenmengen gedient. Indem sich das Gedicht eines sehr gehobenen Sprachregisters und eines schnellen, coolen sounds zugleich bedient, parodiert es die hochtrabende „Abspeisung“ von Nicht-Experten durch Spezialisten-Reden. Die letztlich unverständlichen Wortfolgen (insichvollendsein als trennung des subjekts von der verbundenheit der welt … abstraktionsbegehren vs. irreduzibilität ist immer wieder gender feeling … dispersion empfiehlt der ideologe) inszenieren das arrogante, unnahbare Sprachgehabe, wie es in wissenschaftlichen Kreisen beobachtbar ist. Zitate aus der Internetsprache, aus dem wissenschaftlichen Diskurs sowie Kommunikationsfragmente bilden ein Patchwork-Gebilde, das man als over-chilled bezeichnen könnte. Und doch: aus dem zusammenhangslosen, die eigene Unverständlichkeit inszenierenden Wort- und Satzgestöber steigt ganz am Ende (halblaut) ein fast zärtlicher Satz auf.

Fritz‘ Gedichte spiegeln die den Einzelnen überwältigende global anwachsende Informationsflut. Die ineinander übergehenden und doch zusammenhanglosen Satz- und Sinnfragmente reflektieren das Stimmengestöber im Internet, von dem sich auszuschließen mittlerweile für den Einzelnen fast unmöglich geworden ist und das im Internet-User zu Gefühlen der Überforderung und letztlich der Vereinzelung führt. Wie kann man sich finden in einer Welt gleichzeitiger, doch gesichtsloser Stimmen? Treffsicher und formal raffiniert fängt der Autor in seinen Texten das Gefühl der Unverbindlichkeit und Uneigentlichkeit ein, das sich bei einer hochfrequenten Internet-Nutzung einstellt (wir sind recht eigentlich auch gar nicht da / das alles passiert nicht eigentlich). Das lyrische Wir spricht von einem Lebensgefühl der Nicht-Dazugehörigkeit und Entfremdung: „wir“ empfindet sich als kleinste, den neuen, fremden Systemen sich anpassende Größe: wir sind wie sehr kleine alte fische / die sich zu fremden schwärmen bei gefahr / dazuschleimen es immerhin versuchen

„Wir“, das sind keine identifizierbaren Redeinstanzen. „Wir“ ist die Stimme eines kollektiven Ichs. Die Tierbabies (überhaupt die vielen Tiere in den Gedichten) entziehen sich aller individuellen Zuschreibungen. Die Gedichte sind das Echo einer kollektiven (inneren) Rede. Wir – das sind tierbabies, moormaulwurf, analogkarpfen, digitalkatze, süßes kleines einhorn … : als lyrische Subjekte haftet ihnen etwas Unpersönliches an, auch Winziges und Harmloses, sie sind gewissermaßen austauschbar, süß und ungefährlich. Überflutet von fremden Stimmen ringen sie um ihre Identität und um Selbstbehauptung (wegen gestern geschlossen ist das / gefühl der verpflichtung anderen gegenüber / man selbst zu bleibenich kann hier nicht so sein wie ich es bin). Niemals lässt der Autor jedoch zu, dass die großen existentiellen Themen die Leichtigkeit des Gesamteindrucks erschlagen; sie kommen vielmehr ganz locker daher, klingen wie nebenbei gesagt; Schweres steht neben Leichtem, Ernstes neben Banalem, Kluges neben höchst Albernem. Die Verse fließen schnell dahin, das Ohr muss weit offen bleiben, um das Einzelne im Rauschen wahrzunehmen.

Es lohnt sich allemal, die Gedichte mehrmals durchzulesen, entweder langsam und sorgfältig oder aber (wie es der Autor tut) mit hoher Geschwindigkeit. Zu den gelungensten Strategien des Gedichtbands gehört nämlich die Raffinesse, mit welcher die Aufmerksamkeit der Leser/Innen vom Inhalt weg und hin zum Klang gelenkt wird. Die Gedichte laden dazu ein, den Fokus vom Satzinhalt zum Klangumriss zu verlagern, sich nicht auf den „Sinn“, sondern auf die Klangqualität zu konzentrieren. Die vielen variierenden Wiederholungen verleihen den Gedichten einen gewissen Mantra-Charakter. Sinn, Gegensinn oder wirres zeug werden zu einer reell wahrnehmbaren Klangmassage. Die Gedichte sind Wortwogen, die ans Ohr der HörerInnen branden; sie sind beides: poetischer Lärm und Stille in einem; sie sind laut und lautlos zugleich; sie sind ein Stimmengewirr, doch ohne Behauptungen und ohne Urteile. Sie inszenieren die tosende Brandung der Stimmen im Netz und branden selbst dagegen an und heben diese eigentlich auf.

Zu den Stärken des Bandes zählt mit Sicherheit die Virtuosität, mit der der Autor mit der Materialität der Wörter spielt, mit der er ihre klingende Oberfläche akzentuiert. Des Weiteren besticht der Band durch den Sprachwitz, durch die spielerische Leichtigkeit, mit der Sinn dekonstruiert wird. Fritz beherrscht die Kunst, seine Gedichte fast nichts sagen, sondern weit offen zu lassen; anstelle von Behauptungen und Sentenzen erleben wir ein Zuwider-Reden, ein Ins-Wort-Fallen, ein Ineinander- und Synchron-Reden. Die Gedichte enden so offen wie sie beginnen.

Fritz‘ Gedichte treffen den „sound“ derjenigen, die heute jung sind: der Meister der digitalen Kommunikation, der vernetzten Prosumenten, der gebildeten Akteure im Web 2.0. Sie spiegeln ihre vom Deutschen ins Englische und retour wechselnde Rede, die Pidgin-Varianten von beiden, in denen Song-Zitate zu Bedeutungsträgern werden. Vom poetischen Satz, sagt Anne Duden, dass er „unbeirrbar und ungreifbar“ sei, „das Schwellenwesen, ein Vorgang des Übertretens, Aus- und Überschreitens, Unterlaufens und Auffahrens“ (aus: „Lobreden auf den poetischen Satz“). Darin liegt auch die poetische Qualität der Gedichte von Martin Fritz (ebenso wie ihre formale Homogenität): dass sie die Stimmen der Gegenwart gegeneinander auffahren lassen, dass reelle und virtuelle Reden einander unterlaufen, dass die Schwellen von Sprach- und Wirklichkeitsdimensionen übertreten werden.

Auch der Titel bleibt offen, unterläuft eigentlich die Gedichte. Was immer auch die „intrinsische süßigkeit“  sein mag: sie versetzt das Lesen ins Schwingen, sie hält die Neugier aufrecht, sie enthält ein süßes, geheimnisvolles Versprechen, das sie bis zuletzt nicht lüftet, so wenig wie sie es bricht.

Eleonore De Felip

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die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. „Pressköter und Tintenstrolche!“ zusammengestellt von Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer, 250. Band, Göttingen 2013

 Zur Zeitschrift "die horen"

 
Jubiläumsband die horen – eine spannungsvolle Ausgabe zum Thema LiteraturZeitSchriften

„Dass es Zeitschriften im Literaturbetrieb nicht leicht haben, ist eine Binsenwahrheit, und die Verluste sind inzwischen erheblich – andererseits gab es wohl kaum je zuvor so viele Neugründungen, ob auf Papier oder im Internet, oft auch beides“ (5), schreiben die HerausgeberInnen Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer in der Einleitung zur Jubiläumsnummer die horen.  Immerhin, diese renommierte Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik legt ihren 250. Band vor, Kurt Morawietz gründete sie 1955 in Hannover. Ihr Name geht auf die nach Schiller benannte Zeitschrift zurück, die ab 1795 für drei Jahre erschien. Dieser Band, der den Titel „Pressköter und Tintenstrolche!“ LiteraturZeitSchriften trägt, ist unterschiedlichsten – europäischen und auβereuropäischen – Literaturzeitschriften gewidmet, betrachtet ihre Entstehung, Entwicklung, oft auch ihren Untergang, stellt die Schwierigkeiten, auch Vorteile (und eben auch Nachteile) einer Zeitschrift gegenüber einem Buch dar, erzählt von individuellen Erfahrungen mit Literaturzeitschriften, von Leidenschaften und sogar von Abhängigkeitsverhältnissen. So mannigfaltig das Zeitschriftenspektrum, so vielseitig auch die Themen und Textsorten, die dieser über 300 Seiten reichende Band bietet. Von seiner persönlichen Annäherung an Literaturzeitschriften erzählt Günter Kunert. Er hebt „das haptische Moment“ (7) der Zeitschriften hervor, dem „etwas Wesentliches und Eindringliches“ (ebd.) anhaftet. Im Gegensatz zu Büchern haben Zeitschriften – dem Verfasser zufolge – auch eine gröβere Zeugnisfähigkeit, weil sie ihrer Zeit verhafteter sind und auch „Nebensächliche[m]“ (8) Raum geben. Persönlich sind auch die folgenden Beiträge, zusammengefasst unter dem Titel Nachgetragene Liebe. Konterbande. So geht Nadja Küchenmeister auf ihr Jahr 2004 ein, in dem die Literaturen sie monatlich begleiteteten. Die Literaturzeitschrift bildet ein wichtiges Forum für literarische Neuentdeckungen – Küchenmeister entdeckt W.G. Sebald und bleibt der Zeitschrift schon allein deshalb jahrelang treu. Die Auseinandersetzung mit alten Zeitschriften als eine Form aus der Zukunft in die Vergangenheit zu blicken, sieht die Verfasserin als eine weitere interessante Möglichkeit den Zeitschriften zu begegnen.

Unter dem Titel Da ist das kümmerliche Wort von ‚Engagement‘... nehmen die Beiträge Bezug auf die politische und gesellschaftliche Haltung der Literarurzeitschriften. Rolf Schneider geht auf Karl Kraus‘ Die Fackel (1899-1936) ein, stellt seinen „lebenslangen Kampf gegen leeres Gerede und Geschreibe“ (34) dar und erwähnt seine Beurteilung der Neuen Freien Presse als „'Pressköter', 'Saupresse', 'Tintenstrolche'“ (35). Der Einfluss der Zeitschrift wird an Elias Canettis Titel des ersten Teils der Autobiographie Fackel im Ohr festgemacht, aber auch an der Zeitschrift Der Brenner, die sich an der Wiener Zeitschrift orientierte. Eberhard Sauermann widmet sich dem kulturellen Konzept der Zeitschrift Der Brenner, wobei er ihre konservativen und konventionellen Tendenzen sichtbar macht. Das geforderte „Zurück zur Natur“ (40) als literarisches Programm stellte sich gegen die Vernunft und in die Nähe der Religion. Auch wenn die Herausgeber Kontakt zu fortschrittlicheren Zeitschriften auβerhalb des Regionalraums pflegten, blieben die Inhalte insgesamt konservativ. Die in zwei weiteren Beiträgen vorgestellten Exilzeitschriften Neue Deutsche Blätter, Die Sammlung und Die Dschunke hatten zum Programm den „Kampf gegen das Nazireich mit publizistischen Mitteln“ (47), wobei Sascha Feuchert am Beispiel der letztgenannten aufdeckt, dass dies im Detail nicht immer ganz so zutraf.

Unter ...natürlich wurde gestritten. berichtet u.a. Peter Härtling von seinen journalistischen Jahren mit Monat, von den wichtigen Erstübersetzungen vom New Yorker ins Deutsche (Hannah Arendts Eichmann-Buch, Saul Bellows Prosa) sowie vom Besuch von Jorge Luis Borges und Mary Hemingway in der Redaktion. Interessant  ist auch der Beitrag zu den seltenen Ausgaben der Streit-Zeit-Schrift, 16 insgesamt, die zwischen 1956 und 1969 im Heinrich Heine-Verlag erschienen und an denen alles „ungewöhnlich“ (73) war: „der Titel, das Format, die Machart, und natürlich die Konzeption – die Lust an der Provokation, das Satirische und das Spielerische“ (ebd.).

Der Abschnitt unter dem Titel aber ich kann nie bereuen es versucht zu haben beinhaltet u.a. Anton G. Leitners Erfahrungen als Lyrik-Verlegers mit den Lyrikern, die für ihn mit so manchen peinlichen,  für den Leser allerdings unterhaltsamen, Momenten verbunden sind. Das Entstehen, Verschwinden und das Comeback der studentischen Zeitschrift metamorphosen in Heidelberg, dargestellt von Ingo Drẑečnik, zeigt, wie sich eine Zeitschrift im Laufe der Jahre wandeln kann und dass der gegenwärtige Markt für Literaturzeitschriften sich nicht ganz so wesentlich von dem vergangenen unterscheidet. Der Verfasser schlieβt: „Gerade in Zeiten des Online-Publishings und der E-Books ist das kaum zu erwarten gewesen und muss einem natürlich auch sentimentalisch einnehmen. Vermutlich ist die Markt-Situation von heute aber grundsätzlich gar nicht so anders als 1991, denn der Kreis der Leser von gedruckten Literaturzeitschriften war auch damals schon eng gefasst – und damit recht präzise kalkulierbar.“ (166) Heiko Strunks Beitrag zu lyrikline stellt die Besonderheit und Zentralität der Stimme beim Erleben von Lyrik in den Vordergrund und präsentiert das Konzept dieser auditiven online-Zeitschrift als „eine wachsende, vielbändige, mehrsprachige Anthologie“ (167).

Ein weiterer spannender Teil der Ausgabe befasst sich mit Literaturzeitschriften im Ausland, u.a. mit der französich-maghrebinischen Zeitschrift Intersignes, mit griechischen und polnischen Zeitschiften, aber auch koreanischen und chinesischen. Dabei kommt  bzw. kam neben der allgemeinen nicht immer einfachen Situation für literarische Zeitschriften hier so manches Mal noch die politische Dimension hinzu, d.h. lange Zeit die offizielle Illegalisierung von Zeitschriften, wie Juliana Kaminskaja am Beispiel der russichen Zeitungslandschaft darstellt.

Unter Ein unerhört aufregender Gegenstand oder Stile und Schreibhaltungen findet man u.a. Michael Brauns Bericht über seine „Zeitschriftenjahre“ (264), die für ihn „die Ingredienzen eines privaten Bildungsromans“ (267) bilden, „der dem Verfasser immer neue Wissens-Räume eröffnet“ (ebd.). Kurt Drawert dagegen befasst sich mit der Bedeutung der Literaturzeitschriften heute und schreibt u.a., dass über deren Bedeutung nachzusinnen einschlieβt, „auch über die der Literatur nachzudenken. Denn wie könnte eine Zeitschrift wichtiger sein als das, was sie vertritt?“ (268)

Die Ausgabe der Zeitschrift lässt im letzten Abschnitt Schiller zu Wort kommen. Er teilt in einem Brief seinem Verleger Cotta das Ende der Zeitschrift die horen mit und bittet ihn darum, „allen Eclat zu vermeiden“ (303).

Abwechslungsreich, spannungsvoll und mit zahlreichen interessanten Einzelheiten präsentiert sich der 250. Jubiläumsband die horen. Ihm seien viele interessierte LeserInnen gewünscht!

Barbara Siller

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Sabine Gruber: Ein unerhörter Wunsch. 22 Kurztexte. Offsetfarblithographien: Anna Stangl
Horn: Edition Thurnhof, 2013

 

© Edition Thurnhof, 2013Sabine Gruber und Anna Stangl veröffentlichten in der außergewöhnlich bibliophil gestalteten Reihe oxohyph in der Edition Thurnhof ein gemeinsames Werk, das Literatur und Grafik intermedial in Verbindung bringt. 22 Kurztexte von Sabine Gruber stehen 9 Offsetfarblithographien der Künstlerin Anna Stangl gegenüber oder nebeneinander, Bild und Wort begleiten, umrahmen, grundieren einander gleichermaßen.

Das Titelbild des Bandes zeigt eine sitzende Frauengestalt, ein zauberisches filigranes Wesen, das – blättert man weiter -  in immer wieder neu verwandelter Gestalt gleichsam durch das Buch wandert. Einmal ist sie ganz in sich versunken mit dunkelroter Blumenpracht auf ihrem Haar, in dem sie ein andermal eine Schlafende beherbergt; einmal kehrt sie einer männlichen Gestalt den Rücken zu; dann wieder trägt sie einen Oktopus am Herzen; einmal wächst ihr eine große rote Blume aus dem Leib; erscheint als Häsin oder als traumverlorenes Tier in Bärenkleid.

Auch die Figuren der Kurzprosa-Texte, sind eigentlich ‚Gestalten‘, variieren Existenzen und Befindlichkeiten, die sich schon im titel andeuten: als die „Glückliche“, der „Undankbare“, die „Trauernde“, der „Schwimmer“, die „Undankbare“. Vor dem Hintergrund einer skizzierten Situation heben sich die Umrisslinien dieser Gestalten ab. Was sichtbar lesbar wird, sind die auf ihren innersten Kern reduzierten Themen und Motive. Die Figuren bleiben namenlos, sind von außen beobachtet und wahrgenommen: Sie sind Trägerinnen und Träger von Haltungen, Gesten, Gebärden und Handlungen, in denen sich das Konzentrat einer durchlebten Situation ausdrückt. Es scheint die Zeit still zu stehen, es ist, als würde der Text jenen Moment einfangen, den der Auslöser einer Kamera als Bild, als Szene festhält. Man kann die Texte, denen ein an Kafka geschulter Blick innewohnt, auch Prosaminiaturen nennen. Als modellhafte Verkleinerung enthalten sie verdichtete Erzählkerne, solche, die Romane als Handlungsfäden und Fasern eines erzählten Lebens entflechten und ausbreiten.

Ein Beispiel: „Ein unerhörter Wunsch“ (S.19) ist der Titel des Bandes und auch der Titel eines der Kurztexte. Der Text liest sich zuerst wie eine filmische Miniatur. Die ersten Zeilen zeigen wie ein Filmset Menschen beim Verlassen einer Kirche. Ein Sargdeckel schließt sich, ein Begräbnis also, dann aber scheint sich die Trauer zu wandeln: „Die, die da knieten, werden bunt“, heißt es. Aus dem anonymen Plural der Begräbnisgemeinschaft hebt sich ‚eine‘ heraus, die als letzte die Kirche verlässt, die ihre Hände in den (Weihwasser)Brunnen taucht. Eine also, die sich Zeit lässt mit dem Zurückkehren und ihren Platz in der Trauergemeinde nicht finden kann. Dieser Szene folgt durch ein Perspektivenwechsel (wie durch einen Kameraschwenk) eine Sicht aus großer Distanz, und darin liegt vielleicht der unerhörte Wunsch (als gedachtes Bild im Innern der Figur): Aus zeitlich räumlicher Entfernung von oben gesehen verlieren sich die Gräber und Einfriedungen zu einem Muster aus Gittern und Kreuzen und „sie“ erscheint nun wieder als eine unter vielen, „die sich einhakt und lacht, bis das Haar aus der Ordnung fällt.“ Der elfzeilige Text ist bis aufs Äußerste verknappt und legt dadurch quasi die innere Struktur einer Szene frei. Kehrt in diesem Text die Gestalt der „Trauernden“? (S.17) wieder, die ihre Erinnerungen an die „Tote“ wie Blumen durch ihr Leben trägt?

Die Leerstellen und Zwischenräume füllen sich durch die subjektive Optik des Lesens, durch ein freies Ineinanderfließen von Text- und Bildassoziationen. Dem Text „Ein unerhörter Wunsch“ folgt eine Doppelseite: Dort sitzt die Titelseitenfigur wieder auf rotem Grund in goldenem Kleid - wie in einem Nest. Geschützt vom runden Zaun eines liegenden Schlangenkörpers blickt sie zur Seite: zum Kopf der Schlange - diesen aufmerksam betrachtend und wie konzentriert in die Stille horchend. 

Christine Riccabona 

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Aus: Sabine Gruber: Ein unerhörter Wunsch. 22 Kurztexte. Offsetfarblithographien: Anna Stangl. Horn: Edition Thurnhof, 2013

 


 

Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom Anfang. Roman
München: Carl Hanser Verlag 2013
  

Eine Ahnung vom Glück

© Carl Hanser Verlag, 2013Wir Österreicher leben in Zeiten der Schulreform. Demnächst wird alles anders, alles neu, alles besser: das Dienstrecht, die Unterrichtenden, die SchülerInnen. Jeder weiß: Es muss sein. Der schulische Zustand (die Lehrer-Gewerkschaft!) ist himmelschreiend! Und die Experten, also fast alle, schreien es auch zum Himmel: Früher war es nicht besser! Vermutlich werden Bücher wie Das fliegende Klassenzimmer oder Der Schüler Gerber oder Die Klosterschule oder Der Musterschüler oder Der Zögling Törleß oder Jakob von Gunten exotisch werden. Die Altvorderen müssen es den nächsten Generationen ausdeuten: Was Frontalunterricht war und was Zucht und was Ordnung und was ein Internat. Und überhaupt: Vielleicht müssen sie demnächst klären, was ein Buch ist. Denn auch das ist ein Gegenstand, der reformiert wird, und über die Grenzen Österreichs hinaus.

Mit diesen brennenden Themen der Jetzt-Zeit hat Norbert Gstreins neuer Roman nichts gemein. Zum einen: Sein Erzähler ist ein Gymnasiallehrer, der „bald zwanzig Jahre im Schuldienst“ ist, ein in sich Ruhender, für den „die Dinge auf festem Grund standen“ und der die „Brüchigkeit“ der Existenzen um ihn mit verständnisvollem Interesse notiert: eine „komfortable Haltung“, gerade so altmodisch wie „die beiden Anzüge, die ich mir in Istanbul hatte machen lassen“. Umgekehrt taxieren ihn diese Existenzen mit belächelnden oder verwunderten oder auch lauernden Blicken. Zum andern muss man sagen: Norbert Gstrein ist ein kluger Autor und er hat einen wunderbaren Roman geschrieben. Mehr noch: Es ist ein ganz und gar schönes Buch, das man da in Händen hält, optisch und haptisch ein Glücksfall! Schön, dass es Bücher noch gibt.

Der Romananfang ist konventionell, aber genauso gekonnt kalkuliert wie etwa der Anfang seiner frühen Erzählung Anderntags: „An einem Nachmittag, plötzlich, wie ohne mein Zutun, stand der erste Satz da, keine Zeile lang. Ich hatte begonnen.“ So unversehens kommt auch der Gymnasiallehrer dazu, diese Geschichte aufzuschreiben, am Ende des Romans, der tatsächlich „eine Ahnung vom Anfang“ spiegelt: scheinbar einfach komponiert, aber eben genial. Was dazwischen erzählt wird, ist „ganz und gar herausgefallen aus der Zeit“. Es ist in drei Teile gegliedert (Damals im Sommer, Der Reverend, Draußen am Fluss, und einen kurzen Schlussteil, Nach allem – In das dunkelste Blau), die Welt einer Provinz, in der sich ein Direktor Aschberner, Pfarrer Bleichert, ein „grimmiger Verweser der ewigen Wahrheit“, ein Inspektor Hule oder ein Herr Frischmann von der lokalen Presse tummeln – nicht ganz unähnlich dem Universum, ja: des Räuber Hotzenplotz oder der Pippi Langstrumpf? Natürlich: Es ist dies auch eine Geschichte des Lesens, in der so gewichtige Werke wie Der Kinogeher von Walker Percy, Der große Gatsby von Scott Fitzgerald oder Himmel über der Wüste von Paul Bowles vorkommen. Es geht um „diese literarische Sehnsucht und dieses literarische Glück. Sich in einer Situation vorzustellen, wie man sich später daran erinnern würde, nur um dann zu erkennen, dass man das, woran man sich erinnerte, nicht mehr haben konnte … Man schob den Augenblick in die Zukunft, um von dort aus alles in der Vergangenheit zu haben, in der es dann verloren war, und was einem blieb, ging auf in der bleierne Schwebe der Melancholie.“

Beides, die tief bohrende Reflexion und das abenteuerlich flirrende Paradies, gehen ungestelzt und kitschfrei ineinander auf. Beim Lesen ergeht es einem nicht viel anders als dem Erzähler, der die Familie des Reverends englisch sprechen hört: „Sie sprach englisch, doch mir kam es eher vor, als würde sie eine Sprache aus einer anderen Zeit sprechen. Es hätte aus einem mittelalterlichen Versepos stammen können, und ich wäre ein Ritter gewesen, der nach langer Irrfahrt nach Hause kam und vor der Lösung des Rätsels stand, das ihn um die ganze Welt getrieben hatte.“ Norbert Gstrein hat eine scheinbar einfache Geschichte mit scheinbar einfachen Mitteln erzählt. Wenn das Wort nicht so abgedroschen und daher unpassend wäre, könnte man meinen: eine gelungene Reform.

Bernhard Sandbichler

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Hans Haid: Lesebuch II (Band 27 Schriftenreihe Ötztal-Archiv)
Studienverlag Innsbruck, Wien, Bozen 2013

 
„Und wer hat uns die POESIE versteckt? die POESIE?“

© Studienverlag, 2013Nicht nur die Frage, wer hat uns die Poesie versteckt, nein, vielmehr die Frage, wo fängt sie denn an, die Poesie, stellt man sich unweigerlich, schlägt man Hans Haids Lesebuch auf. Das Zitat stammt aus dem Hörspiel „mit tränen füllt man keine betten“, welches dem Buch gleichsam als Einführung vorangestellt ist. Wie im Lesebuch mischen sich im Hörspiel die Stimmen von Radiosprechern und Tourismus Managern mit denen der Saligen und vor allem mit der Poesie des Autors. Im Dezember 2008 unter der Regie von Nikolaus Scholz war das erste Mal zu hören, was Hans Haid auf dem Papier entworfen hat. Besonders genau nimmt es Haid mit der Musikauswahl zum Stück und das ist gut so. So verhilft zum Beispiel Ernst Kreneks 1936 in Sölden entstandenem 6. Streichquartett zu einem bedrohlichen Szenario, das sich dem glatten Tirol-Gesicht der Werbung diametral entgegensetzt. Er tritt als Mahner auf, als Unbequemer, der der Tourismusbranche und den Politikern drein redet, wenn sie zu gierig werden.
Die Poesie spielt im Lesebuch, was den Raum angeht, auf den ersten Blick eine Nebenrolle. Allerdings lassen sich poetische Texte schwer von Sachtexten unterscheiden, sie fließen ineinander. Zwischen Projekten, Berichten, Ausschnitten aus Zeitungen, Leserbriefen und Kommentaren, die sich vornehmlich mit dem Massentourismus, dem Kraftwerksbau oder ähnlichen zerstörerischen Elementen beschäftigen, findet unter dem Titel Lyrik ein explizit poetisches Kapitel Platz. Auch hier tritt meist ein mahnender Autor auf, was den Texten manchmal schadet (Zu viel Zeigefinger hat niemand gerne!). Andere umspinnen mit gut eingesetzten sprachlichen Mitteln die gefangene Fliege im Netz und lassen sie und den Leser nicht mehr los.

es kommen härtere zeiten

immer mehr
schnee in den bergen
heimlich & leise
meter um meter

die stille am morgen
das schneien am abend
immer das schneien
heimlich & leise

meter um meter
tage und nächte
das grauen der schrecken
immer die ängste

das warten
das donnern
das brechen
das krachen

über felsen durch wälder
schneller und krachend
näher dem dorfe
den menschen der kirche

endlich und jählings
donnern und bersten
dann stille nur stille
alles voll frieden

alles gestorben
häuser wie schatten
gestern ein dörfchen
leben und lachen

alles erstorben
aasgeier kreisen
stinken und sterben
amen: vergeltsgött? (S. 126-127)

Das Gedicht greift ein Vokabular auf, welches man sich von einem Text über Schnee durchaus erwarten kann, wie „leise“ oder „stille“, durchbricht aber schon bald das friedliche Bild. Die Stille holt den Leser erst wieder zu Ende ein, nun ist sie aber die Stille des Todes. Interessant ist in dem Zusammenhang das Verb „erstorben“. Das Präfix er- kann am ehesten mit „aus“ gleichgesetzt werden und mündet hier ins Aussterben. Sterben und Tod spielt in den lyrischen Texten immer wieder eine entscheidende Rolle. Vor allem die Mundartgedichte greifen sowohl den alltäglichen Tod – das Abstechen eines Schweines (S. 135) – als auch den prophezeiten, den vernichtenden Lebensweisen zu Grunde liegenden.

dieses haus ist abgebrannt

von den gletschern rinnt das blut. gletscherflöhe.
niemand mit der totensense.
lei dr töet
niemant ummha
zen ooschtechn
maul asnondrgschniitn
sorgnäägle groode piegn
olle sein weck vrschwuntn
is raadle ummgedraat
außngschwemmet
schtrick ummen hols...

Haid bietet dazu noch eine Übersetzung an und wechselt in der zweiten Strophe ins Hochdeutsche. Mit der Übersetzung macht er die Texte einem breiten Publikum verständlich, entzaubert sie aber auch. (Gertraud Patterer aus Dölsach in Osttirol zum Beispiel hat sich dafür entschieden, nichts zu übersetzen, im oft nicht gerade leicht verständlichen Dialekt zu bleiben und auf ihn zu vertrauen.) Den Wechsel zwischen Standardsprache und Dialekt verwendet Haid oft als Stilmittel, das ihm eine zusätzliche Brechung ermöglicht. Als solches wird es gut eingesetzt, gerade wenn es um die Diskrepanz zwischen der lebensnotwendigen Natur und der vereinnahmenden Profitgier der Wirtschaft geht. Dem Faktum, dass der Mensch seine Lebenswelt mehr und mehr vernichtet, soll gerade die Poesie entgegen gehalten werden.
Um eine Versöhnung von Mensch und Natur, um eine Symbiose von Kultur, Wirtschaft, Bildung und vielem mehr, darum geht es in diesem Lesebuch. Und diese liegt im Bereich des Hoffbaren, wie das Kapitel „Projekte“ zeigt. Dokumentiert wird die Entwicklung der Wege, die in den Alpen beschritten werden, um eine solche Versöhnung zu erreichen, unter anderem in dem Verein Pro Vita Alpina. In den Statuten steht die Förderung der kulturellen, gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Alpenraum im Vordergrund. Erreichen will Haid dies aktiv durch seine Aufbereitung des Alten, das eine Basis für das Heute und die Zukunft werden soll. Lieder, Sagen, Dialekte oder Kulturgegenstände aus vergangenen Tagen werden wegweisend eingesetzt. Sie betreffen das Leben der Menschen in unserer Zeit. Ein Beispiel dafür ist das Wirken der Saligen, die fleißige, ehrliche Menschen unterstützen. Gierige, rücksichtslose Rüpel werden von ihnen ins Unglück gestürzt, sollten sie auf die Mahnworte der Bergfrauen, der Berggötter nicht hören. Haid schreibt davon: „Volks- und Basiskultur kann und soll in hohem Maße „radikal“ sein – aus den Wurzeln kommend und dort aufbauend.“ (S. 219)

In den Leserbriefen, Kommentaren, Reden und anderen „Gebrauchstexten“ greift Haid wieder auf Poesie, auf Lyrik, auf die Arbeit mit Dialekt und Standardsprache zurück. Ersteren gebraucht er um auf die Volkskultur zurückzugreifen, in der seiner Meinung nach die Lösung einiger Sozial- und Wirtschaftsproblematiken liegen könnte: eine Kultur, die der Ötztaler aufs Genauste unter die Lupe genommen hat, seien es schriftliche oder bildliche Dokumente, seien es Hörproben oder Alltagsgegenstände. Aber auch der „Hochkultur“, die sich mit den Bergen, dem Ötztal beschäftigt, geht er nach: Alfredo Catalanis Oper La Wally oder Maurice Chappaz. Die volkskundliche Sammlung ist weit über die Grenzen Tirols hinaus ein Begriff. Und das hält Haid denen entgegen, die mit dem Land ihr schnelles Geld machen wollen, der TIWAG, dem Landeshauptmann, den Liftkaisern und Hoteliers. Glücklich scheint Haid zu sein, wenn er auf den alten Schafwegen hoch oben überm Ötztal und dem Vintschgau unterwegs ist. Dort wo sich die sagenumwobene Langtüttin am wohlsten fühlt.

Hans Haid fragt auf dem Klappentext sich selbst:
„Mein Lesebuch II – ein Abschiednehmen, ein Wutausbruch, ein Verzweiflungsschrei, eine letzte Bergpredigt? Ich weiß es nicht.“ Die letzte Charakteristik kommt nahe an die Textform heran, die man im Buch vorfindet. Peter Turrini spricht von Haid als vom „Alpen-Abraham a Santa Clara“(Vorwort zu Hans Haid: Sie nehmen auch den Schnee. 2003), einem Prediger, der die Menschen mitreißt. Mitreißen soll sich auch der Leser lassen, mitreißen wieder einmal mit offenen Augen und Ohren in den Bergen unterwegs zu sein, am besten abseits von Seilbahnen und Bergrestaurants auf Schusters Rappen und einem Rucksack mitsamt Marende. – Und wer weiß, vielleicht ist dort auch die Poesie versteckt.

Barbara Hoiß

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Lina Hofstädter: Er und Sie, Doppelerzählung
Innsbruck: Limbus Verlag 2013

 

Verdrängte Wahrheit – ein Spiel um zertrümmerte Liebe

© Limbus, 2013       Leo folgt stur seiner täglichen Route, die fortführt aus der vereinsamten Wohnung zum Café, eine bestimmte Straße entlang, zum Recyclinghof, der ihm ein Geländer der besonderen Art geworden ist. Hier beobachtet er Entsorgungsvorgänge und Verdichtungen von Schrott, und sinniert dabei über den Sinn seines Lebens, über das Schicksal, das ihn so hart getroffen hat.

      Wenn man keine Zukunft hat, sollte man wenigstens Vergangenheit besitzen. Kann es sein, dass man das Erinnern verlernt, wenn man es nicht übt?, fragt sich Leo, der in seinem Alleinsein dringend Orientierung braucht. Seine Frau Sanna hat der Krebs vernichtet, noch während ihres Monatelangen Sterbens, als ihnen beiden das Ende schon klar war, wurde Leo ein Kündigungsopfer der Finanzkrise. Sanna hat er nicht davon erzählt, für sie hielt er die Joblüge aufrecht. Sanna liegt nun auf dem Friedhof, aber Leo geht immer noch den Weg zur Bank, seiner ehemaligen Arbeitsstelle, geht vorbei, folgt der Strecke, die früher lang genug war, um ihn aus dem Haus zu halten, weg von der Sterbenden.

      Einmal, auf dem Recyclinghof, glaubt er, von einer Fremden gegrüßt zu werden, fragt sich, warum ihm das Gesicht bekannt vorkommt, obwohl ihm kein Name dazu einfällt. Wieder erfährt er diesen Mangel an Erinnerungen als Manko. Als jedoch sein ehemaliger Chef, der ihn gekündigt hat, vor der Filiale erschossen wird, und ihm klar wird, dass die Witwe diese Frau ist, drängen plötzlich mit Macht Erinnerungsfetzen hoch. Leos Leben bekommt einen Sinn, die Leere in ihm füllt sich mit vergessenen Bildern.

      Lina Hofstädter gelingt dieses Porträt eines schwierigen Versagers mit leichter Hand und elegant verführerischem Strich. Einen Leo haben wir alle im größeren Bekanntenkreis, einen, der sich schwer tut in Allem, der sich jedoch bemüht, und der, beschäftigt man sich näher mit ihm, sich als großer Egozentriker entpuppt. Empathie mit Leo wird schnell wach – und bald vermischt mit einem unguten Gefühl: denn Leos Besessenheit, zu helfen, für einen anderen Menschen da zu sein, ist Mittel zum Selbstzweck. Auch wenn ihm die Wahrheit bruchstückhaft klar wird, verbiegt er sie zu der Lüge, die ihm hilft, sich selber auszuhalten. Perfekt führt Hofstädter den Leser bis zu einem dramatischen Höhepunkt – und wendet sich der Frau zu, der Geschichte auf der anderen Seite des Spiegels.

      Mo hat aufgrund ihrer Biografie gelernt, sich zu verschließen, zu taktieren, zu planen. Die einzige Schwäche, die gleichzeitig ihre Stärke ist, ist die Liebe zu ihrer kleinen Tochter Isa. Isa wird von Anfang an das Leben führen, nach dem sie als Kind gegiert hat, das sie sich hart erarbeiten musste und für das sie alle Illusionen verloren hat.

      Lina Hofstädter macht zwar schnell klar, dass Mo eine berechnende Ehefrau ist, eine, die wenig Grund hat, um ihren erschossenen Mann zu trauern, aber großartig beschreibt sie, wie diese neue Einsamkeit Mo bedrängt und erschreckt. … so wanderte sie, wenn die Polizisten sie endlich alleinließen, unruhig von Zimmer zu Zimmer und versuchte, da eine Ritze in den Fensterläden, dort eine Spalte zwischen den Vorhängen besser abzudunkeln. Überlegte, wie sie ans Oberlicht über der Treppe herankommen könnte. Jeder kleinste Sonnenstrahl eine Tortur.

      Das Kind ist ihre Stütze, so wie der tägliche Weg Leos Schutz ist. Dem Kind gilt ihre Liebe, so wie Leo davon überzeugt ist, dass seiner toten Frau all seine Liebe gehörte.

      Die Polizei rätselt, ermittelt im Hintergrund. Mo weiß nicht genau, was sie schon alles aus der Vergangenheit ihres toten Mannes herausgefunden haben, ist aber fast sicher, dass sie selbst unantastbar bleibt. Sie hat vorgesorgt, sie lebt für die Zukunft. Natürlich hat sie Leo erkannt. Und bald bemerkt sie, dass er vor ihrem Haus auftaucht, sie begleitet, nicht aus den Augen lässt. Was ihr zuerst wie eine vertraute Situation aus ihrer Kindheit erscheint, wird jedoch zunehmend bedrohlich.

      Spannend rollt Lina Hofstädter auf, was Mo bewusst nie vergessen wollte, was Leo an Erinnerung verloren gegangen ist, und beschreibt in faszinierender Dichte die Prägung zweier Leben, die ein Zufall wieder zusammenführt. In überraschenden Sprachbildern und sensibel gewählten Details erklärt sie ihre Figuren, komponiert einen stringenten Spannungsbogen, bricht an den richtigen Stellen ab und vermittelt eine Fülle von Information mit gekonnt  spielerischer Leichtigkeit. Die überraschende Wende im Geschehen könnte zwar von versierten Krimiliebhabern vorausgeahnt werden, aber wie Hofstädter die Handlung zum fulminanten Ende bringt, eine Atem beraubende Lösung präsentiert, macht ihr so schnell niemand nach.

      Die Bezeichnung Doppelerzählung stellt sofort den Aufbau der Geschichte und die zwei Perspektiven vor, „Er und Sie“ ist bewusst allgemein gehalten. Alles könnte in diesem schmalen Roman mit diesem Titel enthalten sein. Lina Hofstädter hat sich entschieden, dramatisch das Unvermögen zu lieben vorzuführen, und das ist ihr glänzend gelungen.

Beatrix Kramlovsky

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Norbert C. Kaser: herrenlos brennt die sonne. Gedichte und·Prosa. hrsg. von Petra Nachbaur und Benedikt Sauer
Innsbruck: Haymon, 2013

© Haymon, 2013Waren es die dunkelbraune Kutte, das schmale Gesicht oder doch die knappe Sprache Norbert C. Kasers,  die sich mir bei seinem ersten öffentlichen Auftritt im Jänner 1969 in Innsbruck eingeprägt hatten? Welche Texte der 21jährige Novize aus dem Brunecker Kapuziner Kloster im Hotel Speckbacher gelesen hat, lässt sich heute schwer eruieren. Das Gedicht „schnee“, das er am 15. November, zwei Monate nach seinem Eintritt ins Kloster in Kleinschreibung verfasst hatte, könnte es gewesen sein. Es passt zur Stimmung, die ich in Erinnerung habe. Und das, was der extreme Außenseiter seit seiner Gymnasialzeit sein wollte, das war er schon bei dieser Lesung: ein Dichter. Ein Mensch, der bis zu seinem frühen Tod  in der Sprache wohnte.





 
schnee

eine verschrummelte birne
baumelt am baum
sie fiele gern

drei blätter haben sich
selber eingewickelt weil
sie kalt haben

da kam schnee
und alles elend
ward nicht mehr
gesehen
                              15.11.1968


Zu finden ist dieses eindringliche Gedicht in der jüngsten Hommage für Kaser. Zu seinem 35. Todestag am 21. August 2013 haben Petra Nachbaur und Benedikt Sauer unter dem Titel  „herrenlos brennt die sonne“ im Haymon Verlag eine Sammlung von Gedichten und Prosa herausgebracht. War dieses Taschenbuch wirklich nötig, da doch alles, was der schwierige Einzelgänger aus Südtirol in seiner kurzen Lebensspanne schrieb, längst publiziert wurde?
Die Antwort des Herausgeberduos: ein überzeugendes JA! „Um Kasers Namen am Leben zu erhalten“. Denn mit Ausnahme der „gesammelten werke“ in drei Bänden, die unter Mitarbeit Sauers  1988 – 1991 im Haymon Verlag erschienen und Raoul Schrotts  „ N.C.Kaser elementar “ (2007) sind alle gebundenen Bücher mit Kasers Texten vergriffen.
Natürlich auch meine frühen Schätze, die mich über Jahre begleitet haben: „Eingeklemmt“ (1979), „Kalt in mir“ (1981) und die bibliophile Rarität „verrückt will ich werden sein & bleiben (1986).       
Oft ist es nur ein poetisches Fragment, das plötzlich aufblitzt: „ den schrei des Fruehlings /spuer ich/ in der luft...“ Oder Polemik, harsche Kritik, die sich im Gedächtnis eingegraben haben: „Kapuziner, ihr naht euch wie Affen den Sitten der  Pfaffen.“ Im „lied der einfallslosigkeit“ rechnet er mit verlogenem Traditionsbewusstsein ab: „dem herzen des gottes verschworen  & ueber allem schwebt der henngeier“
 Spontanes Erinnern an Worte, Sätze, Lebensspuren des vielseitigen Schriftstellers, der aus der geistigen Enge seiner Umwelt auszubrechen suchte und posthum zu einem bedeutenden Lyriker der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts aufstieg, verdichtet sich beim Blättern im neuen Taschenbuch.  Es richtet sich vor allem an junge Leser und engagierte Lehrer,  auch an Literaturinteressierte, die Kaser erst entdecken werden. Nicht zuletzt an Insider, die vielleicht die frühen Gedichte und die raren Prosastücke kaum kennen.
 Im  Titel des einführenden Essays von Petra Nachbauer und Benedikt Sauer klingt die Widersprüchlichkeit Kasers und seiner Werke an: „ Wunde, Gaudium und Tanz “.  Er war ein Zweifelnder, oft Verzweifelter, kränkelnd seit seiner Kindheit, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen. An der Armutsgrenze  lebte er oft auch als Erwachsener. Ein Unsteter, fast ein Nomade, der viel unterwegs war, der aggressiv, aber auch lustig, witzig, voll Ironie sein konnte . Vom Schreiben war er besessen, wo immer er sich aufhielt. Am Wirtshaustisch mit Gleichgesinnten, die mit der Linken  sympathisierten, oder im  Kapuziner Kloster in Bruneck, in das er als Frater Christoph im September 1968 eintrat und das er zu Ostern 1969 wieder verließ. Er schrieb in einer kalten Schrebergartenhütte beim kurzen Studium in Wien, das seinen Niederschlag in der Sammlung „kampflaute aus der duesteren provinz & weltstadt “ fand. Kaser  jobbte als Wegmacher in Norwegen, als Mauteinheber in Sterzing, irgendwie kam er durch. Mit Unterstützung von Freunden wie Gerhard Kofler, Gerhard Mumelter, Klaus Gasperi , Hans Haider und Paul Flora.  Zeitweise fand er Ruhe als  Aushilfslehrer in abgeschiedenen Südtiroler Berggemeinden. Er liebte Kinder, schrieb für sie einfache, manchmal surreal anmutenden Gedichte und kurze Geschichten. Auch der Patient Kaser, der sich wegen seiner schweren Lebererkrankung und Alkoholismus öfters in Krankenhäusern und zur Kur sogar in der DDR aufhielt, schuf sich seinen inneren Freiraum als Dichter. Sporadisch übersetzt er auch Autoren italienischer Muttersprache, sogar Dante, und schrieb selbst Gedichte in Italienisch.
Doch es waren nicht nur Kasers poetische Kraft und engagierte  Literatur, die ihn zur Kultfigur der  regionalen 68er - Generation und deren Nachfahren werden ließ. Es war seine radikale, konsequente Haltung gegen das  politische Establishment des Landes, die Amtskirche, auch gegen manch heimatverbundenen Schreiber. Kasers  berühmt-berüchtigte „Brixner Rede“ von 1969 gipfelte im Aufruf „ den Tiroler Adler wie einen Gigger zu rupfen und ihn schön langsam über dem Feuer zu drehen“. Bis zu seinem Tod galt er in bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen als Gottseibeiuns. Einer, der 1976 mit der Kirche brach und dies folgend begründete: „da ich ein religiöser mensch bin trete ich aus der katholischen kirche aus“.  Damals ein enormer Schritt in der von der Kirche geprägten Kleinstadt, in der Jeder Jeden kannte.        
Im selben Jahr wurde Kaser Mitglied der KP.
Bei seinem Begräbnis am 23. August 1978 in Bruneck läuteten keine Glocken.

Die Strahlkraft Kasers blieb auch nach seinem Tod  unvermindert, was Petra Nachbauer und Benedikt Sauer so begründen: „Ihn beschäftigten die großen welt- und sozialpolitischen Belange des Zeitgeschehens, und seine Texte waren der Zeit voraus, wenn es um „Das Private ist politisch“ ging.
 Dass Kaser auch heute aktuell ist, darüber sind sich die Herausgeber einig. „Der Blick auf Kasers Werk hat sich in unserem spannenden Arbeitsprozess, im Dialog miteinander geschärft. Wir haben Kasers Qualität und Originalität aufs Neue entdeckt“.
 Das spürt man bei der Lektüre.  Die großen welt- und sozialpolitischen Belange haben sich in den letzten Jahrzehnten zwar verlagert, doch existenzielle Fragen lassen sich auch in einer säkularisierten Welt nicht verdrängen. Um sie kreist der Dichter.  Neben den bekannten, wunderbaren Gedichten der späten Jahre, die sich fast alle im Buch finden, sind es frühe Reflexionen über Kirche, Glauben und Nichtglauben, ein Hadern mit Gott, die auch in einer Zeit, da Rekordzahlen von Kirchenaustritten für Schlagzeilen Menschen bewegen. Das kleines Gedicht, das ich bisher nicht kannte, hat Kaser nach seinem Austritt aus dem Kloster „in principio..“ betitelt. (S.55)
das wort
das fleisch
 der zweitausendjährige

warum
 hab ich Dich verlassen


steh
sprich
rede
sag

warum erlaubst Du
das alles“

Was ich bisher kaum wahrnahm, darauf hat mich Benedikt Sauer, der 1997 eine Biografie über den Dichter verfasste, hingewiesen: Es sind die Themen Mann und Frau, Sexualität und Gewalt, auch Kasers eigene Identität. Hier nur ein paar Hinweise: 
Oft zitiert wurde  „st. sebastian“,  verfasst 1971 auf der Hungerburg über Innsbruck, wo Paul Flora wohnte.
Das Gedicht über den schönen, zu Tode gemarterten jungen Mann, der als d e r Heilige Homosexueller gilt, endet mit folgendem Schluss:
„mit der nacht kommen
engel seine todeswunden
lecken“

Ein weiteres, vermutlich nur Insidern vertrautes Gedicht, ohne Titel, geschrieben 1970 in Bergen  
„muede meine haende wie
leere tauben
voller ringe & gold

muede mein mund wie
ausgeloeste krabben
voller zaehne aus grauem
elfenbein klappt
er zu

gespalten mein geschlecht.

Das beängstigende Gedicht „die braut“, das 1968, knapp vor Kasers Eintritt in den Orden entstand, beginnt mit folgenden Zeilen:
  „im grunde liebte sie ihn
   wenn er auch saugrob war
   aber ein mann
    Der Schluss des Gedichtes:

 „im grunde liebte sie ihn
 so lange
 bis er sie erstach“
   
Kirche und Sexualität, ein Text aus dem Jahre 1976 mit dem Titel „magdala“,  jede Zeile damals eine Provokation. Nicht nur für die Amtskirche und die Gläubigen in Südtirol:
„menschensohn! in den furchen spalten  huegeln meines leibes ist ungesaettigt`s  feuer von tausend teufeln!

Krista Hauser

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Annemarie Regensburger: Gewachsen im Schatten.
Innsbruck: Tyrolia, 2013

© Tyrolia, 2013Annemarie Regensburgers autobiographischer Roman „Gewachsen im Schatten“ beschreibt chronologisch den Weg eines Kindes aus dem Tiroler Oberland, dessen Leben von Angst, Leid und Qualen geprägt ist, von Sprachlosigkeit und Ausgeliefertsein an das, was das Schicksal bereits in jungen Jahren für es bereit hält. Da sind der frühe Verlust der Mutter, der der Protagonistin bis ins Erwachsenenalter hinein physisch spürbare Alpträume verursacht, sowie die Einweisung des Vaters in die Psychiatrie in Hall, der tabuisierte, so genannte Wahnsinn in der Familie und die lebenslange Angst davor, ebenso von ihm erfasst zu werden. Da sind die Familienverhältnisse mit Halbgeschwistern und ledigen Geschwistern, die so ganz und gar nicht den Familienidealen im „Heiligen Land Tirol“ entsprechen, da ist die Macht der Religion, der verzweifelte Glaube an die Erlöserkraft Christi, an die das Mädchen seine ganze inbrünstige Hoffnung hängt, die Härte und Unbarmherzigkeit des Aufwachsens in fremden Häusern.
Der Roman fährt fort mit der Schilderung des Lebens der jungen Frau, die nicht ihrem Traum nachgehen kann und Lehrerin werden darf, da sie mit 14 bereits eine Lehre als Köchin zu beginnen hat; wir sehen hier, wie sie mit Pflichtbewusstsein ihrem Beruf nachkommt, immer wieder schwankt, auf weichem Boden versucht, sich ein Leben in Anerkennung zu erkämpfen. Und er zeigt letztendlich den Befreiungsweg auf, den diese junge Frau einschlägt, der sie viel Kraft und Mühe kostet, gerade im Hinterfragen der Wahrheiten, an denen sie ihr Leben lang festhielt, um zu einem selbstbestimmten Leben als Frau und Schriftstellerin zu kommen.

Ein klassischer autobiographischer Entwicklungsroman, könnte man sagen, angesiedelt in Tirol, hier, im engsten uns bekannten Raum, mit klaren geographischen und personellen Bezügen. Die Autorin macht sich und ihren Leserinnen nichts vor, hält nichts hinter dem Berg, verbirgt und verschleiert nichts, ist sich selbst gegenüber bis zur Schmerzgrenze der Wahrheit verpflichtet.
Klassisch – wäre da nicht der Wagemut zur komplexen Erzählweise, der ein wesentliches Kennzeichen des Buches ist. Gerade im ersten Kapitel wird dies besonders deutlich. In ihm finden sich mehrere Erzählstränge, die einander abwechseln und in denen die Autorin sich über unterschiedliche Erzählperspektiven den Erinnerungen nähert.
Da ist einerseits „das Kind“ – von dessen Erfahrungen auch in dieser distanzierenden Form gesprochen wird. So, als wäre es weit weg, als lägen die Erfahrungen in der Unbewusstheit des Erlebens und müssten erst mühsam an die Oberfläche gebracht werden. So, als müsse eine Erzählebene zwischengeschoben werden, um sich den  traumatisierenden Erfahrungen der Kindheit überhaupt erst nähern zu können. Die „Angst“, auch sie eine zutiefst existentielle Kategorie, liegt noch über allem, bestimmt auch die formale Entscheidung zu dieser Erzählweise.
Da ist zum zweiten das Gespräch zwischen den zwei Schwestern am See, sie sind erwachsen und versuchen, sich auszutauschen über die Geschehnisse in der Kindheit.
Es sind sensible Annäherungsgespräche zwischen zwei Menschen, die dasselbe erlebt, aber doch Unterschiedliches wahrgenommen haben.
In einem dritten Erzählstrang begibt sich die Autorin auf Spurensuche nach der Geschichte der eigenen Familie, über der der Ruch des Außenseitertums im Dorf schwebt.
Verschweigen und Zudecken sind die Devise - und es finden sich die ersten Anklänge an die beiden großen Metaphern, die das Buch als Klammer zusammenhalten: der „Reiter am Dach“ und der „Fisch am Berg“. Während der „Reiter am Dach“ maßgeblich an der Entstehung des Titels beteiligt ist – die Frau tritt aus dessen langen Schatten heraus, so steht das Bild vom „Fisch am Berg“ für die innere Welt des Mädchens, für dessen Wünsche und Träume, von denen sich schon sehr früh einer herauskristallisiert, nämlich: der innige Wunsch des Kindes, seine Gefühle zu Papier zu bringen.
Und da sind, immer noch im ersten Teil des Buches, zärtliche Briefe an die verstorbenen Geschwister und Halbgeschwister – die ich deshalb hervorheben möchte, weil durch sie etwas Wesentliches ausgedrückt wird: „Familie“ ist viel weiter und geht viel tiefer als nur die von den Institutionen amtlich anerkannten Personen. Und darin kommt mir ein Grundverständnis der Autorin zum Ausdruck: nicht an den vorgefertigten Grenzen halt zu machen, in keinem Bereich, weder im engeren, familiären, noch im gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Gefüge.
Auch im Formalen spiegelt sich diese Grenzüberschreitung wieder: so gibt es erzählerisch weit ausholende Passagen neben konzentrierten Bildern, die so genannte literarische Hochsprache findet sich wie selbstverständlich in einem produktiven Nebeneinander und Austausch mit dialektalen Redewendungen, gerade in der Figurenzeichnung. Regensburger greift auch auf eigene Gedichte und schriftliche Aufzeichnungen des jungen Mädchens zurück und konfrontiert diese mit der Reflexion der erwachsenen Frau.
 „Gewachsen im Schatten“ ist auch ein Buch der starken Frauen, die in kleinen Gesten Zeichen der Zuneigung setzen und Durchsetzungsvermögen beweisen. So sind es denn viele Lebensgeschichten, die Regensburger zu einer großen zusammenflicht und so lesen wir letztendlich auch ein Stück weiblicher Tiroler Geschichte.
Im Verlauf der Kapitel scheint erzählerisch und inhaltlich immer stärker und selbstbewusster das „Ich“ durch, das auch „Ich“ zu sich sagen kann. Es kommt nach und nach zum Vorschein, schält sich heraus, aus den zahlreichen Zwiebelschalen der Verletzungen und Entbehrungen. Je näher die Erzählung an die Gegenwart rückt, desto einheitlicher wird das erzählende Ich. Die vielfältige und gebrochene Erzählweise, die das erste Kapitel des Buches prägt, löst sich auf und bewegt sich sehr, manchmal zu nahe am Erlebten entlang. Doch auch dies ist dem Erzählprinzip der Autorin geschuldet: jenem der Authentizität.

Anna Rottensteiner

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Birgit Unterholzner: Für euch, die ihr träumt. Roman
Innsbruck: edition laurin 2013.

© laurin, 2013Letztlich spielt sich alles in diesem Roman in, an und auf den Körpern der Frauen ab. Mit „Für euch, die ihr träumt“ legt Birgit Unterholzner eine zum Titel gewordene Widmung vor. Die bereits zu Beginn in Peter Bieris Motto angesprochene „Kultur der Stille“ wird dem Text zur Lebensaufgabe. Extrem welthaltig, poetisch und nüchtern, mit einem manchmal gnadenlosen, manchmal auch zärtlichen Blick auf „… Gedanken und Worte zwischen Menschen, die unausgesprochen bleiben“. Dabei doch genau hinschauend, auf jedes Leid, auf jeden Kummer, auf Falten und Altersflecken, aber stets die Würde der Figuren achtend, deren Schmerz, und deren Erniedrigung niemals voyeuristisch betrachtend.

Kapitelweise werden Lebensgeschichten primär von Frauen aufgerollt, deren Verbindungen zueinander teils lose, teils eng geknüpft sind. Fast immer sind es unerfüllte Wünsche, die das Leben dieser Figuren vergiften. Und über allem schwebt der Tod: verstorbene Eltern und tote Kinder, die zu Sternen werden oder die nach solchen benannt sind. Tode, denen kein Sinn eingeschrieben wird, die einen Abgrund öffnen, der betroffene Mütter mitunter wie Tiere handeln lässt. Dann ist es vorbei mit Humanismus, Moral und zivilisiertem Verhalten.

Der Text scheint als Tableau vivant zu fungieren. Figuren gruppieren sich zu szenischen Darstellungen, und abwechselnd, kapitelweise, treten diese einzeln oder paarweise aus dem Bild, um ihre Rollen zu spielen. Regine, Lelee, Bjarki und vor allem Marilena, die zentrale Figur in diesem Buch. Sie ist 40 Jahre alt, Fotografin, seit zehn Jahren verheiratet mit Konstantin; sie haben einen 7-jährigen Sohn. Völlig unerwartet erhält sie eine Ansichtskarte von ihrer Jugendliebe Bjarki, der ankündigt zurückzukommen. Mit ihm öffnet sich plötzlich die Vergangenheit, die Erinnerung an Island und ein dort verbrachtes Studiensemester. Bjarki, der Sohn der Gastgebereltern, eine große Liebe. Seine Nachricht zieht Marilena den Boden unter den Füßen weg, wischt die letzten zehn Jahre Ehe mit Kind weg wie nichts. „Sie verspürt Lust auf ein Leben, das sich noch verspielen lässt.“ Doch dem Herzen folgt man nicht, wenn man Verpflichtungen hat, wie ihr Tante Regine unmissverständlich zu verstehen gibt.

Hier wird Poesie eingesetzt, um Lebensuntüchtigkeit zu veranschaulichen, denn dieser Vagabundierenden ist nicht zu trauen. Weder dem, was sie tut, noch dem, wovon sie träumt. An Bjarki, den Gedichteschreiber, erinnert sich Marilena mit Wehmut. Er repräsentiert das Prinzip der Phantasie in einer nüchternen, gnadenlosen Welt. „Poesie sei die Welt hinter der Welt, sagte er“, und in einem Brief an Marilena: „Gedichte, die uns Flügel wachsen und wie über eine Klippe in eine andere Welt schauen ließen.

Das Figurenensemble erweitert sich um die ungleiche, leichtlebige Schwester Cäcilie und den Pflegefall Tante Regine als das personifizierte Realitätsprinzip. „Wenn sie doch liegen würde unter der Erd’, denkt Marilena“, die die gebrechliche, einmal lebenstüchtige Regine hasst, sich aber doch um sie kümmert. Diese Familienfiguren bewegen sich nicht im luftleeren Raum, sie sind eingebettet in aktuelle Ereignisse, die selten so konkret beim Namen genannt werden. „Lampedusa“, die Flüchlingsinsel mit ihren Dramen, konkretisiert sich in der Figur Lelees, der die Flucht gelingt und die über Marilena Aufnahme in einem Genossenschaftsheim findet. Sie hat eine tragische Reise hinter sich. An ihr, dem aus Äthiopien stammenden, über Lybien nach Europa eingewanderten Flüchtling, entlädt sich ein besonders grausames Schicksal. Mit „Fukushima“ wird eine Umweltkatastrophe thematisiert, mit „Gaddafi“ das gewaltsame Aufbegehren im „arabischen Frühling“. Zwischengeschaltet sind Reflexionen über das Leben, über den Zustand der Welt. Und man begegnet Paaren, die nicht dem Ideal entsprechen: Frauen, die mit Männern verheiratet sind, die man nur als zweite Wahl bezeichnen kann, weil die erste Wahl bereits vergeben oder verschwunden ist. Beziehungen, aus denen Kinder resultieren, die diese Beziehungen nicht retten können. Und doch gibt es Zufluchtsorte, die jedoch jenseits der zivilisierten Welt angesiedelt sind. „Marilena hat die Augen immer noch geschlossen. Als wäre sie abgetaucht, an den Grund eines Flusses, eines Meeres, in eine andere Sphäre. Niemand kann ihr etwas anhaben. Nicht einmal die durchsichtigen Haie, die an ihr vorbeischwimmen. Marilena wünscht sich ein Leben an Flüssen, Meeren und Gewässern. In Bewegung bleiben bis ans Ende der Zeit.“

Birgit Unterholzner gelingt mit ihrem Text der einfühlsame Blick in das Seelenleben einer Frau, die, zwischen Vergangenheitstragik und unbeugsamem Zukunftsvertrauen ausgespannt, einen Weg beschreitet, der allen Widrigkeiten zum Trotz ein mögliches Gelingen in sich birgt. Zärtlich, poetisch und gnadenlos zugleich.

Florian Braitenthaller
 
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