Rezensionen von Eleonore De Felip
- Oswald Egger,
- Reihe „Podium Porträt“ Nr. 64: Boško Tomašević [Juni 2012]
- Regina Hilber,
- C. W. Bauer,
- [Jan. 2011]
- Roman Santeler,
|
Wir wünschen der Autorin, dass sie dem Roten, dem Stechenden aber auch Leuchtenden, und dem Glühenden in ihren zukünftigen Büchern weiten Raum gebe. Gebettete Landschaft ist eine verheißungsvolle Ankündigung: Am Horizont / rot durchzogen die Naht … |
Martin Fritz, intrinsische süßigkeit. Lyrik Der Band 4 der Reihe „Neue Lyrik aus Österreich“ präsentiert ein erstaunliches Debüt. Der mit „intrinsische süßigkeit“ betitelte Band des jungen Lyrikers Martin Fritz enthält höchst eigenwillige, gleichermaßen virtuose wie leichtfüßige Versgebilde, von denen nicht genau gesagt werden kann, ob sie Gedichte oder Gesänge oder ein Sprachrauschen sind. Poetisch sind sie allemal, formal stringent und klug gestaltet; singen tun sie auch, sprechend singen oder singend sprechen; und sie sind rauschend, d.h. berauscht von dem, was sie inszenieren. Sie sind Zeugnisse und Generatoren von Sprachrauschzuständen. Martin Fritz‘ poetische Texte weben einen Klangteppich, sie evozieren eine primär aus Lauten und Klängen aufsteigende eigene Wirklichkeit. Sie präsentieren sich als weit offene Sinngebilde, in denen die Sätze grammatisch vielfach ins Leere laufen, einander durchkreuzen, sich pausenlos verschränken, über weite Strecken ohne Trennungszeichen, ohne hörbare Zäsuren. Aus „jungen“ Wörtern und „jungen“ schnellen Rhythmen formt sich ein atemloser Laut-Gesang. Wer das Glück hat, den Autor selbst lesen zu hören, wird vom stark performativen Charakter seiner Lesung mitgerissen. Fritz skandiert seine Verse, er liest die Gedichte im Takt, durchgehend mit hoher Geschwindigkeit, und – wiewohl es keine wirklichen Melodien sind, die er singt – so ist es doch ein Sprechgesang mit deutlichem Rap-Charakter, den er den Hörerinnen und Hörern präsentiert. Die an Flowtechniken des Rap erinnernden lockeren Rhythmen, die hohe Musikalität der Sprache (die sich auch versteckter rap-ähnlicher Wiederholungen bedient) sowie der sprühende Witz machen Fritz‘ Lesungen zu Wort-Pop-Konzerten der besonderen Art. Das Sprachregister ist das einer jungen Szene (happy hour, mistaggte bookmarks, zappen, active beauty magazin), gekennzeichnet von einer überstarken Präsenz der Computersprache sowie Anleihen aus der Hip-Hop-Kultur, aber auch von Fragmenten einer Bildungssprache, wie sie eine junge, akademisch gebildete, polyglotte, global vernetzte Generation spricht. Das einleitende Gedicht „die tierbabies um uns sind unruhig“ präsentiert in schwindelerregender Schnelligkeit eine Unzahl sehr verschiedener Tierbabies (rotrückenspottdrosselbaby, goldbauchschnäpperbaby …), die sich voneinander jedoch gerade noch durch ihren Tierspeziesnamen unterscheiden (ihr „label“); viel eher sind sie gleich, einander gleich geworden durch „globale“ Requisiten (Einstiegsportale ins Internet) und „globale“ Tätigkeiten (im Internet) (aus klein gefalteten / zettelchen schreibt das kleine stiglitzbaby sachen dann ins internet hinein … das kleine kleiberbaby bloggt vielleicht auch eine daily graphic novel). In die virtuellen (intellektuellen) Tätigkeiten im Netz und ihre Parodien (die bewertung von / popkultur unter dem aspekt der subversivität sprich fehl genauer leistungsperspektivischem code) schieben sich ansatzweise noch Alltagsverrichtungen wie Grießschmarrn-Kochen und Alltagsgefühle wie der Ärger über Bullenschweine und die Freude am Bier. Doch inmitten technischem Know-how und hochspezialisiertem Vokabular (inmitten einer leistungsfähigen Existenz also) überlebt die Angst vor der abschaffung der tierbabyarten, vor der endgültigen Nivellierung, vor der Niederlage im Leistungsgefecht. Es ist nicht das Lebensgefühl eines Großstadt-Ghettos, das Fritz einfängt, sondern das einer gebildeten jungen Generation einer mittelgroßen vielleicht österreichischen Stadt (beyoncé, carly rae jepsen und rihanna zum frühstück / sternderlaufgabe neuer innsbrucker ernst / (n.i.e.) exzellenzcluster). Arbeit, Freundschaften, Liebesbeziehungen, Freizeitaktivitäten, geschäftliche und bürokratische Tätigkeiten … alles spielt sich vor dem Bildschirm ab. Die in den Gedichten auftauchenden Stimmen gehören jungen, technisch versierten, digital kommunizierenden Menschen (darauf die katze wie viel gigabyte hat dein tag). Gesucht wird allerdings nach jemandem, mit dem – eventuell jenseits vom Internet − noch gut zu sprechen wäre (über das was es selbst wirklich interessiert / kann sich das kleine stockentenbaby unterhalten sowieso mit niemand). Zwischen Hochleistungsdruck und virtuellen Kontakten aufgerieben, von Informationen chronisch überflutet (und ständig neue post doch niemals zeit zum selektieren da), cool und bedroht zugleich, zeugen die Stimmen vom widersprüchlichen Gefühl, erwachsen zu sein und sich doch wie ein (Tier-)Baby zu fühlen. Es ist indes die herausragende künstlerische Leistung des Autors, aus den „großen“ Themen (Identität, Zukunftsperspektiven, virtuelle Kommunikation, die sich fast anhört wie Liebe …) ein so leichtes und poppiges Stimmen-Netz zu weben, dass es klingt, als würde es eine intrinsische süßigkeit enthalten. Im Gedicht „ketwurst“ wird mit zu vielen, zu schwierigen, weil zu speziellen Redensarten und Redeweisen gespielt. Die Ketwurst, so erklärt uns Wikipedia, sei ein typisches Produkt der DDR-Imbisskultur und habe der Abspeisung großer Menschenmengen gedient. Indem sich das Gedicht eines sehr gehobenen Sprachregisters und eines schnellen, coolen sounds zugleich bedient, parodiert es die hochtrabende „Abspeisung“ von Nicht-Experten durch Spezialisten-Reden. Die letztlich unverständlichen Wortfolgen (insichvollendsein als trennung des subjekts von der verbundenheit der welt … abstraktionsbegehren vs. irreduzibilität ist immer wieder gender feeling … dispersion empfiehlt der ideologe) inszenieren das arrogante, unnahbare Sprachgehabe, wie es in wissenschaftlichen Kreisen beobachtbar ist. Zitate aus der Internetsprache, aus dem wissenschaftlichen Diskurs sowie Kommunikationsfragmente bilden ein Patchwork-Gebilde, das man als over-chilled bezeichnen könnte. Und doch: aus dem zusammenhangslosen, die eigene Unverständlichkeit inszenierenden Wort- und Satzgestöber steigt ganz am Ende (halblaut) ein fast zärtlicher Satz auf. Fritz‘ Gedichte spiegeln die den Einzelnen überwältigende global anwachsende Informationsflut. Die ineinander übergehenden und doch zusammenhanglosen Satz- und Sinnfragmente reflektieren das Stimmengestöber im Internet, von dem sich auszuschließen mittlerweile für den Einzelnen fast unmöglich geworden ist und das im Internet-User zu Gefühlen der Überforderung und letztlich der Vereinzelung führt. Wie kann man sich finden in einer Welt gleichzeitiger, doch gesichtsloser Stimmen? Treffsicher und formal raffiniert fängt der Autor in seinen Texten das Gefühl der Unverbindlichkeit und Uneigentlichkeit ein, das sich bei einer hochfrequenten Internet-Nutzung einstellt (wir sind recht eigentlich auch gar nicht da / das alles passiert nicht eigentlich). Das lyrische Wir spricht von einem Lebensgefühl der Nicht-Dazugehörigkeit und Entfremdung: „wir“ empfindet sich als kleinste, den neuen, fremden Systemen sich anpassende Größe: wir sind wie sehr kleine alte fische / die sich zu fremden schwärmen bei gefahr / dazuschleimen es immerhin versuchen … „Wir“, das sind keine identifizierbaren Redeinstanzen. „Wir“ ist die Stimme eines kollektiven Ichs. Die Tierbabies (überhaupt die vielen Tiere in den Gedichten) entziehen sich aller individuellen Zuschreibungen. Die Gedichte sind das Echo einer kollektiven (inneren) Rede. Wir – das sind tierbabies, moormaulwurf, analogkarpfen, digitalkatze, süßes kleines einhorn … : als lyrische Subjekte haftet ihnen etwas Unpersönliches an, auch Winziges und Harmloses, sie sind gewissermaßen austauschbar, süß und ungefährlich. Überflutet von fremden Stimmen ringen sie um ihre Identität und um Selbstbehauptung (wegen gestern geschlossen ist das / gefühl der verpflichtung anderen gegenüber / man selbst zu bleiben … ich kann hier nicht so sein wie ich es bin). Niemals lässt der Autor jedoch zu, dass die großen existentiellen Themen die Leichtigkeit des Gesamteindrucks erschlagen; sie kommen vielmehr ganz locker daher, klingen wie nebenbei gesagt; Schweres steht neben Leichtem, Ernstes neben Banalem, Kluges neben höchst Albernem. Die Verse fließen schnell dahin, das Ohr muss weit offen bleiben, um das Einzelne im Rauschen wahrzunehmen. Es lohnt sich allemal, die Gedichte mehrmals durchzulesen, entweder langsam und sorgfältig oder aber (wie es der Autor tut) mit hoher Geschwindigkeit. Zu den gelungensten Strategien des Gedichtbands gehört nämlich die Raffinesse, mit welcher die Aufmerksamkeit der Leser/Innen vom Inhalt weg und hin zum Klang gelenkt wird. Die Gedichte laden dazu ein, den Fokus vom Satzinhalt zum Klangumriss zu verlagern, sich nicht auf den „Sinn“, sondern auf die Klangqualität zu konzentrieren. Die vielen variierenden Wiederholungen verleihen den Gedichten einen gewissen Mantra-Charakter. Sinn, Gegensinn oder wirres zeug werden zu einer reell wahrnehmbaren Klangmassage. Die Gedichte sind Wortwogen, die ans Ohr der HörerInnen branden; sie sind beides: poetischer Lärm und Stille in einem; sie sind laut und lautlos zugleich; sie sind ein Stimmengewirr, doch ohne Behauptungen und ohne Urteile. Sie inszenieren die tosende Brandung der Stimmen im Netz und branden selbst dagegen an und heben diese eigentlich auf. Zu den Stärken des Bandes zählt mit Sicherheit die Virtuosität, mit der der Autor mit der Materialität der Wörter spielt, mit der er ihre klingende Oberfläche akzentuiert. Des Weiteren besticht der Band durch den Sprachwitz, durch die spielerische Leichtigkeit, mit der Sinn dekonstruiert wird. Fritz beherrscht die Kunst, seine Gedichte fast nichts sagen, sondern weit offen zu lassen; anstelle von Behauptungen und Sentenzen erleben wir ein Zuwider-Reden, ein Ins-Wort-Fallen, ein Ineinander- und Synchron-Reden. Die Gedichte enden so offen wie sie beginnen. Fritz‘ Gedichte treffen den „sound“ derjenigen, die heute jung sind: der Meister der digitalen Kommunikation, der vernetzten Prosumenten, der gebildeten Akteure im Web 2.0. Sie spiegeln ihre vom Deutschen ins Englische und retour wechselnde Rede, die Pidgin-Varianten von beiden, in denen Song-Zitate zu Bedeutungsträgern werden. Vom poetischen Satz, sagt Anne Duden, dass er „unbeirrbar und ungreifbar“ sei, „das Schwellenwesen, ein Vorgang des Übertretens, Aus- und Überschreitens, Unterlaufens und Auffahrens“ (aus: „Lobreden auf den poetischen Satz“). Darin liegt auch die poetische Qualität der Gedichte von Martin Fritz (ebenso wie ihre formale Homogenität): dass sie die Stimmen der Gegenwart gegeneinander auffahren lassen, dass reelle und virtuelle Reden einander unterlaufen, dass die Schwellen von Sprach- und Wirklichkeitsdimensionen übertreten werden. Auch der Titel bleibt offen, unterläuft eigentlich die Gedichte. Was immer auch die „intrinsische süßigkeit“ sein mag: sie versetzt das Lesen ins Schwingen, sie hält die Neugier aufrecht, sie enthält ein süßes, geheimnisvolles Versprechen, das sie bis zuletzt nicht lüftet, so wenig wie sie es bricht. |
Oswald Eggers neues Buch „Euer Lenz“ ist, wie schon seine vorhergehenden Bücher, ein Buch zum Anschauen und zum Lesen. Die optische Gestaltung des Bandes ist sehr schön. Der vom Autor selbst gemeinsam mit Nina Knapitsch gestaltete Satz verwandelt die Seiten in harmonische, elegante Wort-Bild-Kompositionen. Die Wortfelder, die leeren Flächen und die feinen, filigranen Zeichnungen, die an Illustrationen in Lehrbüchern der Botanik, Zoologie und Geologie erinnern, sind Gestaltungselemente eines Buch-Gesamtkunstwerks, das nicht nur mit dem semantischen Aspekt der Sprache arbeitet, sondern auch mit ihrem materiell-visuellen und (im Idealfall) auch mit ihrem klanglichen Aspekt; d.h. „Euer Lenz“ sollte nicht nur gelesen und betrachtet, sondern auch vernommen werden. Eggers Sprache ist − laut vorgetragen − ein Klangerlebnis. Das Frontispiz schmückt ein Stich nach einer Zeichnung aus dem „ABC-Buch für kleine und große Kinder“ aus dem Jahr 1847: ein Narr steht im Schulterstand, die gegrätschten Beine weit zum Himmel streckend. Es ist der Buchstabe Ypsilon. Der Narr im Schulterstand ist zum Laut-Zeichen geworden und schaut seiner eigenen Verwandlung zu. Das Frontispiz hat Programmcharakter: in den folgenden Kapiteln werden die Signifikanten oft auf dem Kopf stehen. Sie lösen sich von den festgefahrenen Signifikaten und weisen in ungewohnte Sinnrichtungen. Die Bedeutungen werden unentwegt gedreht. Eggers Signifikanten schauen sich selbst aus dem Schulterstand zu. Hoch oben zwischen ihren Füßen, im Abgrund des Sprach-Himmels, formen sich neue Signifikate. Sie erzählen vom Zeichencharakter der Signifikanten und dem der Welt. Zu Beginn des Kapitels „Wie heiße ich noch einmal?“ steht ein Kulissenbild („Wald“) des spätbarocken Theatermalers Carlo Galli Bibiena, darunter die Anmerkung: „Einvierung der illusionistischen Erweiterung des Weltinnenraums“. Bild und „Untertitel“ sind ein metapoetischer Kommentar zu dem, was folgt: zu einem „Weltinnenraum“, der ein Ich-und Sprach-Innenraum ist, und zu dessen virtueller Erweiterung. Es folgt ein wörtliches Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie („Dantes Panther“ − die Allegorie der Wollust); in Eggers Übertragung („Kommödie des Verstehens“) verwandelt sich die Pantherkatze (Unze) in eine Allegorie der poetischen Wollust; sie stellt sich dem erzählenden Ich (seinem Wunsch nach einem linearen Verständnis) als Närrin in den Weg („mit schellengleichen Ärmelchen am Fell“); sie zwingt es, auf seinem „Kunterweg“ „hundert Volten“ zu vollführen. Der Weg führt (wie bei Dante) durch alle Höllen und alle Himmel, vor allem aber durch einen „Wald“ an inter- und intratextuellen Bezügen, an Fremd- und Eigenzitaten, an Anspielungen und Inversionen (Dante, Büchner, Lenz, Goethe, Eichendorff, Calderon/Grillparzer, „Ossian“ …). Alles verwandelt sich unaufhörlich: das erzählende Ich, die Welt, die Spiegelungen der Welt in Wort und Bild. Das Buch fordert dazu auf, in ihm zu blättern, die Leserichtung zu ändern, Varianten des Verstehens zu probieren. Es lädt dazu ein, bei der Struktur der Sprachzeichen und Zeichnungen zu verweilen, aber auch über die einzelnen Sätze zu sinnieren: „Ich weiß nicht, ich bin verwandert in einem noch ganz anderen Land.“, heißt es (fettgedruckt) auf S. 9. Es folgt eine eingerückte Zeile in Kursivlettern: „Siehe, ich hab so schöne Spiele mit Drehungen der Hände gespielt.“ Da könnte man lange verweilen: beim biblisch anmutenden „siehe“, bei der Schönheit des Satzganzen, bei der figura etymologica „Spiele gespielt“, bei der Unvereinbarkeit von Aufforderung und Ausführung (Wie kann man etwas sehen, das schon vergangen ist?), beim spielerischen Charakter dessen, was gesehen werden soll, bei der Schönheit des Spiels, das aus „Drehungen der Hände“ besteht. Der ins Surreale gedrehte Satz inszeniert das „Drehbare“ der Sprache, ihre Wendung ins Ungewöhnliche, das Abrücken vom Genormten mit den Stilmitteln eines scheinbar einfachen Sprachregisters. Das poetische Sprechen wird zum metapoetischen Sprechen. Eine dritte Stimme sagt: „Meine Scheune ist ein leerer Wald aus eingeremmten Bäumen.“ Unüberhörbar ist hier die Freude an surrealen, paradoxen Verbindungen. Dass die Scheune ein Wald ist, ist die erste Drehung gegen den „Sinnzeigersinn“; dass dieser entleert wird, die nächste; die „eingeremmten“ Bäume als Material und Grundlage des leeren Waldes bilden die Schlussvolte des Satzes. Der Satz ist eine schwindelerregende Folge aus Volten. Der Satz tanzt. Das Proömium „Alineas“ hat das Äußere eines Prosa-Poems. Stimmen in drei verschiedenen typographischen „Tonlagen“ fügen sich zu Prosa-Terzinen. Manchmal fehlt die kursiv gehaltene Stimme, dann sprechen nur zwei Stimmen, die dritte schweigt. Lehnt sich das Proömium formal an die Terzinen der „Göttlichen Komödie“ an? „Euer Lenz“ ist auch dies: eine Verschmelzung von lyrischer Prosa und sprechenden Stimmen. Es ist ein Langgedicht, ein Prosastück und ein dramatischer Text in einem. In einer einzigen „Terzine“ durchmisst das sprechende Ich den Himmel und die Hölle: (S. 10) Ich ging Bienen besichtigen, und der Himmel troff Blitze. Schönes und Schreckliches werden zusammengeführt: die Bienen (bei Egger oft Metaphern für die Dichter) und der blitzetriefende Himmel, ein wunderschöner, vom Aussterben bedrohter Vogel und das auseinanderbrechende Ich. (Ist es ein Aufbrechen oder ein Zusammenbrechen?) Ein polyphones Ich erzählt von sich: von seiner Zartheit, seiner Einfalt und seinem Innenraum („Ich bin ein kleiner, verwachsener, blaß und sensibel aussehender Tropf, knöbbter, aber ein verwölbter, glatt ausgehöhlter Knoten.“, S. 15). Im Kapitel „Durch durchs Gebirg“ erzählt das Ich, Büchners Novelle zitierend und invertierend, von den erlittenen tödlichen Verletzungen („Den 20. wurde ich erschlagen aufgefunden. Ich lag, unter dem Hochjoch, am Waldhang in einer großen Blutlache, mit dem Gesicht nach unten.“ S. 103“). Man hat den Narren erschlagen, seine Verrücktheit war bedrohlich. Auf der gegenüberliegenden Seite aber steht: „Muß ich dran glauben, wenn man sagt, ich bin tot?“ Das totgesagte Ich spricht noch immer, Lenzens närrische Sprache ist nicht totzumachen. Seine Narrheit bringt ihm die Erfahrung der eigenen Ermordung und Zerstückelung ein, aber auch die eines einfältigen Glücks („Ich bin ein wie einer, der lange Bärte trägt, glücklicher Tropf.“, S. 107), einer außerordentlichen Hellhörigkeit, einer Begabung zur gesteigerten Wahrnehmung ( „Man durchbohrt mir die Ohren und ich hörte und verstand die Gespräche und Träume der Farne …“, S. 107). Das Ich erfährt sich als endlos scheltend („Am Beginn der Wuhnen und Trosse: ich schelte ohne Ende.“, S. 108), als lachend („Ich lache nicht, weil ich lustig bin, sondern ich bin lustig, weil ich lache …“, S. 110), als scheu („Ein scheuer Barsch bin ich …“, S. 114), als geschunden ( „Man zieht mir, wie den Kälbern, Haut in Form eines Fellsackes ab.“, S. 120) und verzweifelt („Niedergeschmettert, zerknirscht, und in einzelne Bestandteile zerlegt, ich existiere gewissermaßen nur noch in der Annahme und dem Durchleben dieser von allen Seiten über mich hereinbrechenden Verzweiflung …“, S. 121). Das Ich ist Lenz, Linz und Lunz in einem, es zerfällt, es zerteilt sich, es lacht und weint. Dem Lenz-Kapitel folgt das Goethe-Kapitel „Ich bin ein Goethe in meiner Geode“ und diesem das Kapitel „Lullidalfahabarabbers Brobding“ mit seinen Wortschelmereien, kinderreimähnlichen Lautgedichten und seinem Wortgebimmel („Witzchen, sag Witzchen, / viel oder ein Fitzchen? / Fitzchen sag bald, / Feld oder Wald?“, S. 154). Die Sätze und Buchstaben tanzen, schwirren und albern herum. Eggers Sprache ist ein einziger Klangzauber, eine Ohrenfreude, ein klingender Jux. „Euer Lenz“ ist (um eine Wendung zu übernehmen, die das polyphone Ich verwendet) ein „Ich-Ich-Ich“-Buch. Tausend Ichs sprechen von sich. Zugleich ist „Euer Lenz“ ein ich-auflösender Text. Er sondiert alle emotionellen und geistigen Zustände des Ichs; das Ich wird seziert und zerstückelt; es erfährt keine Gnade. Das Buch liest sich wie eine lange Meditation. In der sprachlichen Umkreisung des Ichs öffnen sich dessen Grenzen, der Ich-„Zaun“ fällt auseinander. Ich und Universum werden als Einheit erfahren, spiegeln einander. Eggers Sprache erweitert die Lexikonsprache um die ihr inhärenten Möglichkeiten. Wie ein „Wurm“ durchwühlt sie das „Erdreich“, die Sprach-Materie, durchlüftet, lockert sie und baut neues Material auf. Eggers poetische Sprache schafft Wortträume („Ossianiden“), Kopfgeburten, gewaltige Sprachschlachten (Verteidigungen und Eroberungen von ganzen Sprachreichen) in einer ästhetisch vollendeten Form. |
C. W. Bauer hat seinen jüngsten, bei Haymon in einer bibliophilen Ausgabe erschienenen Gedichtzyklus José Oliver gewidmet, dem Dichterkollegen aus dem Schwarzwald. Die 14 Gedichte sind eine freundliche Reverenz vor Olivers multiplen Sprachwelten, vor der Gleichzeitigkeit seiner deutsch-alemannisch-andalusischen Sprach-„Heimaten“; zugleich sind sie eine Hommage auf Olivers Heimatstadt Hausach, auf ihre Polyphonie, auf die (Rede-)Vielfalt der gesamten Region. „Getaktet in herzstärkender fremde“ ist ein poetisches Reisebuch, der reflektierende Bericht eines „Wellenempfängers“; es handelt vom polyglotten Stimmengeflecht in den Straßen Hausachs, von der sprachlichen Vieldimensionalität einer Landschaft, vom humanen und poetischen Mehrwert einer Region, der sich aus der Synchronizität von Mundart, Standardsprache und fremden Sprachen, von aktuellen und historischen Dimensionen ergibt. Das lyrische Ich nimmt die Landschaft als Textur wahr. Es folgt dem Fluss Kinzig sowie den in der Luft liegenden Klangspuren. Das Fahren im Zug, das Gehen durch die Straßen der Stadt werden zu Auslösern poetischer Reflexionen, das Reisen selbst wird zum kommunikativen, dynamischen Prozess, der als Sprechakt auf die „einfallenden“ Stimmen reagiert und seinerseits zur Gegenrede auffordert. So präsentiert sich denn der Zyklus als ein Geflecht aus Einfällen, Zitaten, intertextuellen und historischen Bezügen; Ortsnamen (hornberg triberg st. Georgen) fallen ein; die Namen lokaler Größen möchten dechiffriert werden (nichts weiß ich von gerwig); schweres sonntagsgeläut in der Luft holt die ferne Kindheit herbei (zur wandlung ist der schwarzwald / gebetslang mein kindheitstirol); die alemannisch-multikulturelle Fastnacht löst Staunen aus und lässt an andersklingende Parolen zu Hause denken. Alemannisch Deutsch Latein – die Verse werden polyglott und gutverständlich. Der Schwarzwald weckt im lyrischen Ich Assoziationen zu Diana und Actaeon; diese wiederum wecken (auf der Rezipientenseite) Erinnerungen an Ovid, aber auch an Thomas Klings „Actaeon“-Zyklus und seine „Erprobung herzstärkender Mittel“. Bauers Gedichtzyklus respondiert auf viele poetische Stimmen, die kunstvolle Dichte. der intertextuellen Bezüge gehört zum Charakteristikum Bauerscher Texte. Von José Oliver springen die Gedanken zu Martial, dem römischen Dichter mit den spanischen Wurzeln: So wie dessen Geburtsstadt in späteren Zeiten eine maurische Festung wurde, könnten doch auch unter der Burg Husen, dem Wahrzeichen der Stadt Hausach, maurische Fundamente liegen. Die Logik der Einfälle ähnelt der Logik der Schwarzwälder Fastnacht, führt sich närrisch auf, integrierend, nach inneren Rhythmen getaktet. Die Verse spiegeln die bereiste Landschaft wider; sie zeichnen sie als Klangfeld teils konvergierender, teils konkurrierender Stimmen; sie würdigen vor allem den epistemologischen Wert einer polyphonen, hochkomplex gewordenen Welt. Sie zeichnen ein herzerwärmendes Bild der Stadt Hausach im Schwarzwald, ihrer weltoffenen Provinzialität, ihrer Qualität als provincia universalis, die ihren mehrstimmigen Bewohnern ein Zuhause geworden ist (über fünfzig nationalitäten seien hier / zuhause höre ich sagen / aneinander gewachsen in jahrzehnten); im Spiegelbild seiner Stadt entsteht das Porträt des Hausacher Dichters Josè Oliver, eines heimatverbundenen Weltenbummlers, der zum (geheimen) Wahrzeichen dieser Stadt geworden ist. Bauers jüngstes Gedichtbuch setzt die Reihe seiner zyklischen Kompositionen fort; er bestätigt die in der deutschsprachigen Lyrikproduktion seit den 90er Jahren zu beobachtende Tendenz zu zyklischen Konstellationen, die die poetische Sprache selbst, die Möglichkeiten poetischen Sprechens reflektieren. Auch Bauers lyrisches Ich fragt nach der „Heimat“ des poetischen Worts und findet sie in der Mehrzahl (heimat / will nicht länger verseuchtes wort sein / und ist nur in der mehrzahl denkbar), in einer „herzstärkenden“, weil polyphonen Fremde. Die Lektüre ist anspruchsvoll und leicht zugleich: anspruchsvoll ist sie, wenn man den vielen Anspielungen und Wissensspuren folgen möchte und in die eigenen Wissenslücken tappt; leicht ist sie, weil die Gedichte immer die Leichtigkeit eines freundlichen Lobs beibehalten. Sie sind Bauers poetisches Trinklied auf eine Stadt und auf einen Dichterfreund, auf den compan͂ero de viaje josé oliver. |
Der sechste Jahrgang der bibliophilen Reihe Lyrik aus der Offizin S. von Siegfried Höllrigl ist dem Thema "Tiere" gewidmet; eine der drei Ausgaben enthält Sepp Malls jüngsten Gedichtzyklus „Auferstehung der Tiere“ und einen Holzschnitt von Abi Shek. Höllrigls handgesetzter und handgedruckter Band besticht durch die außerordentliche Sorgfalt der Ausführung und die Eleganz des Gesamteindrucks: jedes Detail – von der Stimmigkeit von Wort und Bild bis hin zur Wahl der Lettern und des Papiers – zeugt von einer großen Liebe zum Buch als Gesamtkunstwerk. Der schmale Band – in feines, weißes Papier gewickelt, in eine Schutzhülle geschoben – muss behutsam ausgepackt werden, um gelesen zu werden, genauso wie Abi Sheks Holzschnitt, der im Schutzblatt, in das er gelegt ist, erst entdeckt werden muss, um betrachtet zu werden. Wer diese Ausgabe in Händen hält, verspürt den Impuls, langsam zu werden, achtsam jedes Detail zu erkunden, die Freude zu genießen, etwas Erlesenes zu berühren. Den einzelnen Gedichten ist viel Raum gegeben: auf den großen, weißen Seiten stehen die schwarzen Lettern da wie Bilder in einem weiten Rahmen. Dies gibt den Texten etwas Atmendes, eine große Ruhe. Die Eleganz dieser Ausgabe hat mit Weite und mit Ruhe zu tun. Auch Abi Sheks Holzschnitt ist ruhig und klar: er zeigt einen Vogel mit einem Zweig im Schnabel, eine Friedenstaube mit überlangen Menschenbeinen oder einen Menschen mit Vogelkopf und langem schwarzen Frack, ein Rabenwesen, frei schwebend vor weißem Hintergrund. Das Vogelwesen fliegt nicht, der Flügel liegt am Körper an, es ist ein schwebender und stehender Vogelmensch zugleich, es ist sein Schatten, sein Traum, vielleicht seine Seele. Abi Sheks Vogelmensch lädt ein zu verweilen. Dies tun auch Malls 13 Gedichte. So wie Abi Sheks Vogelwesen die Tier- und Menschenseite vereint, so ist auch Malls „Tierzyklus“ in hohem Maße ein „Menschenzyklus“. Die Gedichte handeln von Erinnerungen, von Emotionen, vom Sterben, vom Töten und von der Hoffnung auf das, was man „Auferstehung“ nennt. Wo Tiere auftauchen, geben sie dem Augenblick existentielles Gewicht: das den Zyklus eröffnende Gedicht „Auferstehung der Tiere“ evoziert ein frühes Trauma: das Schlachten der Tiere, das Lachen der Väter, die Verstörung: wir legtn unsere Wangen an flauschiges Fell (Hasenherz spürst du das Pulsen) und trockneten die Tränen : auf Kissen / blütenweiß; „Aufzählung III“ zeichnet im Bild des Großvaters einen Menschen von großer Kraft und Ruhe: Lodenjoppe Hut Und mit zwei Pferden / am Halfter … Aber kein Rossebändiger sieht dich an (mit verwildertem Blick) : ein Begleiter nur / der den Weg kennt; „Auferstehung“ spricht vom Töten, von der Vergänglichkeit und vom Anschreiben gegen beides: Malls jüngster Zyklus kreist um das Sterben der Menschen und der Tiere, ums Umkommen „wie ein Tier“ [„Vor Lampedusa (les animaux ne s’ enterre pas)], um Abschiede („Schläft ein Lied“) und um die Hoffnung auf einen Neubeginn („Aufzählung I“). Die Gedichte sprechen die mitfühlende Seite im Menschen an, während sie gleichzeitig die unbarmherzige Realität der Welt hereinholen, der diese mitfühlende Seite ständig ausgesetzt ist. Sie spiegeln harte Wahrheiten wider und erinnern zugleich an das menschliche Bedürfnis nach Hoffnung und emotioneller Verbundenheit. Malls Sprache will nicht verschlüsselt sein, sondern wesentlich, sie bevorzugt karge, zurückgenommene Wörter. Der weite Raum der Stille ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Gedichte, er umgibt jedes Bild, er ist der Grund, aus dem die Gedichte aufzutauchen scheinen und wohin sie wieder zurückkehren. |
Der Band 64 der Reihe „Podium Porträt“ ist eine Hommage auf den serbokroatisch schreibenden Dichter Boško Tomašević und seinen Übersetzer Helmut Weinberger. Er enthält eine Auswahl an Gedichten aus den Bänden „Allerneueste Vergeblichkeit“ (2011), „Celan trifft H. und C. in Todtnauberg“ (2005) und „Früchte der Heimsuchung“ (2005). Walter Methlagl hat ein langes Vorwort dazu geschrieben - eine empathische und zugleich differenzierte Analyse des Gesamtwerks, zugleich eine Würdigung der kongenialen deutschen Übersetzung. Das Vorwort ist Lesehilfe, Interpretation und Mahnung zugleich, es verteidigt die Komplexität der in den Versen ausgedrückten Gedankenwelt gegenüber einer einseitig nihilistischen Lesart. Methlagl kennt Tomaševićs gesamtes lyrisches Oeuvre, sein Blick ist umfassend und präzise zugleich, er erkennt Konstanten und Veränderungen, er nennt die Merkmale dieser „erschreckend schönen“ Lyrik, ihre Vorliebe für Sprachspiele und Überarbeitungen, für metaphysische Reflexionen und intertextuelle Bezüge. Tatsächlich sind es die insistierenden Permutationen, die den eigentümlich intensiven Ton dieser Lyrik ausmachen:
Zu einer uralten Winterstille (aus: Früchte der Heimsuchung)
Ein poetisches Bild wird in seine Segmente zerlegt, wird gedreht, wieder und wieder gewendet, die kreisende Bewegung wirkt wie ein poetischer Sog, es ist, als ob der Leser dem prozessualen Schreiben zuschaute, das den Text im Werden verändert und offenhält. Lyrik, die sich an solchen Schreibverfahren orientiert, verlangt Leser, die bereit sind, sich den lyrischen Texturen zu stellen wie Geflechten aus sich verändernden Sinnspuren und sich auf distanzierte und zugleich neugierige Weise in Gedichte zu vertiefen. Tomaševićs Gedichte sind komplexe Sprachgebilde, bedeutungsoffene Kunstwerke, die ihren Sinn im Dialog zwischen Text und Rezipient immer neu entfalten. Die Intensität der Verse nimmt die Farben der Realität an, auf die das lyrische Ich emotionell intensiv reagiert. Die Negativität ist keine Destruktivität, sondern die eine Seite dieser starken Empfänglichkeit. Die andere Seite ist die in vielen Gedichten ausgedrückte tiefe Verbundenheit mit Dichterkollegen (René Char, Rückkehr zu Joyce), die starke Anteilnahme z.B. am Schicksal Walter Benjamins (Port Bou, 27. September 1940), das verzweifelte Ringen um den Glauben. Die zornigen Gedichte schließlich offenbaren die leidenschaftliche Ablehnung von Gewalt, Heuchelei und Eitelkeit; die Verzweiflung, der Zorn und die leidenschaftliche Anteilnahme sind Register ein- und derselben leidenschaftlichen Antwort auf diese Welt. |
Nach dem Tod seines Vaters trifft Johannes die Erkenntnis, wie fremd sie einander ein Leben lang waren. Sein Vater hatte eine Mauer des Schweigens um große Bereiche seines Innenlebens gezogen und niemanden hineinschauen lassen. Nun, da der Tod das Frageverbot aufgehoben hat, folgt Johannes seiner Intuition, dass über den Tod hinaus die Beziehung zu seinem Vater gehalten und geheilt werden könne. Er macht sich auf die Suche nach dem Schlüssel zur inneren Wahrheit des Vaters und findet ihn in Berlin, wo sein Vater in den letzten Kriegsmonaten für die Wehrmacht gekämpft hatte. Hier, im brennenden Berlin, war es zu einer Liebesbegegnung zwischen dem sehr jungen Südtiroler Soldaten und einem Mädchen, Klara Hubmann, gekommen. All die vielen Jahre nach dem Krieg hatte Klara, im ostdeutsch gewordenen Teil Berlins, nie aufgehört, auf Erwin Stockner zu warten. Doch dieser war nie mehr wiedergekommen. Johannes findet in Berlin Klara. Auf einer narrativen Ebene, die surreale und reale Elemente kombiniert, holt der Sohn für den Vater das Versäumte nach. Er führt ihn zu Klara zurück, er gibt ihr den Langerwarteten wieder, er erlöst alle vom Schweigen, er gibt seinem Vater einen zweiten, besseren Tod, diesmal mit Klara bei sich. Und er erlebt selbst mit der mitfühlenden Frau seines Bruders eine Liebesnacht in einem Berliner Zimmer. Sepp Malls neuer Roman handelt zum einen von der Möglichkeit, Versäumtes nachzuholen, davon, wie das Gewicht eines Versäumnisses eine ganze Familie belastet, wie einer der Söhne den Schatten des Vaters wahrnimmt und ihn mit seinen eigenen Mitteln (die in hohem Maße poetische sind) ins Leben integriert. Er handelt zum anderen von der unaussprechlichen Scham eines Menschen, der in seinem Leben nicht die Kraft hatte, den Tatsachen ihr wahres Gewicht zuzugestehen, vom Unvermögen eines Vaters, die eigene innere Wahrheit zu erkennen. Er handelt schließlich aber auch von der Macht des inneren Gesprächs. Klaras lebenslanger Dialog mit Erwin überwindet dessen reale Abwesenheit, politische Mauern und selbst den Tod. Dieser Dialog ist der stärkste im ganzen Roman, seine absolute Kraft ist ergreifend. Aber auch das innere, klärende Gespräch des Protagonisten mit seinem Vater gestaltet der Autor auf beeindruckende Weise. Und nicht zuletzt wird es der zarte, sich in minimalen Andeutungen anbahnende Dialog zwischen Johannes und Angelina sein, der eine gute Wende ahnen lässt. Auf die Frage, was denn wahr sei und was fiktiv, gibt der Roman eine differenzierte Antwort: wahr sind unsere Beschreibungen von der Welt, unsere inneren Landkarten, nicht das, was gemeinhin als objektiv gilt. Johannes ist bereit, seine innere Landkarte zu weiten, neue Dimensionen zuzulassen, die bis zum Tod des Vaters nicht möglich schienen. Was als Liebesdienst für seinen Vater beginnt, entpuppt sich als Heilungsprozess in eigener Sache. Wo vorher im System Starre war, beginnt sich etwas zu bewegen. Was Johannes denkt, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Realität seiner Umgebung. Mall zeichnet eine innere Landschaft, in der ein Wiedertreffen möglich ist; ihre emotionelle Intensität - dies suggeriert uns der Roman - entspricht der inneren Wahrheit, die der Vater nicht zugelassen hat. Was als Fiktion beginnt, entwickelt sich als die eigentliche Realität, die den Wahrheiten von Vater und Klara, von Johannes und Angelina gerecht wird. Johannes wagt es, der verborgenen Landkarte des Vaters zu folgen, ihr ihre Berechtigung zurückzugeben, ihren unbegangenen Wegen zu folgen, sie begehbar zu machen, die verbotene Landkarte in die erlaubte zu integrieren. Vater wird ein zweites Mal begraben, diesmal auf einer emotionell stimmigen Ebene. Mit ruhigen, unspektakulären Erzählgesten entwirft Mall ein Szenario, dessen spektakuläre Ambiguität die Beteiligten zunehmend akzeptieren. Sicher und behutsam führt der Autor die Figuren auf die zweite Ebene der Realität. Der Roman löst die Darstellungsproblematik der multiplen Entwürfe von Wirklichkeit mit den Mitteln des realistischen Erzählens. Er zeigt, dass nicht nur der eine Text- und Wirklichkeitspol, sondern auch der andere (nur) eine Variable ist. Gleichberechtigt zur „objektiven“ Wahrheit erzählt der Text die dem Geschehen inhärente Wahrheit. Eine besondere Stärke der Erzählung liegt darin, dass Geschlechterklischees vermieden werden: Zwar sind es vor allem die weiblichen Figuren (Klara Hubmann, Alma, Angelina, Irina), die in guter Verbindung zu ihrer liebevollen, großzügigen, empathischen Seite stehen, doch gibt es auch Johannes‘ Mutter, die ihre Emotionen abgespalten hat, zu ihrer Umgebung keinen emotionellen Zugang mehr findet und unaufhaltsam auf die Demenz zutreibt. Im Gegenzug zu den veräußerlichten Lebensentwürfen des Vaters und des Bruders Gregor zeichnet den männlichen Protagonisten Johannes hingegen ein hohes Maß an Sensibilität und emotioneller Integrationskraft aus (In den zwei sehr unterschiedlichen Brüdern greift Mall ein Motiv seiner frühen Erzählung „Brüder“ wieder auf). Das poetische Sprachregister des Erzählers Sepp Mall ist ein anderes als das des Lyrikers. Seine gelassene, manchmal karge, immer präzise Sprache bietet der Geschichte einer langsamen Heilung den nötigen, weiten Erzählraum. (In der Darstellung der zweiten Berliner Liebesnacht allerdings, in der sich Johannes und Angelina finden, vermisst man ein wenig die poetische Verhaltenheit des Lyrikers; die Dinge eins zu eins zu sagen, ist gerade in literarischen Liebesbelangen manchmal zu viel.) Mit sicherer Hand verknüpft der Autor Bilder leitmotivisch zu einem tragenden Netz. Eines davon ist das verrücktspielende Wetter: zu Beginn ein sintflutartiger Regen, in der Mitte ein unerhört heißer Berliner Sommer, am Ende Schnee im August. Die ans Surreale grenzenden Wetterlagen spiegeln die Mehrdeutigkeit der erzählten Wirklichkeit. Ihre Schilderungen gehören zu den suggestivsten Passagen des Romans, sie markieren die Übergänge zwischen Wachzustand und Traum, sie definieren die von uns wahrgenommene Realität als etwas in hohem Maße Durchlässiges, durch das komplexere Wahrheiten durchsickern, sie kennzeichnen den Text als offenes Kunstwerk. Zu den Schönheiten der Mallschen Poetik gehört ihr einladender Gestus: auch dort, wo sich der Text sehr öffnet (und wo er sich partiell verschließt), verweigert er sich nicht dem Leser, sondern bietet Brücken hin zu einem umfassenderen Verständnis von Wirklichkeit. Der Schnee, ein auch in der Lyrik Sepp Malls wiederkehrendes Motiv, begleitet Johannes auf seinem Weg zu sich selbst, er signalisiert seine Verbindung zu den Tiefenarealen seiner Existenz. Im März, als die letzten Schneeflecken auf der Passhöhe zerrinnen, ereilt Johannes die Nachricht von Vaters Tod; „Schnee“ sagt der vom Fieber geschüttelte Vater auf seinem zweiten, Berliner Sterbebett; am Ende des Romans - es ist Ende August – schneit es. Inmitten der plötzlichen Kälte, doch geborgen an einem gemeinsamen Tisch, finden sich Johannes und Angelina in einem behutsamen Gespräch voller Aussparungen, ihre Hand auf der seinen, während draußen im Schnee Gregor in den Fangnetzen seines Daseins hängen bleibt. Doch das eigentliche Herz des Romans bleibt das Berliner Zimmer. Es wird zum Kristallisationspunkt für alle wesentlichen Themen. Es ist der Knotenpunkt, durch den alle Stränge laufen. Es ist der Ausgangspunkt und das Ziel der Erzählung. Es ist der Wendepunkt im Leben des Vaters: nach ihm zerfällt seine innere Ganzheit in einen gelebten und in einen verdrängten Teil. Die Begegnung im Berliner Zimmer berührt Klara mit elementarer Kraft und treibt sie in eine lebenslange unerfüllte Liebe. Die im Berliner Zimmer erfahrene und verratene Liebe wird für Erwin Stockner zum Schatten, der seine ganze Familie belasten wird. In einem Berliner Zimmer wird Johannes auf die Liebe der Klara Hubmann endlich antworten und die vom Vater verursachte Wunde heilen. In einem Berliner Krankenhauszimmer wird dem Vater die liebevolle Sterbebegleitung zuteil, die er in Südtirol nicht bekam. Von einem Berliner Zimmer aus telefoniert Johannes mit seiner Tochter Alma; es ist ein langes Gespräch, während dessen seine Gedanken oft abschweifen, in dessen Tiefenstruktur sich jedoch die innige Beziehung zwischen Vater und Tochter offenbart (Diese Passage ist von hoher Poetizität; mit leichter Hand verknüpft der Autor Almas Erzählung von Orpheus und Eurydike mit der von Klara und Erwin; er öffnet die Oberflächenstruktur des Dialogs zwischen Vater und Tochter für die multiplen Tiefenschichten des Gemeinten; er kontaminiert den antiken Mythos mit der Berliner Gegenwart; er vertauscht die antiken Rollen; er mutiert Klara mit berührender Raffinesse zu einem jung-alten Mädchen in Himation und Hütchen und lässt eine Wiederbegegnung zwischen der Lebenden und dem Toten, mehrfach fiktional gebrochen auf den Monitoren eines S-Bahnhofs, tatsächlich glücken). In einem Berliner Zimmer schließlich wird Johannes die Chance geboten, den Teufelskreis aus vererbter Schuld und Wiederholung zu durchbrechen: Obwohl sein Zusammenkommen mit Angelina fast wortlos bleibt, ereignet es sich wie etwas Selbstverständliches und emotionell Notwendiges. Es wird an Johannes liegen, die Zeichen zu sehen. Es sind Szenen von großer emotioneller Intensität, die berühren und beeindrucken. Ihnen das existentielle Gewicht zu geben, das ihnen zukommt, ohne die deutende Vorsicht je aufzugeben, ist Sepp Malls besondere Sprachleistung. |
Mit im schwarz blühen die schönsten farben präsentiert Regina Hilber ihren zweiten Lyrikband. Unter den prekmurje umrahmenden Gedichten fallen zwei auf: potapowo am jenissei (das den nördlichsten Ort sowjetrussischer Verbannungen anspricht, wohin, neben unzähligen anderen unschuldig Verbannten, 1941 auch die Wolga-Deutschen abtransportiert wurden) und nersut. In beiden Gedichten verdichtet sich am intensivsten die sprachliche Originalität der Autorin. Mit plötzlicher Kraft entfaltet sich die subversive Energie der Wörter, die Zurückhaltung wird aufgegeben, eindringlich und explosiv wird die Sprachoberfläche gesprengt, neu zusammengefügt, „Richtiges“ verlassen, Neues, Unstimmiges, Absurdes gewagt. Das Ergebnis sind Verse, die die eisige Absurdität von potapowo und die geheimnisvolle Schönheit von nersut vorbehaltloser und unmittelbarer konkretisieren als sprachlich gezähmte Verse es könnten. Insgesamt steht der Band im Zeichen der Stille, der Ahnungen, unausgesprochener, halb angedeuteter Empfindungen. Hilbers poetische Sprache verfügt über hochdifferenzierte Register, um die Stille des Himmels und der Wörter, das Flüstern der Städte, das Tönen der Landschaft einzufangen (rückhaltlos/ stille im haus/ stille im satz … ich bin dein kuhgehöft tönt/ noršinci …); die tröstende Naturwird in unzähligen Nuancen wahrgenommen (geduldig wie der schnee/ tröstlich wie das frostauge … ich bin dein herbst tröstet/ murska sobota und eicheln fallen …), die Sehnsucht wird beim Namen genannt (herbeigesehntes telegramm/ akkurat steht still das licht …). Die Risse und Brüche jedoch, die ohrenbetäubenden Misstöne der Welt, das Herzzerreißende der Dinge, die existentiellen Bedrohungen: sie dringen meistens nur als Ahnung bis knapp unter die Oberfläche der Wörter (stich die milch gleich herzkonturen blasser ahnen/ minuten metastasen schöpfer wasser barometer …). Was wir der Autorin für die kommenden (hoffentlich bald erscheinenden) Lyrikbände wünschen: die Sprache heraustreten zu lassen aus dem Schatten ihrer Zurückhaltung, ihre poetische Intensität nicht zu dämpfen, die Freude am Experimentieren nicht zu zähmen, sondern (ihrer eigenen Sprachkraft bewusst) sich auch für komplementäre Register zu entscheiden: für dissonante Töne und virulente Experimente, für explizite Aussagen, für metaphorisch-stilistisch-prosodische Maßüberschreitungen, für die eigene Unüberhörbarkeit. Die Voraussetzungen dafür sind in reichem Maße gegeben. Die zarten Offsetlithographien von Claudia Berg, die den Band illustrieren, sind eine kongeniale künstlerische Antwort auf die Gedichte: sie zeigen Fragmente von Bäumen (die Wipfel sind jenseits der Bildseiten zu denken), Ausschnitte einer Flusslandschaft mit Brücke, steinerne Monumente, deren filigrane Umrisse sich als schwarze Schatten im Wasser spiegeln, Häuser am oberen Rand der Bildseite, deren Dächer imaginiert werden müssen. Alles in Schwarzweiß, die darin blühenden schönsten Farben sind fürs Auge unsichtbar. |
Mein lieben mein hassen mein mittendrin du markiert eine erstaunliche Wende in C. W. Bauers poetischer Entwicklung. Die lyrische Begabung des Autors überzeugte von Anfang an, seine stilistische Sicherheit, seine unübersehbare Freude an sprachexperimentellen Kapriolen (und Brüchen) waren sein Markenzeichen. Und doch umfing seine Verse bisher eine eigentümlich ambivalente Aura: zum einen ist es unmöglich, sich dem Sprachsog der Bauerschen Verse zu entziehen. Er ist die poetische Folge einer inneren Unruhe (1000 Wahrnehmungen in 4 Versen), einer unüberhörbaren (sich lässig gebenden) Musikalität und einer ziemlich verspielten formalen Virtuosität. Zum anderen halten die Verse die Lesenden auf Distanz, vermeiden (wo immer es geht) logische Zusammenhänge, machen sich Anleihen bei der literarischen Tradition und der Popmusik, um sie sofort so gründlich zu verfremden, dass eine Identifikation, auch nur ein intellektuelles Nachvollziehen (also ein erleichtertes Innehalten) unmöglich werden (fast). Zum dritten gibt es plötzliche Augenblicke intensiver Emotionalität, doch so zart und scheu, dass man sie fast überliest. Passiert Letzteres, so scheinen die Verse selbst zu erschrecken, der Zauber zieht sich sofort zurück, verschwindet im nächsten Vers hinter sprachlichen Verrätselungen und einer überbordenden Gelehrsamkeit. Nichts war eindeutig gewesen bisher: die Liebe in fontanalia ist ein überaus virtuoses Vexierspiel mit ironischen Herzensverneigungen à la Troubadour einerseits und einer plötzlichen Innigkeit andererseits, deren Verhaltenheit und sprachliche Noblesse berühren. Welchem Aspekt ist mehr zu glauben? Es ist dem Autor ein spürbares Anliegen, dies auf keinen Fall zu verraten. In supersonic wiederum zog Bauer, um sich dem Thema Tod und Schmerz zu nähern, buchstäblich die gesamte literarische Tradition zu Rate (und mehrere Fremdsprachen gleich dazu inklusive Latein), nahm sich (wo immer er sie finden konnte) Bilder, Metaphern, Wortklänge, um das Hinabstürzen der Zeit, das Hineinrasen in das schwarze Loch, sprachlich zu umkreisen. Doch auch hier erwischt die Lesenden ein plötzlicher intensiver Schmerz, hinter aller Gelehrsamkeit verbirgt sich eine Trauer, die nicht gelehrt ist. Und nun (wiederum plötzlich) mein lieben mein hassen mein mittendrin du. Mit einem Nachwort von Niklas Holzberg (dem Catull-Experten schlechthin). Also diesmal Catull. Der Titel des Bandes, die vielen Zitate, der zyklische (an antiken Modellen sich orientierende) Aufbau, das Nennen sämtlicher Größen der antiken erotischen Literatur (und auch späterer Jahrhunderte), alles sagt: hier wird rezipiert, hier kennt sich einer aus, hier ist einer seinen Vorbildern gewachsen. Einsprengsel aus der Popmusik, und überhaupt ein gewisser salopper Sprachduktus geben dem Ganzen eine sehr jetztzeitige Couleur. Auch hier wieder (wie schon in den vorausgegangenen Lyrikbänden) ein selbstironisches, sein Leben und Lieben im Schreiben reflektierendes Ich. Wir erkennen an den Versen die stilistische und prosodische Meisterschaft, den Witz, die Liebe des Autors für die Antike. Aber die Größe dieses Buchs liegt woanders. Sie liegt in einer bisher nicht dagewesenen Fokussierung des Blicks. Die ganze Welt reduziert sich plötzlich auf die Spanne zwischen Ich und Du, zwischen aneinandergekauert und so circa fünf frauen nach dir. Auf die Spanne zwischen dem Glück in Florenz (auf einer fahrt nach florenz du/ schläfst und ich folge deinen/ atemzügen) und dem von allen Worten verlassenen Unglück im Supermarkt (ein brennen plötzlich auswippend in wut/ dass wir einander gehen ließen/ ohne widerstand). Verschwunden jede sprachliche Ambivalenz, hinter sich gelassen die literarischen Versteckspiele, zusammengefügt die Brüche. (Sie tauchen nur vereinzelt noch im Mittelteil des Bandes auf als Spiegel der sich zeigenden inneren Brüche.) An ihrer Stelle Worte von großer Klarheit und Einfachheit. Verse, die sich hineinbegeben in das Herz der Liebe und der Dunkelheit. Die Verse weisen die Leser nicht mehr ab, sie holen sie herein in ihr Zentrum, in ihr eigenes Herz. Die Dinge dürfen (sprachlich) sein, was sie sind: die Magie des Anfangs, das neugierige wilde Glück, die Qual der Distanz, die Irritationen, die verbalen Verletzungen, das Verstummen, die Sehnsucht. Nicht die formale Vollkommenheit dieser Gedichte ist es, was diesen Gedichtband vor den vorausgegangenen heraushebt, nicht die literarische Gebärde, nicht die Verschmelzung von antikem Modell und Moderne. Es ist die Tatsache, dass hier einer Catull rezipiert, dessen odi et amo (in Übersetzung) auf den Buchdeckel schreibt, und doch (im Innern) (stillschweigend) das odi streicht. Denn für sein Lieben findet das lyrische Ich tausend Register, für sein Hassen kaum eines. Die Besonderheit (und Schönheit) dieser Catull-Rezeption liegt darin, dass hier ein lyrisches Ich geschaffen wurde, das imstande ist, seine Liebe hinüberzuheben über das Ende. Nicht Hass steht am Ende, am Ende stehen Sehnsucht und Bedauern. Kein geschwafel und kokette[s] lamentieren, im Gegenteil: aus den Seiten spricht wehmütige Akzeptanz. Mit vorliegendem Band beweist C.W. Bauer einmal mehr, dass seine eigentliche Stärke im Lyrischen liegt. Er beschenkt uns mit einem meisterlich komponierten, einem liebevollen Buch. |
„Man wird nicht erleuchtet, wenn man sich Lichtgestalten vorstellt“, sagt C. G. Jung, „sondern durch Bewusstmachung der Dunkelheit.“ Auch in seinem zweiten Roman geht es Konrad Rabensteiner um die Erforschung von Schattenphänomenen, um deren Definition, um die Erkundung ihres Wesens und ihrer Wirkung. Er gestaltet dies in komplexer und faszinierender Weise auf drei Ebenen: auf der individuell-persönlichen seiner Hauptfigur Aldo Ricci, auf einer kollektiven und auf der literarischen. Ein seiner Hauptfigur wohlwollend nahestehender Erzähler berichtet von Aldo Riccis nur halb freiwilliger Übersiedlung, die eine endgültige werden sollte, von seinem Heimatort nahe Legnago an der Etsch im Nordosten Italiens hinauf ins fremde Bolzano, in die zweisprachige Stadt Bozen, in die terra incognita Südtirol. Ruhig, linear und mit eindringlicher Genauigkeit schildert er das unauffällige Leben des aus bescheidenen Verhältnissen stammenden italienischen Arbeiters Aldo, dessen Größe und Würde sich erst allmählich offenbart: im Vollzug einer lebenslangen, stabilen, von – wie es heißt – „Wohlwollen und Verantwortungsgefühl“ geprägten Lebensgemeinschaft mit einem anderen Mann, mit Theo Linn, dem deutschsprachigen Südtiroler, dem Akademiker, dem Lehrer, dem aufgeklärten Humanisten. Doch auch in dieser für so manche unbegreiflichen, von manchen beneideten Beziehung verbirgt sich ein gewisses Maß an Dunkelheit, und das Wunder, das den zwei Männern gelingt, würde an Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit. Dieser wendet sich der Erzähler in gleichem Maße zu wie dem erstaunlichen Gelingen einer de-facto-Männerehe vor einem denkbar ungünstigen politisch-sozialen und familiären Hintergrund. So erfährt man in immer neuen Details von Aldos sensibler Persönlichkeit, von seinem Interesse für Blumen, Heilkräuter, Kochrezepte, von seinem Bemühen, das ärmliche Haus seiner Eltern zu verschönern, von seiner stillen Geschicklichkeit. Als sein nach Bozen ausgewanderter Bruder durch einen Unfall seine Frau verliert, wird auch Aldo von seinen Eltern nach Bozen geschickt, um für seinen verwitweten Bruder und dessen Kinder den Haushalt zu übernehmen. Als die Kehrseite von Aldos gutmütiger Hilfsbereitschaft zeigt sich bald seine ängstliche Passivität, die wie ein Schatten viele seiner Lebenssituationen verdunkeln wird. Jung, einsam, von seiner eigenen Familie ausgebeutet, verloren in einer fremden Stadt, macht sich Aldo auf die Suche nach Männerfreunden. Wir werden Zeugen seiner Streifzüge durch die Schattenseiten der Stadt, in die Pissoirs des Bahnhofs, in die dunklen Winkel der Parks und der Talferwiesen, mit seinen Augen nehmen wir teil am Erlernen einer unbekannten Topographie der Stadt, die Männerbekanntschaften möglich macht, die anderswo nicht möglich sind, wir erfahren von seinem Ekel, seinen erotischen Erfolgen, von der Tristesse, die ihn erfasst. Und endlich von der Wende, die sein Leben nimmt, als er Theo begegnet, von der geregelten Arbeit, die er findet, von der Ruhe, die eintritt, von der sich festigenden emotionellen Sicherheit. Theo nimmt ihn in seine Wohnung auf, die zwei Männer geben einander, was sie haben: ihre Fürsorge, ihre Nähe. Nun richtet sich die Kamera gleichermaßen auf das Paar und auf die Mechanismen, die es einerseits festigen und andererseits belasten. Sie beleuchtet Aldos mit den Jahren zunehmende Gereiztheiten, seine feindseligen Ausfälle gegen Frauen und Süditaliener, seine charakterliche Passivität, seine Neigung zur Opferrolle, sein bockiges, Theo verletzendes Desinteresse an Südtirols Geschichte und politischer Realität, sein lebenslanges Versäumnis, einen Deutschkurs zu besuchen, und immer wieder seine Sprachlosigkeit, die eine tiefergreifende ist als seine Weigerung, Deutsch zu lernen. Und Theos Traurigkeit, das für beide immer bedrohlich werdende intellektuelle Gefälle sowie die mit den Jahren zunehmenden Belastungen durch Krankheit, Alter und Tod. Wiederholt droht der Beziehung das Scheitern. Immer wieder gelingt es jedoch den zwei Männern, sich bewusst für ihr Fortbestehen zu entscheiden. Hochinteressant ist der Roman als Studie eines kollektiven Schattens. Sachlich, detailliert, schonungslos genau wird die zur Schattenexistenz gezwungene Homo-Szene beschrieben, ihre Praktiken, die der Verständigung dienenden Codes, die Treffpunkte und der Insider-Jargon, die ständige Angst, die Demütigungen durch Klerus und Presse, Polizei und private Razzien, der Zwang zum aufreibenden Doppelleben. Man erfährt aber auch von Restaurants, in deren Separees Treffen unter sich möglich sind, von Urlaubszielen, wo homophile Paare sich nicht mehr verstecken müssen, von berühmten Männerpaaren, von den ersten öffentlichen Initiativen Homosexueller, von Aids. Der lange als Lyriker bekannte Autor Rabensteiner integriert nun zum zweiten Mal in sein literarisches Sprechen die in seinen lyrischen Jahren genrebedingt stumm gebliebenen Register: langatmiges Erzählen, unermüdliches, akribisches Benennen realistischer Einzelheiten, die detailbesessene Schilderung von Alltagssituationen als Erzählprinzip. Die tragende Idee des Romans – die gelungene Lebensgemeinschaft zweier sehr unterschiedlicher Männer in einer schwierigen Provinzstadt – hätte in einer Novelle knapper und vielleicht prägnanter erzählt werden können, bei Rabensteiner darf sie sich über 627 Seiten erstrecken. Rabensteiner gestattet seinem Erzähler eine ungewohnte emotionelle Nähe zu seiner Hauptfigur, aus ihr heraus wird auch die auffallende Gewichtung mancher Aspekte verständlich: Es ist Aldos Perspektive, die hier eingenommen wird, sein waches Interesse für gutes Essen, für die männliche Attraktivität, für erotische Handlungen, seine Furcht vor Frauen … es ist seine Sprache, die hier widergespiegelt wird. Vielleicht liegt die Schwäche des Romans in der Zuneigung des Erzählers, die ihn streckenweise zum narrativen Übermaß verführt. Als Dokument einer Männerliebe, als ungewöhnlicher Eheroman, als kluge Milieustudie wird er die Leser überraschen und überzeugen. Man muss sich halt Zeit dafür nehmen. |
Kafkas Wort an Oskar Pollack aus dem Jahr 1904 "Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns" ist, obwohl nun schon über hundert Jahre alt, noch immer so treffend und präzise wie kaum eine andere Definition von guter Literatur. Auf dem kürzesten aller Wege, in einem Satz, definiert es die Absicht des Schreibenden (zu treffen) sowie die dazu nötige Haltung des Lesers (des gefrorenen Meeres in sich bewusst zu sein). Kafkas Satz macht im Grunde eine Rezension zu Santelers Landecker Heften überflüssig: er hat die nötige Prägnanz, die äußerste Knappheit, die Erfahrung von Kälte, die alle nötig sind, um den spezifischen Ton von Santelers Gedichten, Notizen und Tagebuchaufzeichnungen zu beschreiben. Er deutet z.B., besser als jede lange Erklärung, die Stellung des Sängers, sein Stehen auf verlorenem Posten, nicht nur in der herben Landschaft des oberen Inntals, sondern vermutlich allerorten: |
Kafkas Wort an Oskar Pollack aus dem Jahr 1904 "Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns" ist, obwohl nun schon über hundert Jahre alt, noch immer so treffend und präzise wie kaum eine andere Definition von guter Literatur. Auf dem kürzesten aller Wege, in einem Satz, definiert es die Absicht des Schreibenden (zu treffen) sowie die dazu nötige Haltung des Lesers (des gefrorenen Meeres in sich bewusst zu sein). Kafkas Satz macht im Grunde eine Rezension zu Santelers Landecker Heften überflüssig: er hat die nötige Prägnanz, die äußerste Knappheit, die Erfahrung von Kälte, die alle nötig sind, um den spezifischen Ton von Santelers Gedichten, Notizen und Tagebuchaufzeichnungen zu beschreiben. Er deutet z.B., besser als jede lange Erklärung, die Stellung des Sängers, sein Stehen auf verlorenem Posten, nicht nur in der herben Landschaft des oberen Inntals, sondern vermutlich allerorten: |
ES SOLL WEITERGEHEN ES SOLL EIN ENDE NEHMEN (S.4) 1 Es soll weitergehen es soll ein Ende nehmen ÜBERALL IST DAS ICH (S. 28) Wohin mich meine Seele führt RAST VON DER STILLE (S. 32) Auf des Hauses Schwelle fiel Schnee. |