Rezensionen von Christine Riccabona 

 

  


Sabine Gruber, Ein unerhörter Wunsch. 22 Kurztexte. Offsetfarblithographien: Anna Stangl
Horn: Edition Thurnhof, 2013 

Sabine Gruber und Anna Stangl veröffentlichten in der außergewöhnlich bibliophil gestalteten Reihe oxohyph in der Edition Thurnhof ein gemeinsames Werk, das Literatur und Grafik intermedial in Verbindung bringt. 22 Kurztexte von Sabine Gruber stehen 9 Offsetfarblithographien der Künstlerin Anna Stangl gegenüber oder nebeneinander, Bild und Wort begleiten, umrahmen, grundieren einander gleichermaßen.

Das Titelbild des Bandes zeigt eine sitzende Frauengestalt, ein zauberisches filigranes Wesen, das – blättert man weiter -  in immer wieder neu verwandelter Gestalt gleichsam durch das Buch wandert. Einmal ist sie ganz in sich versunken mit dunkelroter Blumenpracht auf ihrem Haar, in dem sie ein andermal eine Schlafende beherbergt; einmal kehrt sie einer männlichen Gestalt den Rücken zu; dann wieder trägt sie einen Oktopus am Herzen; einmal wächst ihr eine große rote Blume aus dem Leib; erscheint als Häsin oder als traumverlorenes Tier in Bärenkleid.

Auch die Figuren der Kurzprosa-Texte, sind eigentlich ‚Gestalten‘, variieren Existenzen und Befindlichkeiten, die sich schon im titel andeuten: als die „Glückliche“, der „Undankbare“, die „Trauernde“, der „Schwimmer“, die „Undankbare“. Vor dem Hintergrund einer skizzierten Situation heben sich die Umrisslinien dieser Gestalten ab. Was sichtbar lesbar wird, sind die auf ihren innersten Kern reduzierten Themen und Motive. Die Figuren bleiben namenlos, sind von außen beobachtet und wahrgenommen: Sie sind Trägerinnen und Träger von Haltungen, Gesten, Gebärden und Handlungen, in denen sich das Konzentrat einer durchlebten Situation ausdrückt. Es scheint die Zeit still zu stehen, es ist, als würde der Text jenen Moment einfangen, den der Auslöser einer Kamera als Bild, als Szene festhält. Man kann die Texte, denen ein an Kafka geschulter Blick innewohnt, auch Prosaminiaturen nennen. Als modellhafte Verkleinerung enthalten sie verdichtete Erzählkerne, solche, die Romane als Handlungsfäden und Fasern eines erzählten Lebens entflechten und ausbreiten.

Ein Beispiel: „Ein unerhörter Wunsch“ (S.19) ist der Titel des Bandes und auch der Titel eines der Kurztexte. Der Text liest sich zuerst wie eine filmische Miniatur. Die ersten Zeilen zeigen wie ein Filmset Menschen beim Verlassen einer Kirche. Ein Sargdeckel schließt sich, ein Begräbnis also, dann aber scheint sich die Trauer zu wandeln: „Die, die da knieten, werden bunt“, heißt es. Aus dem anonymen Plural der Begräbnisgemeinschaft hebt sich ‚eine‘ heraus, die als letzte die Kirche verlässt, die ihre Hände in den (Weihwasser)Brunnen taucht. Eine also, die sich Zeit lässt mit dem Zurückkehren und ihren Platz in der Trauergemeinde nicht finden kann. Dieser Szene folgt durch ein Perspektivenwechsel (wie durch einen Kameraschwenk) eine Sicht aus großer Distanz, und darin liegt vielleicht der unerhörte Wunsch (als gedachtes Bild im Innern der Figur): Aus zeitlich räumlicher Entfernung von oben gesehen verlieren sich die Gräber und Einfriedungen zu einem Muster aus Gittern und Kreuzen und „sie“ erscheint nun wieder als eine unter vielen, „die sich einhakt und lacht, bis das Haar aus der Ordnung fällt.“ Der elfzeilige Text ist bis aufs Äußerste verknappt und legt dadurch quasi die innere Struktur einer Szene frei. Kehrt in diesem Text die Gestalt der „Trauernden“? (S.17) wieder, die ihre Erinnerungen an die „Tote“ wie Blumen durch ihr Leben trägt?

Die Leerstellen und Zwischenräume füllen sich durch die subjektive Optik des Lesens, durch ein freies Ineinanderfließen von Text- und Bildassoziationen. Dem Text „Ein unerhörter Wunsch“ folgt eine Doppelseite: Dort sitzt die Titelseitenfigur wieder auf rotem Grund in goldenem Kleid - wie in einem Nest. Geschützt vom runden Zaun eines liegenden Schlangenkörpers blickt sie zur Seite: zum Kopf der Schlange - diesen aufmerksam betrachtend und wie konzentriert in die Stille horchend.

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Siegfried Höllrigl, Was weiß der Reiter vom Gehen. Zu Fuß an den Bosporus
Innsbruck: iup (edition laurin), 2011

Nachdenkliche Menschen sind meist einer Meinung: Die immer schneller werdende Mobilität gereicht der Menschheit nicht nur zum Nutzen, es geht dabei auch viel verloren, in dem Sinne des Indianers, der bei der Ankunft vom Pferd steigt und auf das langsame Nachkommen seiner Seele wartet. Kein Wunder, dass die Langsamkeit des Gehens wieder als Wert entdeckt und dass ‚Gehen‘ in letzter Zeit, besonders in der alternativen Tourismusbranche, ein wohlfeiler Begriff geworden ist. Pilgerwege und Fernwanderrouten bilden inzwischen ein wiedergefundenes Geh-Netzwerk, das sich über die zivilisierten Räume Mitteleuropas zieht und das nebenbei so manch ökonomischen Mehrwert einbringt. Auch der Buchmarkt bietet an: Wegweiser, Erfahrungsberichte, philosophische und spirituelle Texte über die ‚Kunst des Gehens‘, Geschichten vom Wandern, oft genug leichte Lesekost.

Mit all dem hat Siegfried Höllrigl nichts am Hut. Sein Buch „Was weiß der Reiter vom Gehen“, in dem er seinen Fußmarsch über sechs Grenzen hinweg durch sechs Länder mehr protokollierend festhält denn beschreibt, ist anders. Nicht nur, dass er mit seinem Projekt „Zu Fuß an den Bosporus“ vorerst nichts weiter im Sinn hatte, als das Einlösen einer vor langer Zeit gefassten Idee (und das ist, wenn es ohne Halbheiten geschieht, reichlich genug), der Autor kommt auch in seinem Text  ohne überhöhte Bedeutsamkeit aus. „Meine inneren Blicke gingen Richtung Süden. Ich zog eine Linie zwischen Basel und Istanbul, und ich stellte mir vor, (…) diese Strecke zu gehen“, erinnert sich der Autor. 2004 setzt er schließlich den Plan in die Tat um, bricht auf und geht los: „belastet und befreit“. Und er schreibt auf, als wäre die Sprache das Leitseil des Weges.

Siegfried Höllrigl, der seit den 1970er Jahren Texte in Zeitschriften und Anthologien sowie einen Gedichtband publiziert hat,  ist von Beruf und Passion Handpressendrucker, der in seiner eigenen Meraner Handdruckerei Offizin S. bibliophile Editionen, Kalender, Kunstdrucke und grafische Textblätter herstellt. Die Kunst in seiner Werkstatt ist eine der Hände und der Augen, eine Kunst, die sich in Langsamkeit und Leidenschaft gründet. Die Hände des Künstlers werden während der drei Reisemonate ruhen, (nicht ganz zwar, denn es entstehen immer wieder Skizzen und er nützt auch die Gelegenheit, in Handpressen am Weg Drucke von unterwegs geschnitzten Holzschnitten herzustellen). Das Sehen aber wird sich auf dem Weg mit dem Gehen verbinden, wird die Wörter und Erinnerungen in das Denken holen, wird Landschaften lesen, dem Erzählen seinen Rhythmus geben.

Der Autor hat keine bereits vorgezeichneten, erprobten Wanderrouten zur Verfügung, die andernorts üblicherweise beschildert und in leicht zu verdauende Abschnitte zu portionieren sind. Er muss vielmehr ein ‚wilder‘ Geher sein - quer über den Balkan, auf Strecken, die für touristisches Wandern gar nicht gedacht sind, durch Städte und Dörfer Italiens, Kroatiens, Sloweniens, Bosniens, Serbiens und Bulgariens, bis er sich schließlich durch die Türkei seinem Ziel Istanbul nähert. Auf Überlandstraßen, Fahrbahnen ohne Gehsteige, auf Feldwegen, auf Um- und manchmal auch auf Abwegen erreicht er Städte und Orte, kommt an kleinen Gehöften und Behausungen vorbei, wandert durch Niemandsland, hybride Zwischenräume, in denen Spuren der Vergangenheit den Gehenden und Lesenden berühren. Nicht selten sind es Nachwirkungen des letzten Krieges der 1990er Jahre, sichtbar an Friedhöfen und beschädigten Gebäuden, die in der Armut und in den Erzählungen der Menschen noch immer deutlich spürbar sind.

Jegliche Romantik des ‚Gehens‘ erstickt im Staub des Verkehrs der Verbindungsstraßen, verliert sich im lauten Getriebe der Städte, in mehr oder weniger komfortablen Nachtlagern, in manchmal heruntergekommenen Orten und Szenarien. Anstelle romantisierender ‚on-the-road‘-Philosophie aber entfaltet sich ein waches Schauen und Notieren, das Schönes und Hässliches im selben Bild erfasst, wie etwa das ‚verrückte‘ Neben– und Gegeneinander von unberührter Natur und von den Spuren des zwar langsamen, dennoch unaufhaltsamen technischen Fortschritts. Dabei entstehen Szenarien, denen die vorgefasste Optik abhanden gekommen ist und die auf stille unspektakuläre Weise überraschen und staunen machen. Der Text, ein Tagebuchbericht von 88 täglichen Einträgen, lebt von dieser Aufmerksamkeit im Sehen, von jener entschleunigten Form der genauen Wahrnehmung, in der sich wortwörtlich  Schritt für Schritt die Details aneinanderreihen und zum Ganzen fügen.

Im Text äußert sich dies in einem steten sprachlichen Fluten der Eindrücke, das manchmal von kleinen beiläufigen Alltagsreflexionen unterbrochen wird oder mitunter durch Erzählungen und Begegnungen mit Menschen einen anderen Rhythmus bekommt. Manchmal bewirkt dies ein wahrhaft kühnes Hintereinander der Sätze, das Unzusammenhängendes aneinanderreiht, weil es so doch auch in Wirklichkeit geschieht. Bauern bei der Ernte, Frauen in Muslimtracht, Eisverkäuferinnen, die Fußballübertragungen in Bars, malerische Plätze an der Drina, Friedhöfe, Strapazen im Regen, das gute Glas Wein, der gereichte Slivowitz, Gastfreundschaft, wortkarge Gespräche und Abgewiesen-werden, das Glück im Schatten von Bäumen zu sitzen, die Müdigkeit, die Ödnis der Stadtränder und Motels usw., all dies schachtelt sich ineinander wie in einem kubistischen Bild. Dergestalt wird die literarische, die ‚poetische‘ Form des Textes selbst zur Aussage. Scheinbar ungeordnet weben die Sätze einen Teppich, der in seinen Verknüpfungen nicht selten auch ein surreales Bild der Realität spiegelt.

Durchgängig ist diesem Text die wohltuende Zurückhaltung des Autors anzumerken. Wiewohl hier ein Ich erzählt und berichtet, stülpt dieses Ich der Umwelt so wenig wie möglich seine Optik und seine Weltdeutung über. ‚Sehen was da ist‘, diese Art der Begegnung hat weniger mit misstrauischer Vorsicht oder mit scheuer Distanziertheit zu tun, als vielmehr mit Respekt und Offenheit. So erst kann ein Raum für das Andere, oft genug auch Fremde entstehen. In dem, was der Geher notiert und festhält ist viel Platz für das Besondere der Orte und die Geschicke der Menschen. Im genauen Niederschreiben des Erlebten, Beobachteten und Gehörten, das sich auch in der Verwendung original-sprachlicher Begriffe aus dem Alltagsleben zeigt, verändert sich wie von selbst, unmerklich und stetig, den Orten entsprechend die Atmosphäre der Lebensarten, der Lebensbedingungen, die manchmal auch nachdenklich stimmen.

Was weiß der Reiter vom Gehen - die Titelfrage des Buches (eine Anspielung auf das chinesische Sprichwort  „der auf dem Pferd Reitende kennt die Bitternis des Weges nicht“) lässt die Lesenden bis zuletzt nicht los. Siegfried Höllrigl hat mit seinem Buch, das ein wunderbares Nachwort von Ilma Rakusa enthält, eine bemerkenswerte Reiseliteratur verfasst, die für ein beschönigendes Imaginieren und romantisierendes Lesen nicht zu gebrauchen ist. Man wird nach der Lektüre zwar bestimmt behaupten, dass, um nach Istanbul zu kommen, der Flug in jedem Fall anzuraten sei. Dennoch, und das macht der Text sichtbar, was können wir schon erfahren aus der flüchtigen Vogelperspektive. Höllrigls Text vermittelt vielmehr das wahre Ineinander von den Mühen und der Bitterkeit des Wegs und dem Glück des Ankommens.

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Maridl Innerhofer, Zukunftserinnerungen. Gedichte in Mundart und Hochsprache
Hg. Ferrucio Delle Cave , Martin Hanni
Bozen: Edition Raetia, 2011

Maridl Innerhofer zählt zu den beliebtesten und wohl auch angesehendsten Mundartdichterinnen Südtirols. Nun ist ihr 9. Gedichtband in ihrem 90. Lebensjahr erschienen.
Beobachtungsgabe, Weisheit und Humor waren immer schon und sind wieder in ihren Mundartgedichten zu finden, erstmals enthält der vorliegende Band auch Gedichte in Hochsprache. Ferrucio Delle Cave, Leiter des Kreises Südtiroler Autoren, und Martin Hanni, Leiter der Dokumentationsstelle für Südtiroler Literatur in Bozen, haben den Band herausgegeben. Er enthält ein Vorwort, ist mit einem biobibliographischen Anhang, zahlreichen Fotografien und einem Widmungsgedicht von Kurt Lanthaler ausgestattet. Außerdem ist ein Gespräch nachzulesen, das Martin Hanni mit der Autorin geführt hat und das sie in persönlichen Aussagen porträtiert. In diesem Interview erzählt Maridl Innerhofen ihren Werdegang als Mundartdichterin. Anni Kraus, aber auch Alfred Gruber nennt sie als wichtige Wegbegleiter. Die zentralen Themen ihres Schreibens kommen zur Sprache. Als sie in den vierziger Jahren „zwangsumgesiedelt“ wurde und zu schreiben begann, habe sie im Dialekt ein „Heimatgefühl“ gefunden – Mundart als heimatliche Insel innerhalb der deutschen, der offiziellen Hochsprache und Schreiben als Lebensbegleitung. Anlassbezogen und lesernah sind viele ihrer Gedichte, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind, sie greifen das Naheliegende auf und lassen, wie mit leichter Hand notiert, konkrete Alltags- und Lebenserfahrung aufs Papier gleiten. Nicht nur „Hennen und Nochtigolln“, „A Handvoll Minz“ oder „A Kraut mit tausnd Guldn“ finden Eingang in ihre dichterische Welt, vielmehr  finden sich in ihr auch kritische Töne. Ein waches Auge wirft sie insbesondere auf die Gefährdung der ‚Heimat’, beispielsweise durch den Tourismus. Prägnante Aussagen wie „aus einem Stadel wird ein Hotel und aus Profitgier noch eines daneben“ (S. 89) drücken eine bodenständige Weltsicht aus, die in Lebenserfahrung gründet. Wieviel Maridl Innerhofer weiß, über die Südtiroler Geschichte zu erzählen und zu sagen hat, kann übrigens im „Virtuellen Haus der Geschichte“ (einem Projekt von Ruth Deutschmann, Ekkehard Schönwiese, Benjamin Epp) gehört werden.
Die Gedichte im neuen Band sind in fünf Themenkreise gegliedert: „Zukunftserinnerungen, Huamat, Gedanken und Traam, Jahreszeiten, Haikus/Tankas“. Nachdenkliches und Bemerkenswertes zu den genannten Themenkreisen sind in knappen Zeilen zusammengetragen. Manche Gedichte in Burggräfler Mundart werden von einer Fassung in Hochsprache begleitet, das vergleichende Lesen lässt den klanglichen Reiz des Dialekts erst richtig hervortreten. Es sind so Wörter wie „Inniwertsschaugn“ oder „raachelen“ oder „krautelen“ oder „Flottr“, die aus dem sprachlichen Reichtum schöpfen und einen poetischen Mehrwert ausmachen, den nur ein bewusstes Dialektdichten hervorbringt. Ist beispielsweise der „Rücken“ dasselbe wie der „Buggl“? Durch die Dialektwörter klingt noch etwas Zusätzliches ins Gedicht hinein, das so genau für die Leser oft gar nicht zu bestimmen ist (und vermutlich auch nicht bestimmt zu werden braucht).
Im letzten Abschnitt des Bandes reihen sich dreizehn Gedichte in fernöstlicher Reduziertheit der Haikus bzw. Tankas aneinander (manchmal, scheint es, wurden zwei Haikus zu einem längeren Tanka zusammengebunden, aber das macht nichts, das Silbenmaß bestimmt nicht allein den ‚Atem’ des Gedichts).
Haiku ist jene Form, die den Augenblick (im Sinne des Wortes) am besten einfängt und den Anblick, die ‚Impression’ der Schöpfung, die „prickelnde Ahnung vom Ewigen“ (wie es im Gedicht „Mein Stein“ heißt), im schlichten Naturbild vermittelt. Nachdenkliches auch hier: „Tartscher Bühel // Wieviel Geschichte / lebt unter meinen Füßen / auf dem Kirchhügel!“
Es gibt ein Haiku über Maridl Innerhofer von Alfred Gruber, der gern diese Form benützte für seine kleinen Momentaufnahmen. Mit einer Handvoll Worten charakterisiert er die Dichterin so: „Zeisigzart, klangvoll / Gleich der Nachtigall, blickscharf / wie ein junger Adler“.
Dem Band ist gelungen, was das Vorwort verspricht: eine „Hommage an die Grande Dame der Südtiroler Mundartdichterin“ zu sein.

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Elfriede Kehrer, schärfe die schatten. Gedichte
Innsbruck: Skarabaues 2010

„und misst die welt in den rahmen des fensters“( S. 68)

Elfriede Kehrers neuer Gedichtband ist ein unplakativ, gleichwohl sorgfältig gestaltetes Buch: 85 Seiten schmal, ein Umschlagbild der Künstlerin Konstanze Rainer-Stocker und vier Zeilen am Buchrücken, die ein erstes Hängenbleiben, einen Eindruck der Lyrik intendieren. Auf den Innenseiten ist viel leerer weißer Raum zu finden, auf jedem Blatt eine, maximal zwei Textzeilen, eine Handvoll Worte, ohne Satzzeichen und konsequent klein geschrieben. Eine Meisterschaft der gründlichen Reduktion. Auch wenn man angesichts dieser zarten lyrischen Gebilde Kehrers augenblicklich an Haikus denken mag, (ohne deren Formstrenge einfordern zu wollen), solchermaßen reduzierte Gedichte gehen einen Schritt weiter. Man denkt an die Musik von John Cage oder man assoziiert eine Nähe zur „visuellen Poesie“, jene Sprach-Bildkunst, wie sie etwa von Heinz Gappmayr entwickelt worden ist. Allerdings, in seinen visuellen Texten beanspruchen die einzelnen Silben und Wörter nicht nur eigene Buchseiten, sondern mitunter ganze Wände im Raum, nicht zuletzt um Wahrnehmungs- und Verstehensmuster plakativ zu aktivieren, bewusst zu machen oder ironisch zu brechen. Dies jedoch haben die Gedichte Elfriede Kehrers nicht im Sinn. Sie beziehen sich nicht auf einen realen, sie umgebenden Außenraum, sie spielen auch nicht mit der Kombinatorik von Sprachzeichen und dessen Bedeutungen. Die Wörter in Kehrers Kürzestgedichten laufen vielmehr - wie die Tradition der Schriftlichkeit es uns vorgibt bzw. ‚vorschreibt’ - von links nach rechts, in Zeilen von oben nach unten, linear wie eine Partitur und wie diese eben auch polyphon. Selbst wenn nur zwei Wörter untereinander stehen, wie: „erschrecken / am hochblau“ (S. 9), verbleibt das Lesen im tradierten Verständnismuster, verknüpft sich das ‚erschrecken’ mit dem ‚hochblau’. Das Geheimnis verbirgt sich dahinter: weil sich diese und nur diese drei Worte anbieten, sich vor einem Hintergrund abheben, eine scharfe Grenze zum verschwiegenen Rest ziehen, beginnt das Interpretieren, Sinnieren, Assoziieren in die durch die Reduktion entstandenen Leere hinein. Wo ist die Sprache in diesen Gedichten hin verschwunden? Konzentration. Beim wiederholten Lesen bemerkt man immer mehr, dass diese ‚Gedichte’ wie Satzreste, wie Spuren sind, die von einem ‚Ganzen’, einem Gedanken, einem Bild herrühren, vielleicht verdichtete Hinweise darauf oder - wie der Titel nahe legt - „geschärfte Schatten“ davon sind. Es ist wie bei der Figur-Grund-Wahrnehmung, die Worte bilden die Umgrenzungen eines Raumes, den man ausfüllt der eigenen Sprache und sich ausmalt mit eigener Phantasie. Assoziationsketten ins Offene. Oder solche, die in einer sprichwörtlichen „Eindeutigkeit“ münden - immer dann, wenn etwas ist, was es ist: „an den bergen / spiegeln sich dächer // ein tag mit blauen tüchern“.
Denkt man die einzelnen ‚Gedichte’, Verse und Zeilen des Bandes zusammen und lässt sie ineinander klingen, ergibt sich eine Art Langgedicht mit vielen Bedeutungsfreiräumen, die sich letztlich nur in der eigenen individuellen Lesart erschließen. Dieses offene Lesen ermöglicht ein ‚kreatives’ Wahrnehmen, eine Art Meditation vielleicht, und darin liegt auch der außergewöhnliche Reiz dieses Gedichtbandes.

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Norbert Lantschner, Wie atmet Liebe
Bozen: Raetia 2009

Norbert Lantschners Band „Wie atmet Liebe“, bei Raetia erschienen, enthält eine Sammlung von Prosaminiaturen, Texte, die auf ein oder zwei Seiten erzählen, und solche, die wie lyrische Skizzen wirken, in denen Szenerien mit zarten Linien, oder je nach dem auch mit klaren harten Strichen ins Bild gesetzt sind. Manchmal scheinen sie wie mit der Kamera eingefangen, mitunter wie mit Herzfarben leicht aufs Papier getupft. Worte, die Lebensmomente und Traumszenen zwischen Schlaf und Wachen festhalten, Beobachtungen zwischen Realität und Täuschung, und die da und dort auch paradoxe Schnitte ins Alltagsmuster ziehen.

Formal changieren die Texte zwischen schlichten Notaten und Gedichten, können vielleicht beides zugleich sein, je nachdem wie man sie liest. Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert und beginnt mit einer Reihe von Liebes- und Beziehungsgedichten: „In der Mitte des Glücks“, dann folgt „Die heimliche Flucht“. Der dritte Abschnitt ist mit einer Gedichtzeile aus dem Gedicht „Raben“ übertitelt, ein Herbstgedicht, das in der Titelzeile endet:„Die Dunkelheit beginnt am Tag“. Der vierte Teil des Bandes, in dem es viele Winterbilder gibt, heißt schließlich “Wieviel wiegt eine Schneeflocke“. Die Texte sind in diese Einheiten gefügt, ohne dass sich dadurch eine zwingende Komposition ausdrückt. Zwar deutet sich subtil ein jahreszeitlicher Bogen an, dennoch überwiegt der Eindruck der losen Reihung und Offenheit der Texte. Und dies ist kein Nachteil, vielmehr spiegelt sich darin ein Gestaltungsprinzip der Texte selbst, die durch lose Aneinanderreihung der Bilder und Aussagen eine individuelle Kombinatorik und subjektive Sinnentschlüsselung ermöglichen. Es bildet sich auf den knapp 100 Seiten des Bandes ein poetisches Flechtwerk aus Szenen, die das Sichtbare, den Augenschein der Realität mit dem inneren subjektiven Erleben, mit dem Gedankenfluss verbindet. Der poetische Blick zieht sich durch die in den Texten gespiegelten Beobachtungen von einsamen Menschen, von Natur und „zerzausten“ Landschaften, stürzenden Bauwerken und merkwürdigen Räumen, die Gedanken kreisen vorrangig um Liebe, eigentlich um das ‚Dasein’. Im ‚anderen’ Sehen des Daseins - quasi von innen her - drückt sich die Freiheit des Schreibens aus: Da sprechen Bäume, sind in Mauern ‚Geschichten’ eingeschlossen, da liegt die Zeit „wie ein alter Pullover daneben“, es verdichtet sich das Unauffällige, wird zum Gedicht:

„Vielleicht ist die eingerollte Katze in der warmen Abendsonne eine unbemerkte Liebe. / Vielleicht ist das fallende Rosenblatt ein / lautloses Umblättern im Buch der Fragen. / Vielleicht ist mein Suchen nach Worten ein Versuch, nach dem Licht im Nebel zu greifen. / Vielleicht ist mein Denken ein verlorener / Faden. Meine Augen ein geliehenes Fenster? / Die Hoffnung, vielleicht, ein gelber Krokus, / nass vom Reif einer fremden Nacht. / Vielleicht gibt es kein vielleicht, so wie es  / kein Verstecken gibt.“

In den wie beiläufig festgehaltenen Bildern leuchtet eine Intensität auf, zeigt sich nicht zuletzt eine sensible Aufmerksamkeit für das Unspektakuläre und nur allzu leicht Übersehene. Gerade darin sind oft die Kristallisationspunkte der Verwandlung zu finden. Norbert Lantschner breitet in „Wie die Liebe atmet“ ein kleines Textpanorama aus, das Sehnsucht und Vergeblichkeit, die Einsamkeit, das Fremdsein, Leben und Abschiednehmen erkundet.

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Hans Salcher, Steinwurf 
Innsbruck: Skarabaeus, 2009

„Im Augenblick / ist die Welt Bühne ohne Boden“

Steinwurf – eine neue Textsammlung des Ostiroler Malers und Dichters Hans Salcher ist erschienen und es ist typisches Salcher-Bändchen geworden. In ungewohntem Taschenkalenderformat ist es ein ‚Notizen- und Skizzenbuch’, das auch zahlreiche Pinselzeichnungen des Autors enthält und in dem seine sparsamen Wortnetze ausgelegt sind. Salchers kräftige Pinselzeichnungen lassen an japanische Holzschnitte denken und sind mit energischen Strichen ins Buch gezeichnet. Auf 121 Seiten sind einzelne Sätze ausgestreut, hineingeworfen ins beiläufige Sinnieren wie Steinwürfe, zielgenau. Manchmal treffen sie wie flache Kiesel auf einen Denk-Fluss und machen Sprünge – Salcher’sche Gedankensprünge.
Hans Salchers lyrische Notate wirken, als ob der Dichter mit einem Fangnetz durchs Leben ginge und darin Sätze einfinge, Wortschleifen, Gedichtfragmente, denen mitunter der eine oder andere Vers abhanden gekommen ist, Zeilen, Inschriften, einsilbige Botschaften sowie dem Sprechen abgehorchte, mehr noch: dem Einander-zu-sprechen abgehorchte Mitteilungen. Salchers Texte sind in ihrer Sparsamkeit manchmal dem Haiku nahe und geradezu das Gegenteil von ‚üppig’ – aber sie haben die Leuchtkraft von Blumen, die nur auf Böden karger Hochalmen gedeihen.
Der Himmel ist immer noch eines seiner Lieblingsmotive, war er für seinen letzten Gedichtband „Himmelschauen“ Titel gebend, so findet man auch im neuen Band den ‚Himmel’ beinahe auf jedem Blatt, jeder Seite, wie auch die Berge, die Schafe, die Sonne und den Mond. Hans Salcher beschreibt, notiert und beobachtet die allernächste ländliche – seine Osttiroler – Umgebung, denn in ihr ist alles zu finden: die Heimat, liebevoll ironisch, manchmal auch kritisch bedacht: „Liebesgedanken der Heimat, / der Schnee im Tal / und Geld im Haus“ (S. 40), auch Lebensphilosophie, epigrammatisch festgehalten: „In Gedanken / reden alte Welten in neuen Kleidern“ (S. 111)  oder: „Kultur / den Stein von der Erde aufheben / und den Stein wieder auf die Erde fallen lassen.“ (S. 39). In unmittelbarster Umgebung ist auch die Erinnerung ans Kindsein enthalten und so ins poetische Bild gebracht: „Bergkind / ich nahm Maß an mir / und erschrak vor dem Berg.“ Sie ist voll der Inspirationen, auch für Aphoristisches: „Was einem auf den Kopf fällt / hatte man schon mal in den Händen“ (S. 92), wie auch für Nachdenkliches: „ Im Gleichschritt / ist der Mensch verloren“ (S. 99), und sie ist voll Szenerien zum Schmunzeln: Das Bergschaf / die Ohren Berge / im weißen Wollmantel / tanzt eine Schönheit / am grünen Teppich (S. 83).  Dass die Welt in jedem Dorf zuhause ist, und dass Salchers Texte voll „unaufdringlicher Weisheit“ sind, wie der Umschlagtext verspricht, stimmt und bewirkt einen Lesegenuss am Rande umtriebiger Alltagsgeschäfte.

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Karl Lubomirski, Palinuro
Hall: Berenkamp 2008. (Reihe Erlesen, Band 16)

„Im Bergwerk der Sprache“. Zum neuen Gedichtband von Karl Lubomirski.

Im Bergwerk der Sprache, so hat es einmal Werner Kraft benannt, arbeiten auch jene Dichter, die abseits vom literarischen Mainstream nach dem Dauerhaften, dem ‚Wesentlichen’ schürfen. Karl Lubomirski zählt seit Jahren für Kenner zu diesen stillen, beharrlichen Autoren, die wenig am Gebäude der Sprache selbst verändern, wenig für das formale Experiment übrig haben, die vielmehr mit vorhandenen Mitteln die Tiefe der Existenz – der subjektiven wie der ins allgemein Menschliche gesteigerten -  auszumessen trachten. Darin liegt nicht zuletzt ein traditioneller Kern des Poetischen, und so sind denn auch seine Lyrikpublikationen, inzwischen mehr als zehn Gedichtbände, in viele Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Polnische, Russische, Tschechische, Ukrainische, Bulgarische, Türkische, Hebräische, Georgische, Litauische, Aserbaidschanische, Chinesische, Arabische, Spanische.
Insbesondere zum Italienischen hat Karl Lubomirski allein durch seinen Wohnort Mailand eine besondere Beziehung, südliche  mediterrane Landschaften gehören zu den feststehenden Motiven seiner Dichtung. Außerdem wurde ihm zuletzt 2007 der „Premio Internazionale di Castrovillari“, der Literaturpreis von Kalabrien, für seinen Gedichtband „Gekenterte Zeit“ zuerkannt. Nun ist im Verlag Berenkamp ein weiterer Gedichtband mit dem Titel „Palinuro“ als Band 16 in der Reihe „Erlesen“ erschienen. Joseph P. Strelka hat ein Vorwort dazu verfasst, den Buchdeckel ziert ein Bild des sizilianischen Künstlers Salvatore Fiume. Palinuro ist nicht nur ein Küstenort im süditalienischen Cilento, hinter dem Titel „Palinuro“ steht auch Palinurus, jener Steuermann des Äneas auf seiner Irrfahrt von Troja nach Italien (so steht für alle im Band zu lesen, die in der antiken römischen Mythologie nicht so bewandert sind), der diese Überfahrt allerdings nicht überlebt hat. Aber Palinurus hat Äneas „die Richtung gewiesen für den Neubeginn“.  Diese Verbindung des Gegenwärtigen mit dem Älteren, das Schürfen nach den antiken Schichten und Ablagerungen in den Formen der Gegenwart ist typisch für den Lyriker Lubomirksi.  Mythen, Motive und Topoi der Antike begleiten und überspannen seine Lyrik wie ein Gestirn.
Lubomirski war bis vor kurzem in seinem bürgerlichen Beruf ein Reisender, ist - dies zeigt seine Prosa, in der er seine Reisen und Aufenthalte in fremden Regionen literarisch schildert und verarbeitet wie in „Gefangene des Himmels“ (Berenkamp 2006), „Bruder Orient“ (Berenkamp 2004) -  ‚Reisender’ in essentiellem Sinn, was nichts weniger bedeutet, als in Bewegung zu sein, ohne den Schwerpunkt zu verlieren, ohne aus dem Lot zu kommen. Sprache, das Gedicht, erweist sich so wie eine Rückbindung an einen Lebensgrund ohne Grenzziehungen zwischen dem Vertrauten und Fremden, wie ein Anker im existentiellen Dasein jenseits konkreter Örtlichkeiten.
Oder ganz und gar umgekehrt: Die Sprache, das Gedicht öffnet sich ganz und gar für das konkrete ‚Hier und Jetzt’, um zu positionieren, auf das Örtliche im Sinne des Wortes antworten zu können. Werner Kraft hat dies einmal so formuliert: „sie (die Gedichte) sind welthaft unterströmt“ (in: Werner Kraft: Österreichische Lyriker. Von Trakl zu Lubomirski. Aufsätze zur Literatur. Wien 1984). So gibt es auch im neuen Band eine Reihe von Gedichten mit direktem Ortsbezug wie z. Bsp. „Monterone“, „Castrovillari“, „Sevilla“, u. a.  Der Reiz dieser Texte liegt darin, dass sie die konkreten äußeren Orts- und Landschaftserfahrungen zu jenem innern Punkt hin entwickeln, „wo die Gefühle ankern, von wo das Leben aufbricht und wohin es zurückkehrt; das einzige wahre Leben jedes von uns, jenes der Bewußtseinsgrade.“ (Prof. Donatella Laudadio, aus der Laudatio von anlässlich des Literaturpreises von Kalabrien)     
Viele Gedichte Lubomirskis sind eigentlich Epigramme, die in knapper Fassung einen Sinn freilegen, gerade so, wie es darüber schon in einem Vers von Klopstock hieß: „[…] ist das Epigramm ein Pfeil / Trifft mit der Spitze […] Ist manchmal auch, (die Griechen liebten’s so); / Ein klein Gemäld, ein Strahl, gesandt, zum Brennen nicht, nur zum Erleuchten.“   
So wirken diese Gedichte als Sinngedichte, als erhellende Gedanken, die die Aufmerksamkeit lenken, mitunter aufrütteln, nachdenklich stimmen. So einfach und überraschend schlicht diese Lyrik immer wieder erscheint, Lubomirskis Gedichte versuchen dennoch nichts weniger als mit Worten die Koordinaten der Existenz, ihren ‚Urgrund’ ausfindig zu machen, sie bewegen sich daher auch in der Nähe zur Metaphysik, zu jenem nach Kant ‚unhintergehbaren Bedürfnis’ des Menschen. Lubomirkis Gedichte sind nicht zuletzt daher lesenswert, sind geeignet im Strom des Alltags, der Zeit, kleine Wegmarken des (Nach)Denkens zu setzen. 

Christine Riccabona

 

Castrovillari

Hier weh'n die Winde
von Meer zu Meer.
Die Saaten reifen früh,
Kapellen teilen sich mit Quellen
verborgene Heiligtümer.
Keine Kreuze,
keine Glockentürme
abgelegene Wege weisen zwischen Adlern in den Himmel.

Wo letzte Wölfe zieh'n,
wacht wie ein Hirt die helle Wolke
übers Gebirge,
bis der Mond
ihm einen Silbermantel umlegt.

Stille saugt den Felsen ihre Härte aus,
dämpft die Schritte,
legt der Zeit die Hand
auf die raue Schulter.

[aus: Palinuro. Hall: Berenkamp, 2009, S. 68.]

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Bertrand Huber, Klassentreffen 2009
Bozen: Edition Raetia 2009

Texte mit Gebrauchswert

Wie man mit Literatur jugendliche Leser erreichen, über den Weg der Sprache aktuelle und spannende Fragestellungen erörtern kann, zeigt vorliegendes Bändchen von Bertrand Huber, erschienen in der Edition Raetia.  Es ist nicht das erste Jugendstück, das Bertrand Huber, Gymnasiallehrer in Meran, verfasst hat. Dieses Theaterstück antwortet mit einer subtilen thematischen Bezugnahme auf das Andreas-Hofer-Jubiläumsjahr 1809/ 2009. Es ist von der Länge und Aufbau her bestens geeignet, von einer Schulklasse auch tatsächlich gespielt zu werden und es ist didaktisch geeignet, den Begriff des „Heldentums“ kritisch zu hinterfragen, mit Jugendlichen zu diskutieren und im „Auf-die-Bühne-bringen“ das Thema zu vertiefen.
Jede Zeit hat ihre Helden, aber was ist ein Held? Auf diese Frage haben wohl alle Zeiten ihre Antworten gefunden und man möchte fast sagen, es gibt so viele Helden wie Zeiten. Das Spannende dabei ist, dass sich in den Auffassungen darüber, was ein „Held“ ist, immer schon soziale Zugehörigkeit, Zeitgeist, gesellschaftliches Klima usw. gespiegelt hat. Man denke nur an „Heldenpropaganda“ während der Weltkriege oder später an die „Antihelden“ der 50er Jahren alá James Dean.
Helden der Berge, des Sports, der Wissenschaft, des Wirtschaftslebens – es geht meistens darum, etwas zu riskieren, die Grenzen des Menschseins ein wenig zu erweitern, nicht immer zum Besten der Menschheit. Was das Stück „Klassentreffen“ aber thematisiert, ist, dass es für ein gelingendes Leben geradezu notwendig ist, die Schattenseiten eines jeden „Heldentums“ zu erkennen, Vorbilder zu relativieren, um den eigenen Weg nicht zu verfehlen. Die Handlung des Stücks ist einfach: „Eine Maturaklasse trifft sich nach 25 Jahren zum ersten Klassentreffen. Anwesend ist auch der Deutschlehrer. Mit ihm ergibt sich eine Diskussion zum Thema Helden. Auslöser ist die Frage der letzten gemeinsamen Schularbeit vor der Maturaprüfung: Wer ist ein Held? Alle erinnern sich an ihre damaligen Helden, welche vom eigenen Ich bis zu den Eltern, von Mahatma Gandhi über Homo Faber bis Andreas Hofer reichten. Sie besprechen dabei, inwieweit die damaligen Helden tatsächlich die Lebensläufe der Einzelnen beeinflusst haben. Und überhaupt: Können die Helden von damals die Helden von heute sein?“ (Verlag)

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Walter Klier, Leutnant Pepi zieht in den Krieg. Roman
Innsbruck, Hohenems: Limbus 2008

Alte Familienbriefe sind wie Flaschenpost, die aus den Tiefen des Ozeans der Jahre an den Strand der Gegenwart gespült wurde. Die Faszination, die von alten aufbewahrten Briefen ausgeht, ist leicht erklärbar, leicht, weil sie jeder kennt: Es beginnt beim Papier, bei der Handschrift der Briefschreiber, bei den alten Schriftzeichen, den Briefmarken, den Poststempeln, kurzum: es weht uns die Aura der Vergangenheit an. Und vielleicht suggeriert der eigentlich juridische Begriff „Briefgeheimnis“, dass man einen verborgenen Blick sowohl auf die Verfasser wie auf die Empfänger erhascht. Da nisten Familiengeschichten, werden Ereignisse festgehalten, da wird ein Blick in Beziehungen gewährt, vom Wetter erzählt oder von politischen Umstürzen. Durch die Briefe hindurch lassen sich, wenn die schreibende Hand geschickt war, Spuren von gelebtem Leben ganz unmittelbar nachziehen, weil der Brief ein Medium der Mitteilung ist: Erzähltes aus erster Hand, unmittelbar, persönlich, selektiv und sehr oft auch schonungslos offen.
Vielleicht kommt von daher auch ein Interesse an fremden Briefen, die nicht selten in sorgfältig edierten Briefausgaben zu lesen und zu haben sind, wie etwa beispielsweise Franz Marcs „Briefe aus dem Feld“.
Ist es nicht so, dass man meint, den Atem der Zeit in solchen Briefbänden zu spüren, den Wind der Geschichte? Das Interessante an Briefen ist doch, dass man in dem, was privat mitgeteilt wird, die Signatur des großen Weltganzen im Leben des Einzelmenschen wiederfindet, auch wenn nur von Alltäglichem die Rede ist, von Tagesgeschäften, Krankheiten, Brotpreisen, neuer Mode oder von politischen Dingen – das Geschriebene wirkt authentisch. Die privaten großen und kleinen Tragödien sind aber selbstredend in den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang hinein gebunden. Und gerade dieser ist es, der in Briefen so unverstellt sichtbar wird, weil er völlig ohne Absicht und meist unbewusst einfach mitgeliefert wird. Nicht zuletzt deshalb sind Briefe wertvolle Quellen für die Geschichtswissenschaft und sie sind geeignet, die aus dem subjektiven Blickwinkel erlebte Geschichte für andere, für die Leser objektivierbar, nachvollziehbar und aneigenbar zu machen (so auch zur kollektiven Erinnerung beitragen) und zwar durch die „Vorführung eines tatsächlichen Lebens, bei der die Entstellung durch ästhetische oder gar moralische Sinnprogramme vermieden ist“ (Johnson).
Das wusste Walter Klier, als er aus den Briefen und Aufzeichnungen seines Großvaters und den Tagebüchern seines Urgroßvaters seinen jüngsten Roman verfertigte, dem er obiges Briefzitat Uwe Johnsons an Walter Kempowski als Motto  voranstellte.  Allein der Titel „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ wirft schon ein Blitzlicht seiner Zeit auf uns, denn in unserer unheilvollen Gegenwart samt Krieg, Terror, Flüchtlingsströmen und Migrationen würde wohl niemand mehr sagen: er „ziehe in den Krieg“. Aus dieser historischen Distanz bezieht das Buch auch seine Charakteristik: zwischen Dokumentation, Collage, Fragment und Kommentar entwirft es ein Panorama der Jahre vor und während des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive des Josef Prochaska, alias Leutnant Pepi, seines Vaters Heinrich und mitunter auch seines Enkels Walter Klier.
Klier öffnet also die verschnürten Briefpakete und Tagebücher, breitet aus, ergänzt das Geschriebene mit Zitaten aus Zeitungen und Büchern, fügt Tagebuchstellen und Briefe aneinander, schiebt die Teile ineinander – das Ganze als „Roman“ ist ein nicht immer leicht verdauliches Amalgam, aber wie immer mehr als die Summe seiner Teile.
Der erste Teil handelt von „Familiensachen“, beinhaltet u. a. auch Geschichten und Aufzeichnungen, die der Briefschreiber in den Jugendjahren vor dem Ersten Weltkrieg niederschrieb. Der zweite Teil ist der Hauptteil, bestehend aus den meisten Briefen und Tagebüchern der Kriegsjahre 1914-1918. Darin stehen Einzelheiten zum Kriegsgeschehen und zu Frontverläufen neben Informationen über tägliches Befinden und Bedürfnisse. Dieses scheinbar „arglose“ Nebeneinander ist für „Feldpost“  geradezu typisch, auch wenn es da bei aller Tragik des Weltkriegs manchmal auch skurril wird, wie etwa die Postkarte vom 2. 3. 1915 berichtet: „Lieber Papa! Heute in Rußland eingezogen. Die schöne Wallfahrtskirche gesehen. Schöne Aufnahmen gemacht. Sehr kalt und Schneesturm.(…)“ (S. 215)  Der dritte Teil besteht aus „Nachlässen“ und „Nachsätzen“. Es ist ein Nachspann, in dem Klier den Weitergang der Personen und Geschichten erzählt, zum Beispiel eine Liebesgeschichte von Anna und Pepi, in dem er auch ein wenig von seinen Recherchen zum Buch berichtet.
Der Klappentext stellt Klier in den Sog Walter Kempowski, mag sein, dass es Affinitäten gibt, mag auch sein, dass Walter Kliers Roman diesem Vergleich nicht stand hält, weil die Proportionen nicht stimmen, Kempowskis „Echolot“ ist schließlich ein Lebenswerk, das aus vier Bänden besteht. Dabei käme Kliers Buch auch ohne Vergleiche aus. Es ist ein durchaus gelungenes Romanprojekt, in dem sich der Autor als Erzähler zurückgenommen und als Konstrukteur im Hintergrund aus den Materialien seines Familienarchivs ein lesenswertes, interessantes, auch informatives Buch gemacht hat.

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Quart. Heft für Kultur Nr. 12
 
Hg.: Kulturabteilung des Landes Tirol. Redaktion: Heidi Hackl, Andreas Schett
Innsbruck: Haymon, 2008

Quart Nummer 12 ist erschienen. Kenner wissen, dass man eigentlich die besondere Qualität und Bedeutung der Grafik von Quart nicht mehr eigens hervorheben und betonen muss, denn das Konzept der Kultur- und Kunstzeitschrift sieht es vor, dass die Gestaltung nicht bloß augenfälliges Beiwerk des Inhalts ist, sondern bewusst wahrgenommen werden will. Dazu gehört interessanterweise auch ein völlig anderer Umgang mit den für Zeitschriften gängigen Werbeeinschaltungen. In Quart erhalten sie großformatiges Gewicht und eine Nähe zu Kunst-Photografie, als solche nämlich können diese Einschaltungen bei näherem Hinsehen ohne weiteres auch betrachtet werden. Ganz besonders augenfällig ist in diesem Heft beispielsweise der Gewölbekeller der Weinkellerei St. Michael in Eppan, durch die Halotech Lichtfabrik ins Bild gesetzt - Werbung zwar, aber ein ästhetischer, kunstvoller Blickfang allemal. Aber auch das schon gewohnte, immer noch anregende Seitenspiel, das den Fließtext auf der rechten Seite hält und die linke Seite für den assoziativen Denkspielraum offen lässt, ist ein wichtiges Element, das diese Zeitschrift zu einem außergewöhnlichen ästhetischen wie intellektuellen Lesevergnügen macht.
Also der Reihe nach von vorne: Wie immer beginnt die Gestaltung des Hefts beim Cover. Es setzt diesmal auf die Wirkung der Farben gelb, blau, und rot und stammt von keinem Geringeren als Daniel Buren, einem international bekannten französischen Konzeptkünstler, dessen monochrome Farbstreifen Kennzeichen seiner Kunst geworden sind. Über den Künstler, der in den sechziger Jahren mit seinen Installationen im öffentlichen Raum bzw. auf Gebäuden  für Furore gesorgt hat, ist ein informativer Essay von Walter Grond zu lesen. Vertikale Streifen in Grundfarben ist der Stoff seiner Kunst, mehr noch: Für ihn ist Farbe allein schon Träger sprachlicher gedanklicher Bedeutung. Die Signatur der Farbstreifen kennzeichnet sein Werk: „Streifen, mit denen er interveniert, auf dass der Blick sich öffne für den Ort und seinen Kontext“, schreibt Walter Grond.
Schauspieler und Theatermacher („Das monolithische Theater“ in Wien) Philipp Mosetter schreibt über „Das Risiko, verstanden zu werden“, einen höchst lesenswerten und amüsanten Text über Kommunikation, das Verstehen und Verhältnis zwischen Mann und Frau im weitesten Sinn.
Dann folgt eine wunderbare Fotogalerie aus dem Museum der Tiroler Bauernhöfe zur „Phänomenologie  der Eckbank“. Der dazugehörige Kommentar bringt die - aktuell betrachtet – bereits wieder innovative Eigenart und innenarchitektonische Sprache dieser kargen hölzernen Stubeneinrichtung Tiroler Bauernhöfe der Vergangenheit zur Sprache. Und zwar nicht etwa aus der Perspektive von Volkskunde oder Kulturgeschichte, sondern schlicht und praktisch aus der Sicht der zeitgenössischen Wiener Designerschmiede EOOS.
Ulrich Ladurner zeichnet ein Städtebild von Meran. Schon N. C. Kaser schrieb in seinem „stadtstich“ über Meran: „Du hast alles liebes meran wonach Dir der sinn stand & steht besungen von großen und kleinen poeten“. Die Spuren Merans in den Werken und Briefen vieler weltbekannter Künstler machen es möglich, Meran auch als Traumstadt zu vermarkten. Der Text allerdings greift jenseits touristischer Images tief in die Untiefen der NS-Vergangenheit der einstigen glamourösen Kurstadt, die günstig auf der „Rattenlinie“ lag - Meran also auch ein Durchgangsort. „Er bot Schutz und öffnete ein Tor ins Freie. Meran war ein Traum, auch für Verbrecher.“ Ulrich Ladurner berichtet Fakten zu den Aufenthalten von Nazis, erzählt aus historischer Perspektive etwa über das Verhältnis des argentinischen Präsidenten Peron zu Meran, das hauptsächlich mit seiner Liebe zum Pferderennen zu tun hatte.
Mario Capecchi hat letztes Jahr den Nobelpreis für Medizin erhalten, sein Forschungsgebiet ist Humangenetik. Capecchi  hat eine besondere Herkunftsgeschichte, die u. a. auch nach Südtirol führt. 1946 kam er mit seiner Mutter in die USA, heute lebt der weltberühmte Wissenschafter mit italienischen Wurzeln in Utah. Über ihn und über seine Forschungsarbeit ist Interessantes in Johanna Bodenstabs Schilderung einer Begegnung zu erfahren. Sie hat den Nobelpreisträger in seinem Institut für Humangenetik an der Universität of Utah interviewt.
Ansichten von Tirol, aufgenommen mit einer Lochkamera, verfremden maximal den gewohnten Blick. Gegen gewohnt gestochen scharfe Fotografien führt die Lochkamera, mit der Jörg Zielinski die Bilder für Quart aufnahm, die pure Zeit ins Treffen, die gedehnten Augenblicke, die - durch die Linse aufs Papier gebannt - jede Bewegung als Flimmern und Flirren des Lichts und der Farben einfängt. Ein interessantes Seherlebnis.
„Diesmal: Stress“ beschreibt ein Phänomen unserer Zeit. Es gibt vier einseitige Beiträge zu lesen, eine Erhebung sozusagen. Die Zeitschriftenmacher nennen die Serie „Gutachten“, zu verstehen als Mitteilungen zu zeittypischen Themen. Stress: darin ortet Gertrud Spat beispielsweise ein allerorts präsentes neudeutsches Wort mit zu unrecht nur negativer Konnotation, denn schließlich bedeutete es genau genommen auch Kraft, Nachdruck und Betonung. Drei weitere Beiträge von Ulrich Ott, Oliver Welter und Andreas Kriwak laden ein, sich über das Thema Gedanken zu machen.
Musik und Literatur kommen in den beiden Beiträgen von Wendelin Schmidt-Dengler und Franz Gratl zur Geltung. Schmidt-Dengler schreibt über die „Bibel in gerechter Sprache“ eine ausführliche und kritische Besprechung. Dieses Großprojekt einer neuen Übersetzung und Adaption der alten Bibelsprache ist 2006 erschienen, hat mehr als 20 Personen beschäftigt und ist nicht ganz unumstritten. Franz Gratl schreibt über einen vergessenen, vielleicht gar nie so bekannt gewordenen Gefährten Schuberts: den Dichter Johann Chrysostomus Senn. Er stammt aus dem Tiroler Oberinntal und hat mehr schlechte als lesbare Gedichte geschrieben, einige davon hat Schubert vertont. Senn dürfte ein recht aufrührerischer Hitzkopf gewesen sein, eine spannende Lebensgeschichte hat er jedenfalls, die Franz Gratl schildert und anhand der er ein kleines kulturhistorisches Porträt rund um diese Verbindung zu Schubert schreibt. In Tirol, wohin er nach Misserfolgen und gescheiterten Versuchen zurückkehrte, wurde Senn nicht glücklich, in der Musik Schuberts hört man dies heraus.
Thomas Ballhausens Text für die Serie „Landvermessung“ führt vom Hochjoch bis zum Reschensee und ist doch eigentlich vielmehr der literarische Nachvollzug eines Geschehens, einer innere Reise, vielleicht eines Abschieds, eines Geheimnisses oder einer Spurensuche?
Von Gottfried Rainer stammt ein berührend lebensnaher Bericht über die Rot-Kreuz-Fahrten mit Krebspatienten aus Osttirol zur Strahlenthearpie nach Klagenfurt.
Schließlich gibt es auch wieder eine „Originalbeilage“. Sie stammt vom Innsbrucker Künstler Peter Kogler und ist ein in dicken Karton geprägtes Ornament.
So etwa sind die Eindrücke der neuen Quart im Schnelldurchlauf, dabei fordert die Zeitschrift geradezu auf, sich Zeit zu nehmen, das Lesen und Sehen zu genießen, allemal dem Weiterdenken Raum zu geben. Die erzählerische Vielfalt der Beiträge und das breite Spektrum der Themen sind inspirierend. Einmal mehr hat die Redaktion bewiesen, dass sie es versteht, dem Anspruch entsprechend eine Kulturzeitschrift zu machen, die „einen eigenwilligen, aus dem Regionalen entwickelten, auf internationalem Niveau ausformulierten Kulturbegriff pflegt“.

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Thomas Schafferer, suedesland. 129 griechische Impressionen
Neckenmarkt: edition nove, 2007


Thomas Schafferer, der kreativ die verschiedenen Medien wie Photografie, Malerei Graphik, Video und Literatur ausprobiert und mitunter auch miteinander verbindet, hat mit „suedesland“ einen Band mit Reisegedichten vorgelegt. 129 Impressionen von griechischen Inseln sind in vier Kapiteln versammelt und wer sich je von den Farben, den Gerüchen und Gegenden der unterschiedlichen Landstriche, vom Klima und vom (mitgebrachten) Lebensgefühl der Inseln faszinieren ließ, wird seine Freude an diesen Gedichten haben.

Mit dem Süden ist es so eine Sache, nur ganz individuell lässt sich sagen, was für jemand damit in Verbindung steht. Für Grönländer, die in den Sommerhäusern Jütlands die Ferien verbringen, ist schon Dänemark der ‚Süden’, für Sizilianer hingegen sind schon wir hier in Innsbruck im ziemlich hohen Norden angesiedelt, mit Geografie also ist der Süden kaum wirklich zu verorten. Die Magie des Wortes ‚Süden’ rührt vielmehr von woanders her, löst so manches Sehnsuchtsbild aus, belebt so manche Stimmungslage und ist Projektionsfläche für Imagination. Iso Camartin schreibt in Jeder braucht seinen Süden: „Als Befindlichkeitskategorie bedeutet Süden – jedenfalls in unserem europäischen Realitätsverständnis – etwas beinahe Absolutes. Dieser Süden hat wenig mit Längen- und Breitengraden zu tun. Er ist nur mit Licht- und Wärmegraden der Seele zu ermessen. Seine Dimensionen haben einen Maßstab: den der Begierde nach dem Hellen und nach dem Weiten.“ (Jeder braucht seinen Süden. Suhrkamp 2003)

Die Gedichte in „suedesland“ folgen diesem inneren Kompass, schreiben nach den Wärmegraden der Seele. Sie sind keine Postkarten-Impressionen, dazu fehlt ihnen das oberflächlich Geglättete, die bewusste ästhetische Stilisierung. Vielmehr blättern die Gedichte in Gedanken- und Augenblicksprotokollen, die sich als Erinnerungen an die Inselaufenthalte aneinander gereiht haben, sie ähneln manchmal einfachen Notizen, wie sie am Wegesrand en passant aufgeschrieben werden, um Beobachtungen am Strand, in Cafes, Bars, in Gärten und an Straßen festzuhalten.

Aber immer verfangen sich in diesen Texten die ganz persönlich erlebten Stimmungen zwischen den Beschreibungen der Kargheit, der Hitze, der Meeresfarben und Windströmungen. Das macht aus diesen „Impressionen“ wirkliche Gedichte, dass diese Sätze über Licht und Wetter, diese Wortkaskaden über das äußerlich Wahrgenommene in Beschreibungen des Glücks, der Liebe, der melancholischen Ernüchterung und der Traurigkeiten münden. So kann sich wer will von diesen Gedichten forttragen lassen in den eigenen Süden.

Dem Gedichtband sind ein chronologisches Verzeichnis der genauen topografischen Entstehungsorte sowie ein sehr lesenswertes Vorwort von Kerstin I. Mayr beigegeben.

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Sepp Mall, Wo ist dein Haus. Gedichte
Innsbruck: Haymon, 2007

Die Gedichte von Sepp Mall haben einen bemerkenswerten Entschleunigungsfaktor: Man liest und wird immer langsamer dabei, fängt wortgenau zu sehen an, folgt dem Satz- und Bildsinn, taucht ein in das Spiel der Assoziationen und lässt mehr und mehr den Gedankenfluss in den Zeilenlauf der Gedichte münden. So gesehen bleibt das Erörtern und Reden über die Gedichte hinter dem Ertrag der konzentrierten Lektüre zurück. Allerdings: „Der Interpret, die Interpretin muss reden“, hat Wulf Segebrecht einmal ganz einfach gesagt, „keine Machtworte über den Sinn des Gedichts, keine Ergriffenheitsbekundungen, sondern zustimmungsfähige, jedenfalls nachvollziehbare Beobachtungen.“ Nun denn.
Sepp Malls dritter Gedichtband „Wo ist dein Haus“ trägt den Stoff jener Welt, in der der Autor seit jeher lebt: ein unauffälliges, von Geschichten, Erinnerungen und Landschaftsmotiven durchwirktes Gewebe, das auch unter dem Gewicht großer Themen nicht zerreißt.
„Wo ist dein Haus“ besteht aus sechs Zyklen, die jeweils sieben bis elf Gedichte umfassen. Die Titel der Zyklen wirken als thematische Mittelachsen, die Sinnfelder und Deutungsspielräume eröffnen. Jedes einzelne Gedicht erhält durch diese Einbindung zusätzliche Bedeutungsaspekte als Teil des Ganzen.
„Stand der Dinge“, Gedicht und Titel des ersten Zyklus’, führt in ein bewohntes Zuhause. „Noch / bleib ich hier“, lautet die erste Zeile, mit der ein ‚Ich’ den Raum des Gedichts betritt – eine Zeile, die unausgesprochen die Frage ‚wie lange’ und ebenso den Gedanken an ein ‚Fortgehen’ andeutet. Dieses ‚Ich’ aber schreitet aus und nimmt Maß an den Räumen des Erinnerns, die „im Atlas der verlorenen Orte“ verzeichnet sind. Die Gedichte folgen den Spuren des Vergangenen in die kleinsten erfahrbaren Gehäuse der Kindheit, in die Landschaften ländlicher ‚microcosmi’, die einst mit Kinderschuhen durchmessen wurden. Dort sind die individuellen Topografien des Beheimatet-Seins zu verorten. „Sieh dich um // : dies ist alles / was dir //gehört“, heißt es in einem der Gedichte.
Der zweite Zyklus „Lichtwechsel“ steht im Zeichen des Veränderns. Im Gedicht „Winterwende“ wechselt das Licht, betritt ein ‚Du’ den Raum der Sprache, der „Stand der Dinge“ ändert sich, die Jahre liegen im „Dunkel der Gärten“, und es gilt „ : Lauter Fremdheit (plötzlich) // zu lernen“. Es sind die kleinen unscheinbaren Details, die der Autor so aneinanderfügt und unauffällig in Beziehung bringt, dass sie zu allegorischen Bildern für Stimmungen und Befindlichkeiten werden, die mit Begriffen nur äußerlich benennbar sind. ‚Sehnsucht’ beispielsweise bringt das Gedicht „Rekonvaleszenz“ so zum Ausdruck: Die ersten fünf Zeilen skizzieren mit zwei, drei Wortlinien ein als ‚ferne’ empfundenes Landschaftsbild im Frühjahr („Osterhasengrün“). Dann folgt der Fokus auf das Ich und seinen inneren Grund („Ich warte auf Berührungen“). Mit sparsam gesetzten Details macht der Autor dann einen Assoziationsraum auf, der dieses ‚Warten’ (den inneren Grund), mit dem fernen Frühlingsbild des Anfangs in Verbindung bringt und es subtil als Sehnsucht nach einem Du spürbar werden lässt. Die letzte Zeile schließt dann den Bogen wieder zum Landschaftsmotiv. Sie ergänzt das ‚ferne’ Bild mit einem zeitlichen ‚später’, das ein Gegenbild enthält. Es denkt das kühle frühe Grün der Felder und den ‚blassen Horizont’ des Gedichtanfangs weiter in ein „Später / in satten Sommerwiesen“.

Rekonvaleszenz

Dann im Osterhasengrün
Über die Felder / am Blickrand
Wo eine blasser Horizont bleibt: aus-
gefranste Zirren über Bergketten
ferne

Ich warte auf Berührungen
Tische / über die
du deine Finger legst
oder Ameisen / die unter den Saum
der Hose kriechen

Später / in satten Sommerwiesen.

„Jahrestage“, der dritte Zyklus, markiert den Einbruch des Todes, das jähe Bewusstwerden der Vergänglichkeit, und da und dort drängt sich ein Abschiednehmen in die Gedichte. Und dennoch: Gerade dieser Zyklus enthält fünf „happy birthday“-Gedichte. In einem gibt es „einen Satz / den man // leichten Schrittes durch-// mißt // Vor uns / liegt dieses Jahr // (-tausend) // : als wärs ein Haus // in der Nacht.“ Nirgends stärker als in den Texten dieses Zyklus’ ist man von Malls Kunst berührt, das Schwere nahezu unerträglich leicht zu schultern.
Dann erzählen die Gedichte auch vom Lauf der Zeit, vom Wechsel der Jahreszeiten, beispielsweise vom Beginn des Winters, wenn es da heißt: „Und wenn der Herbst sein Kapitel / schloß (von einem Tag auf den andern) / blättern wir einfach um (wie wirs gelernt) / auf eine schneeweiße Seite / voller Hasenspuren / vorsichtiger Tritte / ins Licht“. Das Gedicht gehört zum vierten Zyklus „Frühe Spiele“, der das Thema des Vergangenen, seines Herüberleuchtens und Hineinwirkens in die Gegenwart variiert. Die Gedichte erzählen von Kindheitswintertagen, von Freundschaft und Nähe, von dem, was bleibt als Abdrücke in der Zeit.
Die Gedichte des fünften Zyklus’ „Wo ist dein Haus“ sind Standortbestimmung und verdichten das Unmaß der ausgesetzten, bedrohten Existenz, die Kälte menschlicher Gegenwart, etwa wenn die Rede ist von „vollen Booten“, oder von dem, was „von Amts wegen“ geschieht. Hier kommt die unaufdringliche, dennoch intensive Präsenz eines lyrischen Tons zur Geltung, der Anklage gegen Unrecht erhebt, der aber später dennoch auch die menschliche Geste nicht unterschlägt: „Und etwas / gibt es // das bleibt // in dieser offenen Landschaft // (..) „Geöffnete Gatter / gehalten // von freundlicher Hand“.
„Auf leeren Feldern“, der letzte Zyklus, handelt vom Verlorenen, von den notwendigen unvermeidlichen Verlusten, der „Sollbruchstelle des Herzens“. Das Vergangene bleibt als Erbe, wie die Heimaterde an den Schuhen mitreist von Bahnsteig zu Bahnsteig.
Landschaften sind allgegenwärtig in Malls Gedichten. „Von hier nach dort“ zeichnet die verschiedenen Tempi des Unterwegsseins in diesen Landschaften nach, hält das Fortkommen der Schnecke und die Geschwindigkeit der Motorräder gegeneinander – als zwei unvereinbare Zeitmaße des dennoch und immer Gleichzeitigen. Herbst- und Winterbilder grundieren atmosphärisch die meisten Gedichte: das Vergehen der Wärme, das Schwinden der Farben, eine Stimmung der Stille, und inmitten aller Erdendinge taucht immer wieder unvermittelt die Nähe zu einem ‚Du’ auf. In den Gedichten Sepp Malls sind Zeilen zu finden, die schon für sich allein wie Liebesgedichte klingen, gespielt auf der Klaviatur der Landschaft und der Farben der Natur, als könntest „du ermessen / was die Landschaft von uns weiß“.
Und am Ende des Bandes, im letzten Gedicht „Auf leeren Feldern“ – eines der schönsten Liebesgedichte, ist noch einmal die Rede vom Bleiben: Die Zeile des ersten Gedichts im Band „Noch / bleib ich hier“, die noch etwas Unentschiedenes, Ambivalentes ausdrückt, wendet sich im letzten Gedicht in das bestimmte „Und dann bleib ich doch“. Die Zeit scheint für Augenblicke still zu stehen: „Und nichts / ist verloren“.
In den Pausen der Wortzwischenräume ist das Schweigen enthalten. Doppelpunkt und Schrägstrich lenken den Satz- und Lesefluss, in diesen kleinen Brüchen und Signalen liegt der Atemraum zum Innehalten. Diese bewusst gesetzten Leerstellen holen die unausgesprochene Seite der Wörter herein, öffnen die Gedichte hin zum Ausgesparten, Verschwiegenen und spielen mit dem Reiz des Fragmentarischen. Sie entlassen die Leser in die Spur des Geheimnisses und in den poetischen Sinn dieser Gedichte.

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Gert Ammann, Luis Stefan Stecher - Der Malerpoet 
Wien, Bozen: Folio, 2007


„Die Erfahrung, daß wir uns von einem bestimmten Etwas oder Nichts kein Bild machen können oder daß wir für ein Etwas oder Nichts keine Worte finden, ist für mich eine der Voraussetzungen für Poesie, für Kunst überhaupt.“ (Luis Stefan Stecher, in: Der Malerpoet, S. 25.)

Eine sorgfältig gestaltete Bildmonografie, soeben im Folioverlag erschienen, ist dem Südtiroler Autor und Künstler Luis Stefan Stecher gewidmet, der heuer seinen 70. Geburtstag gefeiert hat.
Der einführende Essay von Gert Ammann porträtiert den Künstler aus der Perspektive desjenigen, der den Künstler bereits über die Jahrzehnte hinweg wahrnimmt. Dabei führt Ammann den Leser und Betrachter an Luis Stefan Stecher über dessen Lebens- und Wirkungsraum heran. Er beschreibt zunächst das unvergleichliche Ambiente des Manhardhofes, eines Anwesens aus dem 15. Jahrhundert in Marling bei Meran, beschreibt das faszinierende Wechselspiel des bewusst stilisierten, auf historischem Boden entstandenen ‚Drinnen’ dieser Künstlerklause und dem sich selbst überlassenen ‚Draußen’ der Natur, um darin in wenigen Sätzen Stecher gleichermaßen zu positionieren wie zu portraitieren. Mit diesen Impressionen gelingt es Ammann, den Toscanello rauchenden Künstler als stille Hauptperson in diesem malerischen Kosmos zur Geltung kommen zu lassen. Erst dann erzählt Ammann die Herkunftsgeschichte und den Werdegang des Künstlers, erst dann folgen detailgenaue Studien zu einzelnen Gemälden und Projekten, die Gert Ammann in die Lebensgeschichte des Künstlers wie Mosaiksteine hineinlegt. Solchermaßen perspektivisch ausgerichtet blättert man in diesem Band mit Bildern im Kopf und denkt dabei die Umgebung Südtirols mit, wo sich Stecher, gebürtiger ‚Vinschger’, seit den späten fünfziger Jahren mit seiner Familie niedergelassen hat. Man denkt aber auch an das Wien der Nachkriegsjahre, wo Stecher an der Akademie der bildenden Künste im Umfeld der damaligen Aufbruchstimmung studiert hat. Man ist hingewiesen auf das Befasstsein und die Offenheit für religiöse Themen – Stecher hat mehrere sakrale Räume wie auch öffentliche Bauten künstlerisch ausgestaltet, – man bemerkt die für viele seiner Bilder typische Mischung aus Realismus und Surrealismus, die ihn oberflächlich gesehen in die Nähe der ‚Phantastischen Realisten’ bringt, aber auch seinen renaissanceartigen Malstil bei vielen Portraits, oder meint gar ein wenig Nähe zu Caspar David Friedrich bei dem einen oder andern Landschaftsbild feststellen zu können. Die Stilvielfalt des „Malerpoeten“ Luis Stefan Stecher ist bemerkenswert, und dem noch nicht genug: Neben dem malerischen Werk steht auch das eines Wortkünstlers. In den siebziger Jahren ist Stecher mit seinen „Korrnrliadr“ bekannt geworden, seinen Gedichten im Vintschger Dialekt, später ist er mit Gedichten und Aphorismen zum Thema Nähe und Ferne hervorgetreten, auch mit „Ateliergedichten“, in denen er unter anderem das Verhältnis Bild und Sprache auslotet, schließlich mit einem Kinderbuch (für seine Enkel).
Ein genussvolles Lesen, Schauen und Blättern in diesem Bildband, ein dem ‚Augensinn-folgen’ lässt hinter dem Werk einen aufmerksam Suchenden erkennen, einen wachen Denker, der Möglichkeiten und Wirklichkeiten – auch sprachlich – auf den Grund geht. Auf Wirklichkeiten muss man sich ganz einlassen, da gibt es keine halbnahen Distanzen: Einer seiner Aphorismen lautet: „Die Halbnähen sind das Augenmaß der Halbherzigen. Mit den Halbnähen verhält es sich wie mit den Halbwahrheiten. Zwei Halbwahrheiten zusammengezählt ergeben noch keine Wahrheit.“ (Annähernd fern, 2005, S. 108)
Besondere (Geburtstags)Beigabe zum Bildband ist ein Heft mit einem Titelbild der Künstlerin Karin Welponer. Es enthält Luis Stefan Stecher gewidmete Beiträge, Glossen, Briefe, kurze Essays von einigen seiner Weggefährten und Freunden: Gert Müller, Hans Wielander, Herbert Rosendorfer, Joseph Zoderer, Reinhold Messner, Gerhard Ruiss, Marjan Cescutti u. a. – zu lesen nicht nur als Reminiszenzen an gemeinsam Erlebtes, sondern auch als kulturgeschichtliche Zeitsplitter, als Momentaufnahmen einer der interessantsten Künstlerpersönlichkeiten Südtirols.

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Josef Oberhollenzer, Großmuttermorgenland
 
Eine Erzählung aus den Bergen
Wien: Folio, 2007

Josef Oberhollenzer lässt sich mit dem Veröffentlichen seiner Texte Zeit. Im Abstand von mehreren Jahren sind zwei Bände erschienen: 1994 sein Gedichtband „in der tasse gegenüber“, 1999 eine Sammlung von Kürzestgeschichten „Was auf der erd da ist – vom scheitern & gelingen, vom vergessen & erinnern“. Dieser Band enthält sozusagen den Keimling der nun bei Folio erschienenen ersten längeren Erzählung mit dem wunderbaren Titel „Großmuttermorgenland“. Es ist eine Kindheitsgeschichte, eine Erzählung über die Liebe der Großmutter, die Liebe überhaupt, über die Sehnsucht, über das Daheimsein, auch über das Scheitern im Glück.
Josef Oberhollenzer ist kein Vielschreiber, seine Texte sind vielmehr mit großer Meisterschaft in Lakonie und Reduktion geschrieben. Er habe den langen epischen Atem nicht, hat Oberhollenzer einmal von sich selber gesagt.
Dass er mehr in der Lyrik daheim ist, in einer Lyrik, die vor allem eine große Nähe zur Musikalität hat, macht den Reiz seiner Prosa geradezu aus, am Rande sei bemerkt, dass der Autor selber Musiker ist.
In „Großmuttermorgenland“ gibt es keine überflüssigen Wortlasten, vielmehr sorgt ein schlank gehaltener Erzähltext für einen flüssigen Rhythmus. Dieser verleiht der Sprache eine Leichtigkeit, die in einer extrem produktiven Spannung zum Inhalt steht, denn wie nebenbei handelt dieser Text auch von den Schrecken des Gewohnten und Altbekannten. Durch konsequentes Zurücknehmen der epischen Fülle lässt Oberhollenzer konzentrierte Destillate der Wirklichkeit entstehen. Dass diese Wirklichkeit eine jenseits falscher Idyllen ist, versteht sich von selbst. Die Kindheitswelt nämlich, von der die Erzählung handelt, ist gefüllt mit Schweineschlachten, Erdäpfelklauben, Gewalt, Tod und Weihwasser, mit engen Schlafkammern, harten Wintern und mit dem hereinbrechenden Tourismus. Es ist eine Welt, in der es hieß, zuviel denken mache krank (S.13) und in der das Fragen der Anfang vom Schmerz war (S.28).
Ein skeptischer unsentimentaler Realismus ist in dem, was vor den Lesern ausgebreitet wird, aber keineswegs ein kalter Blick und nicht die geringste Spur von Zynismus. Es geht dem Autor auch gar nicht so sehr um das äußerliche Beschreiben und Erzählen einer Kindheit in den Bergen, sondern vielmehr um das Hindurcharbeiten bis zum inneren Kern der Geschichte.
Dieser Kern ist schon im Titel „Großmuttermorgenland“ enthalten: Die Erzählung ist auch eine Hommage an die Großmutter, die ohne Sentimentalität, mit augenzwinkerndem Humor, leiser Ironie und all der Zuneigung nachzeichnet, was sich in das Herz und Hirn des Kindes, des neunjährigen Buben, eingeprägt hat. Die Großmutter verkörpert den Sehnsuchtsraum hinter den Bergen, das Morgenland, auch das Gegenteil zur Welt des Vaters – Großmuttermorgenland ist ein Land der Verheißung, wo die Sehnsucht heimkehrt. „Hinter den Bergen ist die Erde rund“, sagt die Großmutter allmorgendlich, und damit der Bub mit seinen Händen und Augen nachforschen kann, schenkt sie ihm den Großen Weltatlas.
Es ist die Stimme der Großmutter, die in allen Sätzen über diese Kindheitsheimat anwesend ist. „Großmuttermorgenland“ ist also auch ein Buch über ‚Heimat’, oder vielmehr über das Gefühl für Heimat in jenem Sinne Ernst Blochs, der einmal gesagt hat: „Heimat ist das was jedem in die Kindheit scheint und worin noch nie jemand war.“
Josef Oberhollenzer führt die vielen Erinnerungsfäden in die Herkunftswelt seiner Figur wie Schleifen allmählich zu einem ganzen Bild zusammen. Die Erzählung erinnert an eine Novelle, indem sie das Geschehen wie an einem Ariadnefaden aus einem zugrunde liegenden Ereignis heraus entwickelt – einem Ereignis, von dem erst am Ende der Erzählung zu erfahren sein wird, und das dann noch einmal die ganze Geschichte rückblickend in ein anderes Licht taucht. Was da geschehen ist, was diese Erinnerungsrede herauslockt, hervor treibt, bleibt bis zuletzt im Hintergrund, aber es hat die Kraft, die Figur ganz in die Tiefe hinein, ins Innere ihrer Familiengeschichte zu führen. Ihr Erinnern ist wie sein Unterwegssein auf den Bergen: „gehend in sein kindsein hinein.“
Die Erzählung ist aus der Geste eines tiefen Hineinhorchens in die Figur geschrieben, in ihre Monologe, ihr Erinnern, in dem das Kindsein zwar zeitlich fern, aber doch zum Greifen nahe liegt.
Der Autor allerdings hält uns auf Distanz, ganz lässt er uns nicht heran an seine Figur, die sich unmerklich entzogen hat und deren Erzählen durch eine/n, der/die ihm zuhört, vermittelt wird. Wir Leser bleiben draußen im äußern Kreis und es ist, als würden wir einen ‚Bericht des Berichts’ lesen. Diese indirekte Rede bewirkt eine sekundenfeine Zeitverschiebung. Sie öffnet einen winzigen Spalt zwischen Erzähltem und Erzähler, in dem die Ahnung von Schmerz und Verletzung Raum findet. Vor allem aber wird durch die indirekt gebrochene Erzählform die Fragilität jedes Zurückdenkens vermittelt: „Alles, was er erzähle, habe kaum den geruch des tales, dieser einkerbung, tief, dieser klaffenden wunde in der welt. Von was er berichtet, sei so nicht wahr, sei nur wie die schrift auf dem löschblatt, verschwommen, verzerrt.“
Das Erzählen wird solange von einem fernen leisen Erinnerungston begleitet, bis die Figur im zweiten Abschnitt unvermittelt „ich“ zu sagen beginnt und wir in der unmittelbaren Erzählsituation gelandet sind. Das Vergangene rückt plötzlich nahe heran und wir erhaschen einen Millimeter dieser Figur, schauen ihr direkt ins Auge, bis wir begreifen, dass hier einer sich selber seine Geschichte erzählt, um sich in ihr seiner Existenz zu vergewissern.
Oberhollenzer gelingt durch diesen Wechsel von der Unmittelbarkeit zur vermittelten Distanz eine brillante Bewegung in der Sprache. Durch nahe und ferne Bilder, durch leise und harte Töne arbeiten wir uns langsam herauf durch die Jahre bis zur Gegenwart, folgen den Erinnerungsspuren, die kreisförmig und spiralförmig angelegt sind und die Schicht um Schicht die Oberflächen der Außenwelt abtragen, bis man im Herz der Geschichte angekommen ist.

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Oswald Egger, nihilum album. Gedichte & Lieder
Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2007

Über den ver- / entrückten Ort der Poesie. Assoziative Bemerkungen zu den Vierzeilern von Oswald Egger

„Worte, wie Zinkblumen“- heißt es in dem 1997 in der Edition Solitude erschienenen Band „Juli, September, August“ von Oswald Egger. Zinkblumen, lateinisch „nihilum album“ („weißes Nichts“), entstehen beim Schmelzen von Zink und bilden dabei als Ablagerungen blumenartige lichtflüchtige Wollflöckchen. Darin liegt für Oswald Egger ein Denkbild für seine 3650 Vierzeiler „Lieder & Gedichte“, soeben bei Suhrkamp erschienen unter dem Titel „nihilum album“: Worte wie ein weißes Nichts, aber eben nicht ganz „Nichts“, sondern ein solches, das über sich hinaus wächst, über sich hinausweist und einen Raum jenseits des Gegenständlichen hin öffnet, Denk- und Sprechlinien der Ratio hinter sich zurück lässt.
Egger gilt seit Jahren als eigenwilliger und profilierter deutschsprachiger Autor, Wortakrobat und Wortklangkünstler, der an vielen Orten schon gelebt und geschrieben hat und derzeit auf der Raketenstation und Museumsinsel Hombroich weilt. Im letzten Jahr wurde Egger mit dem „Peter-Huchel-Preis“ für den Band „Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalendergedichte“ ausgezeichnet. In seinem jüngsten, bibliophil gestalteten Gedichtband versammelt Egger „Sing-Sprüche, zergliedert in grotesk tänzelnde Wortlaut-Arabesken und Klang-Girlanden Ton in Ton, die das Jahr – á jour – durchmustern und in einer Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten überspringen (so wie man Tempel hüpft).“ So ist zu lesen im Klappentext des Bandes. Stanzen, Priameln und Schnaderhüpfeln: Wer weiß schon noch, wie sie klingen, diese kurzen, volksliedhaften, gnomischen Dichtungen, die vor allem vom 12. bis ins 16. Jahrhundert verbreitet und beliebt waren. Etwa so: „Wer kann / Juwallari / nicht singen, / was wir erfinden?“ (S. 101) Wer schon könnte den 3650 Versen widerstehen, und wenn schon nicht singen, dann zumindest hören und hörend lesen, dem Buch ist - mit gutem Grund - eine CD mit Eggers Lesung einer kleinen Auswahl der Verse beigelegt.
„nihilum album“ klingt wie ein Begriff aus einem botanischen Lexikon, lässt an eine seltene historische Rose denken, an eine Pflanze, an zierliches Unkraut oder prächtige Blume. Das Sichtbare, Bildhafte der Worte allerdings bleibt zunächst ohne Wichtigkeit, geht es in den Vierzeilern des Bandes doch vor allem auch um den Klangkörper, den die teils eigenwilligen Sprachschöpfungen aus Worten, Morphemen und Silben entfalten. Tatsächlich schält sich aus den 3650 Vierzeilern des Bandes mit Gehörsinn gelesen ein Klanguniversum heraus, das wie mit dem Stethoskop die gerade nicht mehr oder gerade noch vernehmbare Geräuschwelt der Natur einzufangen trachtet - eine Klangwelt, die etwa dem Aufblühen der Gräser, dem Fallen eines Tropfens, dem Aufplustern des Gefieders eines Vogels u. a. abgehorcht zu sein scheint. Je länger, je öfter gelesen, desto mehr vernimmt das Gehör ein Raunen aus dem Hohlraum der Sprache selbst. Diese Ablagerungen in den Wörtern sind der Schlick, der die Sätze, die Vierzeiler zusammenfügt. Das mag vom Standpunkt des Dichters aus alchemische Arbeit sein, gelesen wirkt diese jedenfalls wie Sprach-Magie mit einer beträchtlichen Verzauberung. Egger dreht das Erdreich der Sprache um, legt das Wurzelwerk frei, durchpflügt den Boden nach Samen früherer Wortschichten. Er erfindet die Sprache so nicht neu, er findet aber Begriff- und Wortraritäten, die abgelegen, selten gebraucht, deren Bedeutung von kaum jemand gewusst wird: Silg, Stichelklee, Speltkorn, Granne, Krampen, Bachgabelalge, Trespen, Tschuppen, Borstenmoos usw. Der Dichter, der sein Netz in die Gewässer der Sprache auswirft, verbindet, was sich darin verfängt und versammelt, zu immer neuen Fügungen. So dürfen auch die zarten Grafiken, die lose zwischen die Verse gestreut sind und die an verfremdete, fremd gewordene Buchstaben erinnern, als immer neu ausgeworfene Runenstäbe interpretiert werden. So vermehren sich die Wörter, steigern und variieren ihren Klang und drehen sich aus den ihnen normalerweise zugewiesenen Bedeutungshalterungen, werden frei schwebend.
Es ist als ob der Dichter ganz selbstverständlich sich anschickte, „der Rede Herr: zu sein im Nichtstandard-Teil der Sprache“. (Oswald Egger: „Freien Fußes“. Beitrag bei den Wiener Vorlesungen zur Literatur 1996/97; erschienen in dem von Egger herausgegebenen Band „Rhythmus“. Der Prokurist, Nr. 19/20, 1998, S. 370). Dies heißt, für die Freiheit der Dichtung einzustehen. Denn „dichterische Freiheit“ wörtlich genommen zieht Abweichungen von gewöhnlichen Sprachregeln nach sich, die sich der Dichter, meist mit Rücksicht auf das Versmaß oder den Reim, in der Wortfügung und Wortbildung sowie im Gebrauch von Ausdrücken bisweilen erlaubt. Nicht nach Sinnstrukturen, aufgefädelt auf den gewohnten grammatikalischen und syntaktischen Leinen, ist zu suchen, und nicht nach Bildern und Geschichten gängiger Weltsichten, denn „die Wörter selbst (…) bilden so etwas wie einen Echoraum, sie kommen ab- und anklingend miteinander ins Gespräch, rufen sich wechselseitig auf. Zu verstehen sind hier einzig die lautlichen Wort-Wort-Beziehungen, wohingegen die Bedeutungsebenen des Textes, also der Wörter insgesamt und deren Satzzusammenhang unzugänglich bleibt“, so schreibt Felix Philipp Ingold über Eggers Dichtung in den „Manuskripten“ (Nr. 175, 2007, S. 163).
Oswald Egger selbst stellt bezüglich „nihilum album“ eine interessante Verbindung zur Volkspoesie her und nicht zufällig hat Er dem Band „Lieder & Gedichte“ als Untertitel mit auf den Weg gegeben. Das Volkslied, die Volkspoesie, sagt Egger (sinngemäß) in einem Interview, sei wesenhaft hermetisch, sei über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben, etwas, das nicht mehr verstanden wird, werden kann, sondern in der Wiederholung und in der Anwendung in verschiedenen Situationen am Leben bleibt. Das Verstehen geschieht erst durch dieses Anwenden, durch das „Zersingen“. (Mehr von Oswald Egger über „nihilum album“ in diesem Interview auf der Suhrkamp-Homepage, sehr zu empfehlen!)
„Nicht verfügbare Welten haben in sich etwas von Geheimnis.“ Und Oswald Eggers poetische Welten sind nicht verfügbar. Ob Lana, Bozen, Wien, New York oder die Raketenstation Hombroich, der geläufige Sinn topographischer Entstehungs- und Bezugsorte der Texte Oswald Eggers bleibt oberflächlich, Orte sind vielmehr Ankerplatz der grundsätzlichen Frage, was Sprache ist. Und: Welchen Ort hat die Poesie? Das Sprachprojekt Oswald Eggers schreitet den Raum der Poesie ab, lotet aus. Verdichtet. Entfernungen, räumliche Distanzen schwinden, Kausalitäten wirbeln durcheinander. Der Raum hinter den „Orten“ öffnet sich: das Lied, das in den Dingen schläft, wird hörbar.
Das Teilhaben der Sprache an den Gezeiten der Gegenwart ist ihre Gefangenschaft. Aus ihr herauszutreten in einen Raum des a priori „Anderen“ einer entfesselten Sprache der Poesie ist u.a. auch eine Provokation, die von den Texten Eggers ausgeht, indem sie vorschnelle Verständlichkeit wie Verbindlichkeit verabschieden, denn „wir reden und wir sehen nicht, aber erschaffen uns Schemen“, schreibt Oswald Egger in „Herde der Rede Moiré“.
Man könnte Eggers lyrische Position als hermetisch und apolitisch abtun – allerdings hieße das jenes poetisch/politische Potential zu übersehen, das sich als Freiheit und widerständige Unordnung ausdrückt, als Behauptung einer prinzipiellen Anderswelt.

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Der Turmbund (Hg.), Fluchträume. 
Lyrik und Prosa. Texttürme Nr. 6.
Innsbruck: Turmbund 2006

„Der Turmbund“, Innsbrucks „Gesellschaft für Literatur und Kunst“, blickt auf eine mehr als fünfzigjährige Geschichte, die – wie könnte es anders sein – von vielerlei Phasen, von Höhen und Tiefen, von Entwicklungen und Sackgassen berichten könnte. Immerhin gehört sie zu den wenigen österreichischen Literaturvereinigungen, die mehrere Generationen überdauert haben. Und inzwischen nimmt sich die altmodisch anmutende Bezeichnung „Gesellschaft für Literatur und Kunst“ zwischen den vielen kurzlebigen ‚logos’ bereits wieder interessant aus – ein literarisches Fossil, wie auch immer, sympathisch, tatkräftig und lebendig. Über die Jahre haben sich die unterschiedlichsten Generationen im „Turmbund“ im kleinen Literatursalon in der Müllerstraße die Hand gereicht, haben Autorinnen und Autoren der unterschiedlichsten Herkunft und Richtungen dessen Räume bevölkert. Und es hat den Anschein, dass dabei etwas Wichtiges bis heute weitergegeben werden konnte: die zugeneigte, beharrliche Arbeit für die Sache der Literatur. Dazu gehört auch die Förderung unbekannter Talente jeden Alters, die Einrichtung von Publikationsmedien, eine Plattform für Lesungen und Begegnungen. All dies bewerkstelligt das Engagement des Vorstandsteams des „Turmbunds“ sowie der zahlreichen Freunde im Umkreis.

In der neu erschienenen, nun schon sechsten Anthologie der Reihe „Texttürme“, ist es gelungen, 36 Beiträge von teils ganz jungen unbekannten Namen, (vielleicht also kleine Debüts), sowie von einigen der älteren Generation, deren Namen im näheren Umfeld seit langem geläufig sind, sowie Beiträge von manchen, die soeben im Begriff sind, etwas bekannter zu werden, zwischen zwei Buchdeckeln zu versammeln. Der Band enthält Beiträge von Hugo J. Bonatti, Dielinde Bonnlander, Malte Borsdorf, Martina Brauns, Urban Comploj, Dimitré Dinev, Sabine Eschgfäller, Dorothea Furch, Marianne Gradl-Grams, Christl Greller, Judith Gruber-Rizy, Christine Haidegger, Brigitte Hitzinger-Hecke, C.H. Huber, Evelin Juen, Oswald Köberl, Maria Koch, Kerstin I. Mayr, Elisabeth Mehlmann, Dorothea Merl, Karl Mussak, Claudia Paganini, Fritz Pechmann, Carolina Pietrowski, Christa H. Raich, Annemarie Regensburger, Stefan Rois, Ingeborg Rotach, Thomas Schafferer, Brigitta Scherleitner, Gregor Schürer, Aurelia Seidl-Todt, Bosko Tomasevic, Rainer Wedler, Laura Weidacher, Cenet Weisz.
Der Titel ‚Fluchträume’ mag für das Buch als gut überlegter thematischer Aufhänger dienen, der am Ende alles Mögliche zusammen zu halten hat. Denn es gibt bekanntlich so viele Anknüpfungspunkte an ein Wort wie denkende bzw. schreibende Individuen. Flucht als positive Denkmöglichkeit, Flucht als unfreiwillige Notwendigkeit und Zwang, Flucht als ‚bewegtes Unterwegssein’ und Flucht als Ausdruck einer Befindlichkeit und psychologischen Konstante - zwischen all den Möglichkeiten oszillieren die Beiträge der Anthologie, die Christoph W. Bauer mit folgenden Worten einleitet: „Eines der Geheimnisse von Literatur ist es, Worte mit einer anderen Bedeutung aufzuladen. Der Begriff Flucht schafft auf diese Art Räume, sie zu betreten sind die Leser dieses Buches eingeladen.“

Es ist ganz und gar unmöglich, hier auf alle 36 Beiträge im Einzelnen zu sprechen zu kommen, es folgt daher ein spontaner, an einer Hand voll einzelner Texte gespiegelter Leseeindruck.
C. H. Huber entfaltet in ihrem Text „Last Minute“ eine Flucht im schönsten Sinn des Wortes, eine Reise nämlich an eine geliebten Ort, der zurückgibt, was sich im fernen Zuhause allzu leicht verflüchtigt: ein archaisches Lebensgefühl, getaucht in Wärme, Wildheit, Farben, Lust.
Aber fliehen lässt sich auch mit dem Blick: Fritz Pechmann hält sich in seinen schmal gehaltenen ‚Reisegedichten’ an den Topos des im Bild verschwindenden Betrachters.
In Brigitta Scherleitners Text wird ein Traum zum Aufenthalt in einem Flucht-Raum und im Text von Aurelia Seidl-Todt eröffnen „Betrachtungen auf einen Meter“ Fluchtwege aus dem Schweigeraum einer allzu vertrauten Zweisamkeit. Während sich das wortkarge Gegenüber im Gitternetz der Kreuzworträtsel buchstabensuchend vergräbt, fliehen ihre Gedanken in die Rätsel der Erinnerungsräume.
In der kurzen Geschichte von Cenet Weisz’ führt der Autor ein zunehmendes, über räumliche Maßstäbe hinausreichendes ‚Sich-Entfernen’ vor. Er legt in seinem Text perspektivisch ein 'Lineal' von dem einem Tag in Wien, an dem die Hauptfigur die vertraute Stadt verlässt, bis ins Los Angeles neunzehn Jahre später und beschreibt mit wenigen Sätzen, wie ein großer Fluchtraum sich auf Befindlichkeiten verengen kann: „Gehen ist ein Treten auf ein und derselben, sandigen Stelle, (...).“
Fliehen in kalter Todesnähe beschreibt Urban Complojs kurzes Textstück „En fuite“, und eine bemerkenswerte Tonlage zieht sich durch die Gedichte Sabine Eschgfällers, einer Autorin, die an Kaser geschult ist und vielleicht in ihrem konsequenten ausschreiben der umlaute eine zarte Hommage an den Autor in ihren Gedichten versteckt.
Dimitré Dinevs Beitrag wiederum ist ein traurig ironischer Text, der die reale Lebenssituation dessen in den Blick nimmt, der nicht nur freiwillig geflohen ist um anzukommen, um im fremden Land als Schreibender zu überleben.
Flucht als Aufbruch lautet in Elisabeth Mehlmanns Gedicht so:

in den fluchtrucksack:
unterhosen und
warme sachen
eine zahnbürste und
ein zweites paar schuhe

 

in den fluchtkopf:
gedanken an morgen
und weiter
ganz unten
versteckt für später:
bilder von gestern

 

fluchträume
fluch träume
grenzenlos

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Martin Pichler, Störgeräusch.
Innsbruck: Haymon, 2006.

Martin Pichler gehört seit dem Erscheinen seines ersten Romans Lunaspina 2001 zu den interessantesten überregional wahrgenommenen Autoren Südtirols. Er hat sich mit diesem Debüt, später 2005 mit seinem zweiten Roman Nachtreise einen Namen als ‚Südtiroler’ Erzähler in der zeitgenössischen Literatur gemacht. Nun ist sein dritter Roman Störgeräusch erschienen. Die drei Roman haben miteinander zu tun, es ist die Trilogie einer Familienchronik entstanden, eine Familiengeschichte, die vom Leben einer ganz gewöhnlichen Südtiroler Kleinfamilie handelt, keine außergewöhnliche Geschichte, denn: „Die Normalität“ - sagt der Autor – „ist oft tabubrechender als das Außergewöhnliche.“ (Skizze vom Sterben. Interview mit Martin Pichler. In: "Die Furche" Nr. 16/05 vom 21.04.2005)

Spricht man von ‚Südtiroler Literatur’, so ist der Diskurs geradezu infiziert mit Begriffen wie Grenzraum, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität. Dieser damit angedeutete oszillierende Klangraum an der Nahtstelle unterschiedlicher Kulturen, Volksgruppen und Sprachen und nicht zuletzt auch klimatischer Gegebenheiten ist in Martin Pichlers Texten wie selbstverständlich in seinem Schreiben anwesend. Das Bewusstsein des Herkunftsraumes ist als Subtext in seinen Texten zu verorten, als atmosphärische Färbung nistet es in den Zwischenräumen des Erzählten. Pichlers Erstling trägt beispielsweise schon im Titel das zweifache Gesicht der Muttersprache: ‚Lunaspina’ ist eine freie Wortschöpfung aus dem Italienischen, heißt wörtlich übersetzt ‚Mondstachel’ und ist eine Metapher, eine kreative Wortschöpfung aus der ‚anderen’ Sprachseite. Damit konnte der Autor nicht besser zeigen, wie selbstverständlich die Zweisprachigkeit in den Nischen des Wörtlichen zuhause ist. Entsprechend lebt die Sprache in Martin Pichlers Romanen auch von Italianismen, die weniger als Zitatinseln zu verstehen, sondern vom natürlichen Nebeneinander und Ineinander der beiden Sprachen und Kulturen hervorgerufen sind.
Der Begriff der ‚Grenze’ hat in Pichlers Geschichten keinen expliziten landesgeschichtlichen Erfahrungsgrund mehr, wie die Literatur der Generation vor ihm, in der die Themen der Südtiroler Landesgeschichte verarbeitet wurden. ‚Grenze’ in Pichlers Geschichten ist vielmehr als Erlebniskategorie ins Innere der Figuren gewandert, sie besteht zwischen den Figuren, besteht innerhalb ihrer Beziehungsgeflechte, besteht - um überschritten zu werden. Erzählen zeichnet sich ja immer schon dadurch aus, durchlässig und mehrdeutig zu sein, das heißt Grenzen zu überschreiten, heißt Ambivalenzen und das Aufeinanderprallen oder Ineinanderwirken des Verschiedenen sichtbar werden zu lassen. Es geht dabei vorrangig um den Verlust scheinbarer Sicherheiten - einen Verlust, der andererseits auch als Befreiung aus lebensweltlichen Umklammerungen vermittelt werden kann, wie sie von den Figuren in Pichlers jüngstem Roman Störgerräusch erfahren werden.

Lunaspina trägt eine Widmung an die Mutter, der Roman ist die Suche nach dem Leben dieser Mutter, in der die Geschichte ihres Sterbens bereits mit hinein verwoben ist. Der Roman beschreibt aber auch die Selbstfindung der Figur des Sohnes, entfaltet die Bewusstheit seiner Homosexualität im Familien- und Freundeskreis . Im Zentrum des Erzählten steht die Figur der Mutter, auf die das Leben der Familie, alles, was sich in der Familie tut, bezogen scheint. Was die Familie zunächst nicht wissen will, ist der nahende Tod der Mutter, der dieses Leben unterspült wie das Hochwasser im Sommer, ist diese tödliche Krankheit, die fortan alles aus dem Gleichgewicht bringen wird. Und die mehr und mehr an die Oberfläche spült, wie sehr der Vater, der Sohn, die Schwester, wie alle Familienmitglieder mit unsichtbaren Fäden sprachlos aneinander gekettet sind. Martin Pichler zieht dabei vor allem das Unausgesprochene, Tabuisierte dieser Beziehungen ins Erzählen hinein: vor allem die Homosexualität des Sohnes, aber auch Körperlichkeit, Alter, Gebrechlichkeit. Lebenslügen sind die Themen, die im Untergrund schwelen und die die Grenze ins Sichtbare und Spürbare immer wieder, manchmal auch eruptiv durchstoßen.
Mit großem Gespür und einer gleichermaßen nüchternen wie klaren Sprache leuchtet der Autor die Befindlichkeiten der Figuren, ihre Emotionen und Gedanken aus. Was dabei auch ans Licht kommt, bleibt das gegenseitig verschwiegene Innenleben der Figuren.
Martin Pichler hat sich mit Josef Winklers Trilogie „Das wilde Kärnten“ intensiv auseinandergesetzt. Als hätte er folgenden Satz auch schon für sein Schreiben formuliert, heißt es in Pichlers Arbeit über Winkler: „Der Sprung aus der Sprachlosigkeit muss immer neu geleistet werden, denn hinter jedem nächsten Satz droht das Verstummen.“ (In: Die Neu-Schrift der eigenen Biographie. Inszenierung und Ritual im Frühwerk von Josef Winkler. Innsbruck, 2000)
In Lunaspina deuten sich bereits Impulse an, diese Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Am Ende von Lunaspina beispielsweise, am Krankenlager der Mutter tritt die Figur des Sohnes aus dem Schatten des Erzählers und wendet sich ‚sprechend’ dem DU dieser Mutter zu. In Störgeräusch wird es zum Thema: die Entwicklung der Fähigkeit, Empfindungen konkret zu benennen und Sprache einsetzen zu können, um Beziehungen herzustellen und zu klären.
„Der Tod hält das Monopol. Wie schreiben in Zeiten des persönlichen Schmerzes? Aus den Antwortversuchen entsteht das Buch Nachtreise.“(Zitat aus der home-page von Martin Pichler)
Der Tod der Mutter wird zum autobiografischen Schreibanlass im zweiten Buch Nachtreise, es ist für Martin Pichler (aber auch für die Leser der Trilogie) ein „Scharnier“ zwischen dem ersten und dem dritten Roman. Martin Pichler führt darin in zyklischen Umkreisungen so nahe wie möglich an die unfassbare und allzu gern ausgesparte Realität des Sterbens heran, ohne dabei ins Phrasenhafte, Metaphorische, pathetisch Umkreisende zu kippen. Martin Pichler entwirft vielmehr eine „Skizze vom Sterben“, er schildert bzw. mehr noch ‚protokolliert’ in einer Sprache, die so karg als möglich bleibt. Denn ganz bewusst konzipiert der Autor das Buch so, dass durch sein beobachtendes Erzählen dieser langsame nachhaltige Schrecken, den der Tod im normalen Leben bewirkt, spürbar wird – jenseits des Emotionalen und Subjektiven.
Martin Pichlers dritter Roman Störgeräusch schreibt in gewisser Weise die Familiengeschichte weiter. Der Autor lockert im Weitererzählen den Griff der autobiografischen Umklammerung, es entwickelt mögliche Szenarien, denn es geht um jene Fragespur, die der Autor in zwei unterschiedliche Geschichten verfolgt: Wie wieder zum Leben, wie wieder zu sich selbst finden, wenn die Leere des Verlusts langsam in die Vergangenheit zurückweicht und der Hunger nach dem Leben wiederkehrt? In wechselnden Perspektiven und durch parallel geführte Erzählstränge entfalten sich zwei verschiedene Lebensentwürfe, Haltungen, Emotionen, zwischen denen es kaum Berührungspunkte gibt, außer dem gemeinsam erlebten Ausgangspunkt des vergangenen Lebens. Vor allem die beiden Hauptfiguren, der Vater, wie der Sohn finden zum Leben zurück durch das Erproben neuer Erfahrungen und Erweitern der Lebensgrenzen, markiert auch durch den Tod der Mutter. Nicht von der Darstellung der Sprachlosigkeit, sondern vom Überschreib/t/en der Kommunikations- und Beziehungslosigkeit lebt dieser Roman Pichlers: Störgeräusch ist ein Roman über die Liebe, über die verschiedenen Arten zu lieben. Dabei geht es dem Autor in erster Linie um den schwimmenden Boden, auf dem die beiden Hauptfiguren, Vater und Sohn, sich bewegen. „Mich interessieren Bruchlinien, die Widersprüche und Zögerlichkeiten meiner Figuren“ (Interview mit Martin Pichler, in: http://martinpichler.blogspot.com/).
Franz Reider, der Vater, öffnet sich nach und nach einer leidenschaftlichen Beziehung mit der viel jüngeren Maria – ein schwieriges Beginnen. Der Text entwickelt dabei die Phantasie für mögliche Entfaltungen, lichtet Veränderungen ab, zeichnet sich öffnende Freiräume nach, denn es bleibt nichts, wie es war. ‚Vergangenheit’ wirkt als Störgeräusch in die Gegenwart hinein, denn das gelebte Leben ist gespeichert – im Körper, in den Erinnerungen, im Haus, in den Dingen des Alltags: „Hat er wirklich geglaubt, vor sich selbst davonlaufen zu können? Nie ist er abgeschnitten von dem, was war, seine Vergangenheit holt ihn ein, das zähflüssige Element, das ihn ständig umgibt und in dem er seine Schritte macht, auf Maria zu.“ (S. 62) Lea, die Tochter, hingegen bleibt im Vergangenen hängen. In den wachen Nächten führt sie Selbstgespräche mit der Mutter. Dem Vater rettet sie schließlich das Leben, als dieser eine Herzattacke erleidet. Später sitzt Lea neben der Geliebten des Vaters am Krankenlager. So bringt die lebensbedrohliche Situation, das 'Störgeräusch' in Herzen des Vaters, Bewegung in festgefrorene Lebenslasten und alte Konflikte. So entsteht unverhoffte Nähe. Auch zwischen dem Vater und dem Lebensgefährten des Sohnes. Die ehedem noch tabuisierte Homosexualität ist längst die selbstverständliche Erfahrungsoptik des Sohnes gewirden. Dieser aber flüchtet aus dem neuen Gleichschritt des Alltags in eine Affäre, auch er betrügt, verrät und lotet aus. Leidenschaftlichkeit, Sexualität, Eros sind zentrale Motive. "Die Lust ist ein perpetuum mobile" (Zitat aus der Homepage Martin Pichlers). Das Unwegsame reizt, denn die Leere lauert im Hinterhalt, in ihr gründet sich die Sehnsucht nach ‚Begegnung’, nach hörbarer, spürbarer, lesbarer Verbindung, auch die Lust an der Vernetzung. Ein Leitmotiv des Romans, und dadurch ist es „ein Buch über das Hören geworden“ (Martin Pichler im bereits oben zitierten Interview), bildet die Technik der grenzüberschreitenden Kommunikation: Telefon, Handy, Internet. "Verbindung herstellen" wird zur metaphorischen Handlung. Diese beherrscht der Vater zwar nur schlecht, sein unbeholfener Umgang mit den neuen Kommunikationsweisen bewirkt, dass er vor allem Störgeräusche empfängt. Aber gerade Störgeräusche erzwingen genaues Hinhören. Der Schluss bleibt offen, das Denken der Zukunft mündet in einer Frage, die jedes Anfangen motiviert. Aber Franz Reider ist keiner, der scheitert.

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Bernhard Aichner, Nur Blau.

Roman.
Innsbruck: Skarabaeus, 2006.

„Nur Blau“, das dritte Buch von Bernhard Aichner erzählt von einer intensiven Beziehung, der Liebe von Mosca zu Jo. Mosca ist ein Literaturkritiker, ein Ästhet, ein Kopfmensch, und - wie könnte es anders sein – er findet in Jo, dem Lebens-Künstler, der alles in eine Waagschale legt, das, was ihn nicht mehr los lässt. Es ist eine amour fou, die dem Roman Tempo, Tiefe und einen Hauch Melancholie gibt. Jo, der leidenschaftliche Augenmensch, begegnet eines Tages der Kunst Yves Kleins, taucht ein in dessen unvergleichliches Blau, das Kunstgeschichte geworden ist. Jo kopiert das Blau, findet heraus wie die Zusammensetzung der Pigmente beschaffen sein muss, damit es dieselbe unverkennbare Wirkung besitzt, wie die Farbe jener Monochrome aus den fünfziger Jahren, mit denen Yves Klein weltberühmt wurde. Dieses Blau ist für Jo jener ätherische Raum, den Klein mit seiner Kunstphilosophie aufgeladen hat, es ist wie die andere Seite des Himmels, wie der Traum der Schwerelosigkeit. Mosca hingegen bewegt sich im Denken, er hat eine Sprache für Jos Obsession, für seine Kunst. Lesend folgt man dem Sog dieser Liebe, deren Faszination auch in der geteilten Leidenschaft für den Prozess der Aneignung von Yves Kleins „Blau“ ist.
Um die Verstrickungen der beiden ranken sich andere Beziehungs- und Lebensgeschichten. Da gibt es Ming, die es von China in das vermeintlich chancenreiche Deutschland gespült hat und die sich an Alis Imbissstube abrackert - für nichts weiter als den Platz zum Stehen. Auf ihre Art träumt auch sie den Traum eines ‚schwerelosen’ Lebens. Eines Tages schlägt sie verzweifelt zu und reißt für sich selbst ein Stück aus dem Leben eines anderen. Das Leben ist nicht fair, Onni, der schwedische Hyne mit einem versehrten Körper steht auf der Verliererseite – hoffnungslos. Wie Ben, der Taxifahrer. Er hängt auf der schlaflosen Nachtseite fest und kippt zwischen den Fahrten in wilde Alpträume, die es mit Szenen aus Horrorfilmen ersten Ranges aufnehmen können. Auf seiner besten Tour von Frankfurt - München und zurück, dann weiter nach Paris, fährt er sein Gerät zu Schrott.
Aber da ist vor allem auch der gutmütige traurige Müllarbeiter Olivier, der von seiner Frau verlassen wurde. Er blättert in seiner Freizeit am liebsten in Kunstbüchern und erschafft sich so mit den Augen eine saubere, bunte phantasievolle Gegenwelt. Das Leben kann verrückt und schön sein, es schickt Olivier auf eine abenteuerliche Reise mitten hinein in eine wärmende Liebe, im Handgepäck nichts weniger als ein Original von Yves Klein. Dieses blaue Rechteck, eine dünne Schicht blauer Farbe auf Leinwand, verknüpft wie ein magisches Pfand die Lebensfäden der Figuren. Verstrickungen, Zufälle. Und am Ende steht Anna, die wie Jo für den Traum ihrer eigenen Kunst lebt – mehr schlecht als recht, bis sie Mosca über den Weg läuft und die Geschichte ihren End-Lauf nimmt.
Die Figuren des Romans haben alle miteinander zu tun, auch wenn sich manche nie begegnen, dennoch hängen ihre Schicksale – wie von unsichtbarer Hand verknotet – zusammen. Jede der Figuren ist ihren Lebensmotiven auf der Spur, folgt dem Geruch des Lebens, gehorcht Obsessionen, Leidenschaften, Sehnsüchten. Die Charaktere sind so verschieden, wie sie denn auch unterschiedliche Linien in der Romanhandlung hinterlassen. Am Ende scheint es, als wären die Geschicke ihrer kleinen unscheinbaren Leben durch das Spiel von Ursache und Wirkung bestimmt, als gehorche alles Geschehen einer inneren Logik. Die raffinierte Komposition der Handlungsfäden erzeugt eine mitreißende Film-Spannung, erinnert ein wenig an Woody Allans letzten Kinohit „Matchpoint“, der erzählt, wie alle großen Dinge des Lebens, entscheidende Wendepunkte, an denen einer auf der Gewinner- oder auf der Verliererseite zu stehen kommt – wie im Grunde alles von winzig kleinen Zufällen abhängt. Letztlich kommt es darauf an, an welchem Ort zu welcher Stunde in welchen Zusammenhängen sich jemand befindet.
Der Erzähler in Aichners Roman bleibt subtil im Hintergrund, hält die Fäden in der Hand, weiß wo es lang geht, wohin die Handlung führt, weiß wann und wo etwas passiert. Er rekonstruiert, oder mehr noch: protokolliert das Geschehen mit präzisen Zeitangaben – die Figuren stehen im Rennen, scheinbar ahnungslos – ausgeliefert. Der poetologische Reiz Aichners Romantechnik liegt in diesem völlig unaufdringlichen, aber doch: wissenden Erzähler, der nahe genug die Situationen, die intimen Räume der Charaktere heranzoomt, um kleine treffende Details wahrzunehmen – jedoch ohne hartes Ausleuchten, ohne grelle Optik. Er kommentiert nicht, wertet nicht, um so aufmerksamer aber beobachtet er seine Figuren – er sitzt nicht in ihrem Inneren, sondern gleichsam auf ihren Schultern. Dadurch entsteht Distanz, ein Zwischenraum, in dem sich Ungesagtes, Angedeutetes, das Gefühl der Fremdheit einnisten können. Der Erzähler gibt den Figuren atmosphärisch und konkret genau jenen Rahmen, in dem sie zur Geltung kommen, in dem sie sich preis geben. Sie bewahren jedoch das, was sich entzieht, entziehen muss: das Geheimnis des eigenen Raumes. Max Frisch sagte einmal: „Die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, und alles Sagen bedeutet entfernen. (…) Wie der Bildhauer, wenn er die Meißel führt, arbeitet die Sprache, indem sie die Leere, das Sagbare, vortreibt gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige. Immer besteht die Gefahr, daß man das Geheimnis zerschlägt, und ebenso die andere Gefahr, daß man vorzeitig aufhört, daß man es einen klumpen sein läßt, daß man das Geheimnis nicht stellt (…).“
Über ein Geheimnis lässt sich wenig sagen, im Gegenteil: es verbietet sich nachgerade. Aber man ist ihm ständig - lesend - auf der Spur. Alle Erzählfäden des Romans bewegen sich kontinuierlich auf das unerwartete, unvorhergesehene Ende zu, das ich hier mit keinem Wort verraten möchte. Nur das eine: In ihm verbirgt sich ein Bild, das als symbolische bzw. metaphorische Abbildung das geheime Zentrum des Romans ist, sein Kerngedanke und Grundmotiv - sein Thema, das wie in der Musik an markanten Stellen des Romans wiederkehrt. Als literarischer Text lebt „Nur Blau“ vom Spiel mit oder vor der hauchdünnen durchscheinenden Wand zwischen Glück und Unglück, zwischen Lachen und Zorn, zwischen Leben und Tod.

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Renate Scrinzi, Vita Minima.

Erzählung.
Bozen: Raetia, 2005.

„Vita Minima“ ist eine merkwürdige Geschichte, die Renate Scrinzi, bislang als Lyrikerin in einem Gemeinschaftsprojekt mit dem Künstler Ivo Rossini in Erscheinung getreten, auf schmalen 76 Seiten erzählt. Es ist die Geschichte vom Tod einer Mutter, die mit ungewöhnlicher Lakonie aufgerollt wird. Nahezu minutiös den Ereignissen folgend erinnert die Erzählung an einen protokollartigen Bericht. Dennoch vermutet man von Beginn an, dass da etwas kommt, eine „unerhörte Begebenheit“, wie es einer Novelle gebühren würde. Und es sind denn auch novellenartige Züge in der Erzählung auszumachen, der Wendepunkt etwa am Ende des dritten Kapitels, oder das durchgängige Motiv des „minimalen Lebens“, das schon im Titel aufgenommen ist, und dessen rätselhafte Bedeutung erst nach und nach klar wird. „Vita Minima“ hat auch mit Erfrieren zu tun, bei dem der Körper mehr und mehr auf ein Minimalprogramm schaltet, bis der letzte Rest Wärme und Leben verbraucht sind. Die Geschichte eines Todes, eines tragischen Ereignisses also, eine Art Novelle - wäre da nicht die Sprache, die sich zuweilen nahe an der Lyrik bewegt, das Geschehen verdichtet und im Stil des inneren Monologs gehalten ist. Die Sprache der Figuren in dieser Erzählung deutet mehr an, als sie konkret in Worte fasst, sie spart mehr aus, als sie ausspricht, lässt vieles in Stimmungen und inneren Befindlichkeiten anklingen und nützt Bilder des Traums, um das Geschehen zu erklären.
Was geschieht nun in dieser kurzen Erzählung, die so atemlos geschrieben ist, dass man leicht in einen Sog gerät und sie in einem Zug ausliest.
In vier Abschnitten werden die – wie es im Klappentext des Buches heißt – „letzten Tage des Lebens der 71-jährigen Luise“ beschrieben, die von einem Spaziergang nicht wieder zurückkehrt, die verletzt im Wald erfriert. Luise, eine attraktive, jung gebliebene, auf ihr Äußeres bedachte Frau, die die Zeichen des Alters und der Einsamkeit verdrängt, hatte sich zu einem Kurzurlaub im nahen Kurort entschlossen, sie scheint das Leben zu genießen. Alles bestens, möchte man meinen, wären da nicht ihre Gedanken, die zeigen, dass sie keinen Boden unter den Füssen hat. Der Schein der Normalität an der Oberfläche trübt sich immer wieder ein: „Die Tiefe verbirgt sich unter der Oberfläche der gewöhnlichen Dinge des Alltags. Sind nicht einfach nur da. Und plump. Und schon wieder und wieder. Sind da, um den Abgrund des Lebens zu verklären. Dem Steilhang des Nichts ein Schnippchen zu schlagen, (...)“ (S. 27)
Die Geschichte erzählt gleichzeitig auch von Marie, ihrer Tochter und davon, wie sie lebt. Und wir erfahren von Eduard, ihrem um einiges jüngeren Lebensgefährten und Ersatzsohn, der völlig abhängig von ihr ist. Die vier Kapitel der Erzählung, je mit einem Zitat überschrieben, die den Spannungsbogen der Erzählung inszenieren, fangen - wie mit dem Kameraauge beobachtet - den Lebensalltag der Figuren ein. Das Erzählte wirkt wie in wechselnden Sequenzen auf eine Filmleinwand projiziert. Marie, Eduard und Luise begegnen einander nicht, sie scheinen ohne Bezug zueinander, dennoch decken die zeitlich simultanen Szenarien Verflechtungen und unglückliche Verstrickungen auf. Marie, Eduard und Luise verrichten ihr Tagwerk ohne besondere Spannung, das Ende der Geschichte jedoch liegt wie ein geahnter Schatten über allen Szenen. Die Figuren in der Erzählung tun, was zu tun ist, aber auf allem liegt eine eigentümliche Schwere, deren Ursachen erst auf den letzten Seiten ans Licht kommen und mit ihnen auch das überraschende Ende der Erzählung.
Wo der Blick mit der Kamera endet, was der Kamera, der vorbehaltlosen Beobachtung entgeht, führt die Sprache der Erzählung weiter, indem sie das Innere der Figuren in ihren Fokus nimmt und Befindlichkeiten aus der Innensicht anleuchtet. So entsteht das Psychogramm eines Mutter-Tochter-Verhältnisses. Beziehungslosigkeit, Traurigkeit, Glücklosigkeit sind der Filz, der Maries Sicht auf das Leben überzieht: „Keine Gesichter. Öde. Gepflegte Unterhaltung vorgeschrieben. Leidenschaftslos, dürftig, unempfänglich, klamm. Klammes Land, starre Menschen.“ (S. 45)
Den vier Kapiteln der Erzählung ist je ein Zitat als Motto vorangestellt, die man aufeinander bezogen lesen kann. Wie „Leseregieanweisungen“ lenken sie den Assoziationsbogen und deuten das Geschehen auf einer übergeordneten Ebene: So ist das erste Zitat eines von Jakob Wassermann: „Eine Kugel kann man nicht überblicken, sie bietet dem Auge immer nur Teilansichten.“ Teilansichten vermag auch die Erzählung vom Leben der Figuren zu vermitteln, nur in Teilansichten nehmen die Figuren sich gegenseitig wahr, dass alles mit allem zusammenhängt, ist keiner bewusst. Im Leser, in der Leserin allerdings verbinden sich diese Teilansichten zu einem komplexen Bild, ermöglichen einen tieferen Blick in die innere Verbundenheit. „Vita Minima“ beschreibt die „normale“ Tragik, dass am Ende nicht einmal der Schatten eines Lebens bleibt.

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Elfriede Kehrer, lichtschur.
Innsbruck: Skarabaeus, 2005.

2001 erschien - etwas abseits vom lauten Strom der Neuerscheinungen - der erste Gedichtband von Elfriede Kehrer, ein bibliophiles Buch, gedruckt in der Handpresse der Edition Thanhäuser in einer Auflage von 99 Stück mit dem Titel „an den riffen des lichts“. Ludwig Hartinger schrieb am Ende des Bandes den Satz: „Elfriede Kehrers Dichtungen, subtile Wortgebilde, blättern eine kleine Licht-Kunde auf, im Jahres- & Tageszeiten-Kreis.“ Nun ist der zweite Lyrikband der Autorin, die an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Fritz Wotruba Bildhauerei und Kunsterziehung studierte, im Innsbrucker Verlag Skarabaeus erschienen. Er trägt den ungewöhnlichen, gleichwohl an den ersten Band erinnernden Titel „lichtschur“, eine Wortneuschöpfung, die vieles offen lässt, die dem manchmal arg strapazierten Wort Licht eine unentdeckte, neue erfundene Bedeutung unterlegt. Ein Wort als Richtungsweiser für das Lesen - wer tief hineinliest, nimmt die Erträge dieser „Schur“ ungewöhnlicher Naturbeobachtungen, ungeahnter Perspektiven des Sehens wie Empfindens mit. Wortneuschöpfungen kommen in den Gedichten im Übrigen eher selten vor, die Autorin findet mit dem vorhandenen Wortreichtum ihr Auslangen. Formal variieren die Texte freie Rhythmen, nützen Wortklang, Alliteration, beugen sich auch strengen Strukturen, beispielsweise dem japanischen Haiku. Wie programmatisch klingt dies: „im augenbogen / geboren / das wort“ (S. 37) Feinlinige Zeichnungen nach Motiven der Natur von Franz Kehrer begleiten die Texte des schmalen Bandes.
Das Licht ist zentrales Element der Gedichte, das alles Wahrgenommene erst ins Sichtbare hebt, in Farben taucht, oszillieren lässt. Es sind zarte Geflechte, die so reduziert sind, dass sie durchscheinend und durchlässig für assoziative Gedankenkaskaden werden. Fünf Worte braucht die Autorin manchmal nur, dass die „sinne purzeln“ (S. 51). Immer wieder kehrt das irisierende Spiel von Licht und Schatten, werden Farbnuancen und Stimmungen mit wenigen Worten erzeugt, mit manchmal nur einem einzigen Satz, der eine schmale Linie in den Horizont vieler möglicher Bedeutungen zieht. Ein äußerst zurückhaltendes lyrisches Ich begegnet der Leserin, dem Leser, ein Ich, das sich zurück zu nehmen weiß ohne zaghaft zu wirken, das vielmehr dem visuellen Eindruck, den ineinander klingenden Wörtern oder dem durch äußerste Reduktion freigelegten Sinn Raum zu geben versteht. In den Zwischenräumen der Zeilen und Wörter nisten Befindlichkeiten und Emotionen, dort entsteht jene Spannung, die zum Weiterlesen drängt, zum Nachdenken und Wiederlesen.
Die zuweilen spielerische Wort-Kombinatorik, die Vers-Verbindung einzelner Begriffe, die so normalerweise kaum nebeneinander zu stehen kommen, macht den Reiz und wohl auch die Dichte der Texte Elfriede Kehrers aus, die übrigens den vorliegenden Band H. C. Artmann gewidmet hat. Dieser hatte die Publikation ihres ersten Gedichtbandes angeregt.

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Hans Aschenwald,
 Wurzelfieber.
Berlin: Wagenbach, 2003.

Wo die wahre Heimat lauert

Wurzellfieber ist als Quartbuch im renommierten Verlag Wagenbach in Berlin erschienen. Und das lässt aufhorchen, steht doch Klaus Wagenbach für ein eigenwilliges qualitativ bemerkenswertes Programm mit Tradition - die überregionale Wahrnehmung mag dem Autor auf diesem Publikationsweg garantiert, jedenfalls zu wünschen sein. Dass die Zusammenstellung einer Lyriksammlung ein kreativer und nicht weniger reflexiver Akt ist, dass also auch Aschenwalds Gedichtband bewusst durchkomponiert ist, das dokumentieren die Auszüge aus einem Werkstattgespräch der Lektorin Margit Knapp mit dem Verleger Klaus Wagenbach - nachzulesen im Artikel So hoch in den Wolken in der Kulturzeitschrift „Quart“ (Nr. 2 / 2003).
Der Band besteht aus fünf Teilen, die, so will es die Komposition, aufeinander bezogene Texte thematisch und hinsichtlich der Motive bündeln: Dieser Wald, Atemguthaben, Dazumal, Siebenschneidenweg, Fieber – diese Zwischentitel legen als Leitbegriffe die Spur durch das Unterholz der Texte. Orte der Berglandschaft, Natur, Zeiten, Traditionen, Körperbefindlichkeiten – aus diesen Sinnbezirken stammen Motive, Bilder und Stimmungen, von denen die Texte durchzogen sind. In ihnen liegen wohl auch die Wurzeln der Inspiration, aus der Aschenwalds Gedichte ihre Intensität beziehen, die frei von poetischem Kalkül ist. Ganz und gar schlichte Wendungen verbinden sich mit solchen, die sich erst durch eine minimale Drehung der Semantik erschließen. Aber die Sprache in Aschenwalds Gedichten ist nicht metaphorisch zu verstehen, eher als eine spontane Kraft, mit der sie da und dort die Grenzen zum Vorsprachlichen überschreitet und die vom Innenraum des Körpers her Heimat-Welt erfährt, versteht und benennt.
Im Fieber des Himmels
Der auch Heimat heißt
In einer Schrift die ich nicht lesen kann aber verstehe
Heimat also nicht im Kopf und nicht als vertraute oder verfremdete Imagination. Siebenschneidenweg zum Beispiel heißt eine Route in den Bergen des Zillertales. Das gleichnamige Gedicht ist dem Musiker Thomas Larcher gewidmet:
Über den Grat
Mit zwei Stimmen im Bauchblut
Mit zwei gesunden Beinen
Ererbt vom Vater statt der Gabe der Rede
(...)
Auf der Spur zu dir
Anstatt Sprache deinen Körper gebraucht
Weil Worte nicht zu haben waren
(...)
Heimat nicht als Sehnsuchtsbild im Nachsinnen und schon gar nicht Anti-Heimat, vielleicht aber: Heimat als gelebte Zeit, die Prägungen und Spuren hinterläßt.
Und Körper hatte ich selber einen
Damit brachte ich mich zur Welt
Ohne auch nur einen einzigen Satz
Obwohl die Gedichte viel an hintergründigem Humor enthalten, gibt es eine Atmosphäre der Eindringlichkeit, des Begehrens, manchmal auch der versöhnten Zuneigung. Da ist ein lyrisches Ich, das seine Herzsprache in die Gedichte trägt, obwohl es wie ein scheues Wild längst geflüchtet ist - in eine Bergwelt, die sich in den Vexierbildern des Kindheitsblickes bewahrt hat.
Fremdgewordene Tiere
Zwicken mich am Unterbein und wollen mit mir reden
sie sagen kruuhhmmm
Und ich verstehe sie
Und bin ganz wild auf sie
Und daß sie mich mögen.
Das Ich in den Gedichten ist fremd in den „tödlichen Redensarten“, in dem, was gängig und vordergründig verständlich ist
Sag wärst du nicht lieber von
Den Rinden der Bäume als
Von Haut der Menschenkörper in der Zeit
und manchmal möchte man sagen, das Ich, das da spricht – öfter noch anspricht - sei fern und entrückt, wenn da nicht die zielgenauen Wahrnehmungen einer Lebenswelt wären, wenn sich da nicht ’Geschichtlichkeit’ in die Sätze gedrängt hätte
Dazumal Die Haut /
Die arme Haut hat es geheißen
Als Menschen nicht mehr weiterwussten
In unserem Dorf und damit abgetan
und wenn da nicht eine genaue und inwendige Sprache der Liebe wäre.
Mitten in der Nacht (Am Kraken)
(...) Vollgepumpt mit falschen Namen
Ziehen wir einander aus
Der brennenden Gewohnheit
(...)
Im Schutz Deiner Zeichnung
Zusammengewollt stehlen wir uns
Aus der Perspektive.
In manchen Gedichten ist eine archaische Wildheit, die nicht spart mit Kassandrarufen gegen Auswüchse des Fortschritts und der Technik - und die doch wieder eine Lanze bricht für das Menschsein. Das Denken einer besseren Welt kommt in diesen Gedichten als erinnerte Natur–Utopie zum Vorschein, in der der Mensch weit entfernt von jedem ’Macht euch die Erde untertan’ wäre.
Im Fieber II
(...)
Du hoffst die Welt zurück
Die es dann nicht mehr gibt
In diesem engen Sinn

Im Fieber III
Treffen wir den Baum
Der führt uns zu den Wurzeln.
Viele solcher Zeilen in den Gedichten von Hans Aschenwald lassen den Begriff des Naturgedichts neu denken, weil sich in ihm die Grenzen zwischen Ich und Natur verschoben haben, weil Mensch und Natur ineinander übergehen, sozusagen ‚verwirkt’ sind.
Wenn diese Wälder abgeholzt sind
Fährt der Wind in diese Menschen
Und die sind weißgott offen.
Der schmale hellgrüne Band trägt auf dem Buchdeckel ein Bild der Künstlerin Margit Aschenwald. Es zeigt eine weiße Ziege mit knallroten Stöckelschuhen. Das Bild verfremdet ein vertrautes Etwas, macht es skurril, der Blick bleibt am Detail hängen, man wundert sich und die Gedanken machen sich auf den Weg, flanieren assoziativ, bis sie im Fokus einer Bedeutung ankommen. Nicht ganz unähnlich geschieht es auch beim Lesen dieser Gedichte. Auch in ihnen sitzt das Eigentliche in den Details, in den sensiblen Beobachtungen, die unter dem Zeitlupenblick kleine und große Lebensdinge zeichnen.

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Anne Marie Pircher, Kopfüber an einem Baum.
Erzählungen
Innsbruck: Skarabaeus, 2003, 133.

Es war bisher wenig von der 1964 geborenen Südtiroler Autorin Anne Marie Pircher zu hören, die in Kuens bei Meran lebt und schreibt. Vor drei Jahren veröffentlichte sie den Lyrikband „bloßfüßig“, letztes Jahr nahm sie am Literaturwettbewerb „Floriana“ in Oberösterreich teil. Ihr nun bei Skarabaeus erschienene Prosa-Debüt „Kopfüber an einem Baum“ ist allerdings bemerkenswert.
„Das fünfte Element“ heißt eine der vierzehn Erzählungen, die in diesem Band versammelt sind. Es ist eine Erzählung über jene Kraft, die sich nicht fangen lässt wie die fassbaren Elemente des Wirklichen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Das fünfte Element ist das der Verwandlung, des Schöpferischen und Unberechenbaren, in ihm wirkt Eros. Es ist eine Geschichte der Begegnung mit diesem Element. „Dass es einen Raum gibt, wo sich alle vier Elemente treffen, um ein fünftes Element zu zeugen, hat mein Kopf nicht programmiert. Er hält Widerstand wie immer.“ (S. 121) Widerstand gegen das Irritierende, das Visionäre, auch gegen schmerzhaftes Erkennen. Dass das fünfte Element auch Motor des Erzählens ist, steht zwar nicht in der Geschichte, aber es trifft den Fokus dieser Prosa, des Erzählens überhaupt, nämlich dass darin ein immer neues Öffnen von Wirklichkeiten geschieht. Dass Literatur in der Gegensphäre zur Welt der Fakten und Tatsachen zu Hause sei, sagte schon einst Reinhard Baumgart: „Sie handelt vom Unverhofften, sie sucht das Abenteuer, und sei es nur das einer unverhofften Metapher, den ungewohnten Blick auf die Realität“. Literatur ist zu Hause an der Schwelle zu den Räumen des Imaginären, auch des Surrealen und der Träume. Das ist nichts Neues, aber wenn Literatur von dort her kommt, überrascht sie immer wieder neu. Die von formalen Erzählstrategien her ganz und gar unauffälligen Texte des Bandes überraschen – nicht nur in diesem Sinn. Mit treffsicherer Sprache führt die Erzählerin die Leser über den doppelbödigen Grund der Geschehnisse hinweg, in Situationen, die nicht selten in die surreale Tagtraumwelt kippen und Unvorhergesehenes nach sich ziehen. Die vierzehn Geschichten handeln von Kindheitsorten, von unerwarteten Wiederbegegnungen, von der Scheinwelt der Erfolgsgesellschaft, von Schattenträumen und Ängsten, von den Falltüren des Alltags ins Unheimliche, in die Räume hinter der routinierten Wahrnehmung der Realität. Nicht die Verfremdung des Gewohnten, sondern eigentlich das Umgekehrte geschieht: Das Außergewöhnliche wird erzählt, - schlicht, unbewegt, klar - als wäre es stets in allem präsent. Darin sind sie der Tradition des magischen Realismus verwandt. In der ersten Erzählung – eine Kindheitserinnerung „Zwischen den Dörfern“, taucht eine Wölfin auf, die zur Metapher für Heimatverbundenheit wird. „Wenn ich heute vom Dorf hinüber schaue auf die andere Talseite (...) ist mir nicht ganz klar, warum ich den Weg in den Süden später niemals gefunden habe. Ich kann es mir nur dadurch erklären, dass meine Liebe zur Wölfin stärker gewesen sein muss als meine Liebe zum Süden.“ (S. 6) In der Geschichte „Schattenlauf“ wird im symbolhaften Ort der Handlung - einem „Turm“ – unschwer die Tourismuswelt erkennbar. Aber es geht gar nicht um diese Welt des „Turms“, der ganz oben eine „Plattform unterm Himmel“ hat, den die Turmbesucher in Scharen aufsuchen und bei ihrem Kommen und Gehen Dreck hinterlassen. Es geht vielmehr darum, wie die Hauptfigur – die Turmbewohnerin -, die in einer Mauernische haust und den Unrat der Besucher aufzuräumen hat, einen Ausstieg aus diesem verließartig geschilderten Turm findet, und zwar nicht jenen Ausgang „der weiten Entfernungen, aus denen die Turmbesucher kamen“, sondern jenen, der über die Treppen durch das Innere des Turms nach unten führt. „Ich weiß nicht, wie viele Stufen ich schon hinter mir habe. Es ist nicht ganz einfach, diese sich windende Treppe zu meistern. Aber ich habe keine Wahl mehr, ich bin schon längst über die Mitte dieses dunklen tiefen Turms gelaufen“ (S. 18). Dass der Schatten unzähliger gehorteter Geschichten die Turmbewohnerin auf ihrem Abstieg durch das Innere des Turms verfolgt, sie weitertreibt, bis sie durch die Öffnung unten entkommen kann, ist nur eine der vielen symbolischen Elemente, die diesen Erzählungen eingelagert sind und über die Grenzen des Erzählten hinausweisen.
Anne Marie Pirchers Geschichten sind voll hintergründigem Humor und stiller Traurigkeit, voll „Melancholie und Leidenschaft“, wie es der Verlag nennt. Was beim Lesen aber besonders auffällt, ist das starke sichere Ich, das in ihnen erzählt, das die Zügel der Geschichten in den Händen hält, konzentrierte Bilder entstehen lässt und weiß, wo es zu benennen und auszusprechen gilt und wo nur anzudeuten mehr ist. In manchen Geschichten heißt dieses Ich Anna und man ist geneigt, in allen Texten Anna zu suchen und in ihr alle Fäden der Geschichten zusammenlaufen zu lassen. Die Sicht der Ich-Erzählerin ist den einzelnen Texten als zentralperspektivische Linie eingeschrieben, die dem Erzählband insgesamt etwas Kohärentes gibt, das sich auch in der Sprache zeigt. Es kann keine Rede von mehrperspektivischem Erzählen, von postmodernen Verfahren der Auffächerung zentraler Erzähleinheiten der Handlung und des Subjekts sein, so gesehen mutet den Erzählungen etwas Althergebrachtes an. Dennoch: der Titel nennt eine ungewöhnliche Haltung - übertragen auf die poetologische Optik ist sie gänzlich unkonventionell: Alma, das Kind in der vierten Erzählung „Der Gorilla“, das in der Vaterwelt nicht so recht zu Hause ist, „gräbt gerne Schildkröten aus der Erde oder hängt sich kopfüber an einen Baum, um dort stundenlang zu verharren“ (S. 38), – diese auf den Kopf gestellte Perspektive ist es, die andere Ordnungen hervorbringt, die den Dingen eine subtile Drehung und den Erzählungen ihre Eindringlichkeit gibt. Mit dem allegorischen Kunstgriff gelingt es der Autorin, über den Tellerrand einer realistischen Erzählweise zu springen und so die vielen Ebenen des Einen, das Widersprüchliche, Vieldeutige und vor allem die innere Realität quasi als Subtext mitzuerzählen. In jener Erzählung beispielsweise, in der die Icherzählerin das Kind Alma in der Großstadt nach einem gemeinsamen Zoobesuch verliert, ist das Spiel zwischen Phantasie und Realität bewusst kalkuliert, denn es geht darin um „nackte Angst“ als innere Realität von Bedrohung. Ein Gorilla im Zoo wird zur allegorischen Metapher und die Ereignisse, die sich daran knüpfen, machen das Gefühl existentieller Bedrohung – die als reales Geschehen nicht nur sprachlich schwer vermittelbar ist – sichtbar. Symbolhafte Handlungen und allegorisches Erzählen - darin reicht die Autorin dem erzählerischen Erbe Franz Kafkas die Hand, der schon sagte: „Der Traum enthüllt die Wirklichkeit, hinter der die Vorstellung zurückbleibt.“

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Hans Salcher, Weißgekalkt.

Innsbruck: Skarabaeus, 2001, 69 Seiten.

Weißgekalkt - ein solches Wort als Titel ruft unweigerlich Bilder von weißen Mauern in Griechenland, von apulischen Trullis ins Gedächtnis oder vertrauter und näher: von Gemäuern und Wänden alter Bauernhöfe. "Weißgekalkt" hat etwas von stilisierten Kalendermotiven, klingt nach solidem Handwerk und nach Malerei und das ist gar nicht so weit hergeholt, denn der Osttiroler Dichter Hans Salcher ist auch ein Maler. So hat er die kleinen Texte seines neuen Buches mit wenigen Strichen und Linien illustriert, mit einfachen Zeichen wie in Höhlenmalereien oder auf Felsen - Wegmarken, die den Weg des literarischen Bergwanderers durch die 21 Prosaminiaturen des schmalen Bandes begleiten. "Mitten im Dorf", heißt es, steht ein Haus, das ist "weißgekalkt, hat achtzehn kleine Fenster. Der Blick daraus ist von einer Schönheit, den nur Kinder in ihren Augen tragen. Das Blau fließt ins Herz und in die Launen des Tages." (S. 10).
Heimathaus, Kindheit, Dorf und Land umkreisen Salchers zarte Prosaminiaturen, die in das Panorama der Bilder- und Erinnerungswelt des Autors ziehen. Es sind dies Bilder der bäuerlichen Kleinwelt, die im Rückblick wiederkehren, die viel Nähe zur Natur erahnen lassen. Die sparsam und bewußt verwendeten Motive der ländlichen Umgebung sind arrangiert zu verschmitzten, heiteren, manchmal zart-traurigen Kürzest-Geschichten. Wie macht er es nur, denkt man sich beim Lesen immer wieder, daß die Idylle in manchen dieser Texte nicht zum Kitsch verkommt, Melancholie nicht sentimental wird und daß die Momente der Schönheit, die Salcher in seinen Texten einfangen will, nicht abgleiten in die Stereotypen von Postkartenansichten.
Vielleicht rührt der Reiz von Hans Salchers Texten, daß sie vom Naheliegenden, man möchte beinahe sagen: vom Beiläufigen handeln, von den Alltäglichkeiten, in denen sich die Gesten und Gewohnheiten der Menschen verfangen.
Die Sprache dieser Prosaminiaturen ist von wohltuender Einfachheit. Sie erinnert an die kunstvolle Kurzprosa norbert c. kasers, die auch von einer fotografisch genauen Wahrnehmung ihre Faszination bezieht. Die richtigen Worte zu finden für das ganz Gewöhnliche ist die Kunst: "Zunachten / Die Sonne am Himmel wird kalt und tausend / Sterne tragen die Kinder ans Bett. / Die Mutter singt / das Abendlied. Die Katze vor dem Haus spielt im / Licht der Scheinwerfer. / Der Arbeiter trägt seinen / müden Körper zum gedeckten Tisch. Am Bett die / große Uhr, die den Morgen speichert, der / Hammer an der müden Glocke lauert dem / Morgen auf."(S.45) In solchen Sätzen stimmt jedes Wort und steht am richtigen Platz. Nur das Allernötigste kommt zur Sprache. Diese Reduziertheit konzentriert die Bilder und macht sie eindringlich. "Der Trinker" (S. 25) zum Beispiel: Zehn lakonische Sätze, zehn lose aneinandergereihte Beobachtungen erzählen die Geschichte eines Säufer-Daseins samt Elend und Trostlosigkeit. Es ist überhaupt die Stille zwischen den Zeilen, die Zwischenräume für Ungesagtes läßt - einen Freiraum wie der weiße Malgrund, von dem sich die Zeichen abheben. Und immer wieder ist die Landschaft der Berge Motiv der Texte von Hans Salcher. Er schreibt poetische jedoch in keiner Weise entrückte Naturbetrachtungen, und mehr noch schreibt Salcher von den Beziehungen der Menschen zur Natur und der Menschen zueinander. Dabei werden mitunter magische Augenblicke des (Kindheits-)Erlebens sichtbar. Sensibel beobachtet, gradlinig und schweigsam erzählt ist den Texten ein meditativer Zug eigen, der eine Langsamkeit bewirkt und vielleicht eine "Sprache der Berge" erahnen läßt, die der Autor sich zu Herzen und als Motto nahm.

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