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Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Erika Wimmer 

 

   

 
Siegfried Nitz, Fieber68.
Roman.
Bozen: Raetia 2014
 
Nachgelassenes Fieber?

Die Gegenwart bietet zwar Machtverhältnisse wie ehedem, sie bietet Unrecht, Skandale und Krisen in Mengen, jedoch kaum noch gesellschaftliches Engagement gegen ebendiese. Da greift der kritische Zeitgenosse gern nach besseren Zeiten, auch wenn sie nicht nur lang vorüber sind, sondern kaum Spuren hinterlassen haben. Tendenzen, gegen die man in den späten 1960er und in den 1970er Jahren protestierte und durchaus unter Anwendung von Gewalt kämpfte, haben sich schließlich doch durchgesetzt, sie sind heute zur einzementierten Selbstverständlichkeit geworden. Das „Fieber“ von damals hat nicht nur nachgelassen, es existiert so gut wie gar nicht mehr; in Nitz‘ Buch aber wird es noch einmal beschworen – fast so, als könne solches Erbe im Jahr 2014 doch noch angetreten werden.

Für den zeithistorisch interessierten Menschen bietet das Buch so manches. Nitz stellt unter Nennung der Quellen jene Bewegungen und Ereignisse zusammen, die Südtirol betroffen oder besser gesagt: gestreift haben. Das ist interessant, findet man doch das eine oder andere Detail bzw. Stimmungsbild, das darauf schließen lässt, dass „das Land in den Bergen“ nun doch nicht ganz unberührt geblieben ist von der europaweiten Studenten- und Arbeiterbewegung, die als die 68er in die Geschichte eingegangen ist. Die Lektüre des Buches ergibt letztlich, dass diese Bewegung nur einen verschwindend kleinen Teil der Südtiroler Jugend erreichen konnte, dass das Fieber nur ein winziges Bevölkerungssegment erfasste und die Mächtigen, vor allem die Monopolpresse Dolomiten, alles daran setzte, kritische Aufwallungen jedweder Art im Keim zu ersticken. Man musste denn als Südtiroler, der wirklich mitmachen wollte, woanders hingehen, und man ging eher nach Italien als nach Deutschland oder Frankreich. LC, Lotta Continua, übte als italienische Linksbewegung und teilweise auch als Kampftruppe eine gewisse Faszination aus. Der Autor scheint sich dort ausgekannt zu haben, er erzählt quasi aus einer Innenperspektive, er kann die Schwelle vom berechtigten Anliegen zur Kriminalität spürbar machen und er wirft – bei allem Respekt für die extremen linken Kräfte in Italien – auch ein kritisches Auge darauf.

Nitz macht anhand ausgewählter (real existiert habender) Figuren deutlich, wie borniert die Verhältnisse in Südtirol waren, wie hermetisch abgeriegelt sie sich gegenüber dem Weltgeschehen, etwa dem Vietnamkrieg einerseits und den Anliegen der Jungen andererseits gaben. Hier wird für die junge Generation der Gegenwart etwas festgehalten, was wichtig ist: Ohne vorausgehende Entlarvung der gewohnten Machtverhältnisse lässt sich jenes Lebensgefühl, das die 68er für sich entdeckten und das der heutigen Jugend fehlt, nicht finden. Man muss zuerst Altes niederreißen, damit sich das Neue zeigen kann – und damit verbunden sind Risiken, die man bereit sein muss einzugehen. Die Kritik am  Imperialismus und die Verbundenheit mit den geschundenen Völkern auf der anderen Seite der Erdkugel, das Leiden am Unrecht und das Eintreten für Gerechtigkeit zählten zum Lebensgefühl der 68er ebenso wie die Ablehnung von Autoritäten, eine befreite Sexualität und die Forderung nach Bildung für alle.
 
Man kann mit dem Buch in der Hand einiges lernen, anderes wiederentdecken, man findet spannende Zitate aus Literatur und Presse und erhascht einen Blick auf nicht mehr zugängliche politische Gruppierungen; man wird an Dinge erinnert, die man schon vergessen hatte, man wird zum Nachdenken angeregt und ahnt, was die kritischen Köpfe von damals bewegt hat, was sie überhaupt aufgescheucht hat. Im Anstoßen von Bewusstsein und Erinnerung sehe ich den Wert des Buches und empfehle es all jenen, die das 68-Thema bis heute sachlich interessiert, und zwar deshalb, weil es letztlich ein universelles Thema ist. 
 
Aber: Das Buch ist, obwohl es das behauptet, gewiss kein Roman – und genau das ist schade und gerät ihm letztlich zum Nachteil. Obwohl eine Gruppe von Freunden (ob es fiktive oder reale Figuren sind, spielt eigentlich keine Rolle) in wiederholten Abschnitten zu Wort kommen, zum Beispiel in Form von Briefen und Postkarten, obwohl da und dort ein gewisser Einblick in ihr Tun und Lassen gewährt wird, bleibt diese Erzählschicht merkwürdig bruchstückhaft und letztlich auch lauwarm und dünn. Hätte Nitz wirklich einen Roman geschrieben und Charaktere geschaffen, die die 68er in Südtirol durchlebt und vielleicht auch durchlitten haben, so wäre vielleicht einiges an Dokumentarischem darin nicht unterzubringen gewesen, aber es hätte zumindest die Chance bestanden, nicht nur den Kopf, sondern auch den Bauch und das Herz der Leser anzusprechen, sie hineinzuziehen in das titelgebende „Fieber“, in jenes „neue Lebensgefühl“, jenes „Aufschäumen“ (Signalwörter aus der Rückseite des Umschlags), um das es Nitz doch zentral geht, das er aber selbst in der Kreisbewegung zwischen Dokumentation, Tatsachenbericht und etwas vage bleibender Narration verloren zu haben scheint.

  

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Toni Kleinlercher, Die Obdachlosen lesen Nietzsche.
Takes aus japanischen Tagen. Mit Kalligrafien von Murota Kosai.
Wien: Klever Verlag 2012

Japanische Impressionen – bei Toni Kleinlercher werden sie Takes genannt. Einmal abgesehen von den jüngsten Eindrücken eines zerstörten rauchenden Reaktors am Meeresstrand von Fukushima hat fast jeder westliche Mensch ein paar Japanbilder in sich gespeichert: eine traditionelle Robe oder das schwarze hochgesteckte Haar einer Geisha, bunte, mit schönen Schriftzeichen gezierte Lampions, ein gepudertes Gesicht, ein Shinto-Schrein, kleinschrittiges Laufen in Holzpantinen oder die höfliche Verneigung eines Geschäftsmannes. Andererseits ganz zeitgenössisch: Hochbahnen und überfüllte U-Bahnen, das der Stadt übergestülpte grelle Reklamegewand, die gebleichten und anschließend hennagefärbten Haare junger Leute, in den Konsumtempeln Sony, Honda, Toyota usw. 
     Nippon – das Inselreich mit der schönen Nationalflagge ist für einprägsame Bilder immer gut. Das Land ist einerseits geeignet, die Lust auf Exotisches zu befriedigen, andererseits die Sehnsucht nach Kontemplation und Stille zu wecken. Vielleicht hat man im Westen schon allein deshalb so plastische Japanbilder im Kopf, weil die beiden gebräuchlichen Schriften im Grunde auch gemalte Bilder sind, was vor allem die ältere Schrift Kanji, aber auch das jüngere Hiragana betrifft.  
     In seinen Texten – das kleine Buch bietet drei Teile – arbeitet Kleinlercher mit den gängigen Bildern, doch er belässt es nicht dabei. Der Autor hat in Tokio gelebt und gearbeitet, er kennt sich aus und verfügt über Alltagserfahrungen. Immer wieder wirft er einen Blick hinter die bekannt schönen oder auch bekannt irritierenden Bilder Japans. Und Kleinlercher ist ein Sprachspieler.
     Der erste Teil des Buches stellt eine Sammlung von Prosaminiaturen dar, in denen Alltags-Beobachtungen, Bräuche und Feste, aber auch kulturelle Phänomene des alten Japan, etwa rituelle Zen-Praktiken, reflektiert werden. Das klingt dann leicht kurios-exotisch; hier zwei Beispiele:

Nicht scharf ins Gericht, milde durch den Tag gehen, tingeln. Laufen lassen. Hat das Gestern kein Gewicht. In diesem Land. Geschichte ist Geschichte ist vorbei. Die Leute haben das Zen im Blut. […] (S. 28)

Heute treffen sich die Sterne zu einem Tète-à-Tète. Tanabata! Das Fest der Liebe, der Himmelsprinzen. Oriheme und Hikoboshi dürfen sich in die Arme nehmen, heute dürfen sie sich küssen. Hat jeder einen Wunsch frei heute, schreibt man auf kleine Zettelchen und hängt diesen auf einen Zweig. Es ist ein rituelles Leben, das man führt in diesem Land. […] (S. 30)

Doch neben Passagen wie diesen, in denen das Fremde dokumentiert und zugleich mit einem Hauch von Faszination umgeben wird (was die zwischen den Texten eingestreuten Kalligrafien noch unterstreichen), finden sich auch solche, die auf einen recht kritischen Blick des Autors schließen lassen. Auf Reflexion folgt da und dort auch Dekonstruktion, etwa dann, wenn kurze fragmentierte Sätze einen Sachverhalt behutsam an den Rand des Fassbaren, ins Unlogische ziehen. Es ist der Versuch, allzu Glattes aufzurauen, der Wunsch, die Sprache in ihre Teile zu zerlegen.
     Im zweiten Teil des Buches wird Kleinlerchers Intention noch deutlicher, hier werden Tankas – paraphrasierende Dekompositionen im Tiroler Dialekt (regional gemischt) – vorgestellt. Als Textquellen sind drei bestehende Lyriksammlungen in deutscher Übersetzung angegeben, etwa die älteste erhaltene Anthologie aus dem Jahr 759 (S. 51). Das Verfahren, einmal den Text im Deutschen zu dokumentieren, ihn durch eine neue Dialekt-Version aber auch gleich wieder zu verfremden, ist prinzipiell reizvoll, eine vergnügliche Lektüre garantiert überdies der ironische Touch dieser Gedichte.
     Der dritte und im Umfang größte Teil des Buches uguisu in den bueschen ist ein Gedichtzyklus in 55 Teilen (S. 72). uguisu, so das Glossar, heißt im Japanischen Singvogel:

uguisu in den bueschen
bellen stadtfuechse vor
haeusern
schreinschoenheiten
frost im wald

im landeanflug traumfragmente
aufgehaeuft zur birnenburg

verschwendungen
blanchiert in vager hoffnung
schaumgekellt
spaghettiflaggen flugs
gesetzt

Man sieht, der Singvogel dieser Lyrik preist keine romantischen Vorstellungen über dies Land im fernen Osten und keine heile Welt. Er besingt reklamefluten, erbrochenes auf allen wegen, das tagtaegliche menschenbad von shinjuku, den metropolensand… typische Auswüchse einer in Ausdehnung und Population riesigen Stadt. Doch ist es vielleicht weniger die Irritation als das einfache Hinschauen, also die Realität, um die es Kleinlercher geht. Dass die Wirklichkeit von Tokio und Umgebung weder schön noch hässlich, sondern beides zugleich, also zu einer neuen Qualität verquirlt ist (auf fensterbalken bluemchen, auf feuerwaenden woerter, S. 97) machen diese Texte in wundersamer Manier deutlich. In ihrer experimentellen Verspieltheit geben sie sich luftig und manchmal auch ein wenig holprig, ganz leicht zu lesen sind sie jedenfalls nicht.
     Mit der Nase im Buch schnuppert man hier tatsächlich ein wenig japanische Luft. Doch genauso wenig wie die Lektüre klärt, ob und weshalb die Obdachlosen Nietzsche lesen,  ist man am Ende über das Land und seine Menschen wirklich schlauer geworden. Und das ist auch gut so.   

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Kei Kimura/Maketa Smith-Groves, Once Upon a Time/Es war einmal FUKUSHIMA.

Hrsg. v. Peter und Renate Giacomuzzi. Übersetzungen aus dem Englischen von Isabella König
Zirl: Edition Baes, 2012

Eine Japanerin, eine Amerikanerin, Fukushima und dann auch noch zweisprachig Deutsch-Englisch – mitten in Tirol? Das macht neugierig.
     Die Welt ist groß und weit – so ein (Süd-)Tiroler Heimatlied. Während dieses Lied aus einer Zeit stammt, in der manchen die große Welt bloß als Kontrast zu ihrer kleinen und vor allem zu ihrer eigenen zu fungieren hatte („das allerschönste Stück davon ist doch die Heimat mein“), wird heutzutage in der Literatur gern so etwas wie Weltoffenheit proklamiert. Aus gutem Grund: die Welt wird kleiner und kleiner. Wir können weltweit ungehindert kommunizieren und uns durch die Lüfte rasch von da nach dort bewegen, wir können andererseits aber auch die großen Katastrophen nicht mehr auf ein und nur ein Gebiet begrenzen.
     Das Fukushima-Desaster stellt in Once Upon a Time den aktuellen Fokus dar, doch den Herausgebern geht es um etwas Allgemeineres. Und Spontaneinfälle bringen oft interessante Resultate. Renate und Peter Giacomuzzi, die selbst viele Jahre lang in Japan gelebt und gearbeitet haben, schildern in ihrem Vorwort, wie es zu der kleinen Ausgabe kam.
     Bald nachdem man wieder einmal einen Japanbesuch gemacht hatte, kam es im März 2011 zu einem verheerenden Erdbeben, das Japan langfristig verändern wird: Ein Tsunami zerstörte in Fukushima Reaktoren. Kei Kimura, eine ältere Dame und Freundin der Familie, schickte unter dem Eindruck der nuklearen Bedrohung E-Mails nach Europa, sie schilderte, was geschehen war und weiter geschah, was ihr angesichts des mehr und mehr durchsickernden Ernstes der Lage durch den Kopf ging. Eine sozusagen direkte Information abseits der Medien. Es waren persönliche, aber keine reinen Betroffenheitstexte, die den Herausgebern da ins Haus flatterten; Texte über den Alltag nach dem Trauma, Reflexionen zum Hintergrund des „Unfalls“; Texte gegen die Ohnmacht, die manchmal auch in philosophischen Überlegungen über Sinn und Unsinn des Weltenlaufs mündeten. Kei Kimuras Freunden gingen die Briefe nahe, sie stimmten nachdenklich.
     Und dann stand eines Tages, gerade als man dem Abendessen die letzte Würze geben wollte, die afroamerikanische Dichterin Maketa Smith-Groves als Gast in der Küche. Der Einfall kam wie von selbst: Smith-Groves Gedichte und Kimuras E-Mail-Texte in eine Reihe und in einen Zusammenhang zu stellen – gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille – schien nur logisch zu sein. Smith-Groves war eine Autorin, die auf Sätze wie diese eine Antwort geben konnte: „[…] viele von uns spüren irgendwo tief drin, bewusst oder unbewusst, dass wir selbst verantwortlich sind für diesen Unfall, dass wir selbst diese tödliche Kalamität verursacht haben. / Jeden Tag versuche ich, normal zu leben. / Seiltänzer sind wir. Jeden Tag aufs Neue.“ (Kimura, S. 95, 96, 97)
     „Was – abgesehen vom kulturellen Kontext – unterscheidet mein Leben in Amerika von dem der Burakumin in Japan?“, schreibt Smith-Groves (Burakumin sind eine diskriminierte japanische Minderheit) und führt den Zusammenhang zwischen sogenannten Naturkatastrophen und der weit verbreiteten Diskriminierung bestimmter Ethnien vor (S. 147f). Sie verweist auf den scheinbar unüberwindlichen Spalt zwischen dringend notwendiger Toleranz und weiterhin grassierendem Hass, auf ein Herrschaftsdenken, dessen Folge früher oder später Rücksichtslosigkeit und Gier sei, was schließlich zur unweigerlichen Entwertung ALLER Menschen führe: „Wir nehmen uns, was wir wollen, ohne Rücksicht auf Verluste.“
     Kimura und Smith-Groves treten in diesem Buch in einen ungekünstelten Dialog und erweitern das „Thema Fukushima“. Beide Autorinnen sprechen von dem Wissen, dass es da real keine menschliche Macht gibt, dass es letztlich nur dieser „schöne, schwebende Himmelskörper Erde“ ist, der uns weiterhin am Leben erhält. Macht ist konstruiert, ist Illusion. „Der Planet Erde ist mächtig und voller Kraft, aber nicht unendlich.“ (Smith-Groves, S. 149) Wir wissen um die Tatsache, dass wir nur als Partner, nicht als Herrscher überleben können. Die Frage ist nur, ob wir imstande sein werden, das noch rechtzeitig in Handlung zu übersetzen.
     Doch Kimuras Brieftexte und Smith-Groves Gedichte sind nicht nur Mahnungen, nicht nur Ausdruck politischen Engagements, sie sind auch ganz einfach Literatur, eine Literatur, die eingreifen und erhellend wirken will und doch ästhetisch-literarisch anspricht.
     Smith-Groves gehört seit jeher zu jenen Poeten der „Beat-Generation“, die keinen Unterscheid machen zwischen Kunst und Leben oder Kunst und Politik. Auf politische Fragen literarisch zu antworten, war und ist ihnen das Natürlichste. Und so haben es auch die Herausgeber gesehen: „Wir wollten irgendetwas ‚zu Fukushima‘ beitragen und wir haben es in der einzigen Form getan, die wir meinen, uns zutrauen zu können: Wir haben ein Buch gemacht.“ (S. 83) 
     Der Edition Baes ist zu danken, dass sie einmal mehr Randständiges in ihr Programm aufnimmt. Im Literaturbetrieb wird dieses Buch nicht groß auffallen, bei der einzelnen Leserin, dem einzelnen Leser könnte es aber seine Wirkung tun.    

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Roberta Dapunt, Nauz.
Gedichte und Bilder.
Bozen Wien: Folio Verlag 2012

Roberta Dapunts erste ladinische Lyrikveröffentlichung mit deutscher Übersetzung (auf Italienisch sind bereits mehrere Lyrikbände erschienen) richtet das Augenmerk auf den Vorgang des Schlachtens, und zwar in seiner ursprünglichen Form, also auf einem Bauernhof. Nachdenklichkeit, doch auch das Bewusstsein vom Nutzen, der aus der Tötung des Tieres, in unserem Fall eines Schweines, entsteht, durchziehen den kleinen Band. In den Blick genommen wird „die hiesige Wahrheit, die der Nase für wenige Minuten im Jahr den Geruch eines entlassenen Herzens gewährt. Üppig gedeckt ist unsere Tafel, wiederkäuen werden wir das unbestattete Tier.“ (S. 6)

Während die abgebildeten schwarz-weiß-Fotografien die reine Schlachtung und anschließende Fleisch-Verarbeitung dokumentieren, betten die Texte den Vorgang in eine Umgebung, örtlich wie kulturell. Die 30 Bilder illustrieren nicht, sie geben den 18 zum Teil sehr kurzen lyrischen Texten erst die Kontur. Sie proklamieren deutlich, was sprachlich zwar nicht evident gemacht wird, worauf die Texte offenbar aber doch auch abzielen: die Notwendigkeit des klaren Blicks auf das Geschehen – ein Blick, der trotz der Alltäglichkeit des Schlachtens vom Menschen immer wieder aufs Neue geleistet werden muss. Töten und dabei wegschauen, so scheint die Autorin sagen zu wollen, ist nicht fair. Die Aufmerksamkeit, die hier dem Vorgang geschenkt wird, könnte als eine Art Dank-Geschenk an das durch und für den Menschen zu Fall gebrachte Tier gedeutet werden. Obwohl die bildlichen Darstellungen den einen oder anderen Betrachter grausam erscheinen mögen, ist es aus meiner Sicht gerade dieser klar eingenommene Standpunkt, der das Buch zu einer überzeugenden Auseinandersetzung mit einem wesentlichen Teil des traditionellen bäuerlichen Lebens, der Tierschlachtung, macht. Die dabei verwendeten Stilmittel könnten schlichter nicht sein, auf Dramatik wird verzichtet.

Die Umgebung, skizziert durch die Texte, ist konkret festzumachen: Das Dorf Abtei, ein Bauernhof, der Stall, der Hof vor dem Stall als Schlachtort, die Küche, das Haus. Dann die umgebende Natur, vor allem das Wetter: die winterliche Jahreszeit, in der auf den Höfen geschlachtet wird, der Schnee, die Kälte. Das Bild des Blutes auf dem Schnee ein wieder kehrendes archaisches Bild, Blut auf Schnee, frischer Schnee auf Blut. Die Zugaben: Schüssel, Trog, Haken, Spreu, aber auch die durch das Haus wehenden Essensgerüche, der Duft von Fett, von Kräutern. Die Wahrnehmung dieser Umgebung ist angenehm frei von Romantisierung, es wird gesagt und gezeigt, wie es ist. Ähnlich die Menschen, alle nur angedeutet: ein gewisser Lois, vielleicht der Bauer, eine Nachbarin, die beobachtende Frau, die Arbeit der Menschen, die alltäglichen Verrichtungen, die Mühen und nicht zuletzt auch die Ausbeutung. Eine wichtige Rolle spielt auch die Ausübung der Religion, die Feste und kirchlichen Rituale sind Bezugspunkte. Den menschlichen Sinnen, allem voran der Geruchsinn, kommt Bedeutung zu, man spürt auch als Leser die Kälte draußen, man nimmt den Dampf der Küchen und  die durchs Haus wehenden Düfte wahr. All das wird nicht gerade auf nüchterne Weise, doch jedenfalls wie beiläufig aufgegriffen.

Trotz ihrer Schlichtheit ist die Sprache nicht unpoetisch, die Autorin findet zahlreiche eindrückliche Bilder und sie schafft Atmosphäre. Hier kommt die Zweisprachigkeit des Bändchens ins Spiel. Die ladinischen Originaltexte Dapunts wurden von Alma Vallazza ins Deutsche übertragen. Die Übersetzungen scheinen im Großen und Ganzen gelungen zu sein, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass die Texte im Original (bei jenen Leserinnen und Lesern, die des Ladinischen mächtig sind) eine wesentlich stärkere Wirkung zu erzeugen vermögen. Allein der Klang des Ladinischen passt wohl besser zur Ursprünglichkeit der hier geschilderten Welt als das hochsprachlich Deutsche.

Das einzige Foto, das nicht direkt die Schlachtung betrifft, ist die Darstellung von Jesus am Kreuz (S. 21), und das ist wohl gewiss kein Zufall. Die Beobachtungen und Reflexionen des lyrischen Ichs stehen in Zusammenhang mit einem religiösen Denken und Empfinden, die Zwiesprache mit Gott ist der durchgehende Bezugsrahmen, das Gebet die vorgegebene Form des Sprechens mit dem Göttlichen. In diesem Sinn könnten einige der Gedichte ganz direkt als Gebete bezeichnet werden, auch dann, wenn es heißt „kein Gebet“: „Und du, Beharrlicher, suchst für mich nach einer Sprache zum Beten, / wo ich doch frei bin von jeder Vertraulichkeit. / Für mich bleibst du eine Nebelbank hoch oben / in einem Himmel, der mehr ist als sein strahlendes Blau.“  (S. 56)

Vom „Kreislauf der Natur“ ist im Klappentext die Rede: Das Schlachten und Verwerten eines Schweines wird nicht in Frage gestellt, doch der Zugang ist gekennzeichnet durch eine besondere Achtung für das Tier. Trotzdem wird der Vorgang nicht als ein „völlig natürlicher“ legitimiert. Bei Roberta Dapunt wird die Gewaltsamkeit des jährlichen Tötungsrituals, gewissermaßen die Herrschaft des Menschen über das Tier, keineswegs verschleiert, sie wird sogar betont – gerade eben durch die bildliche Dokumentation vom Moment des Tötens bis hin zum Daliegen eines Haufens von dampfenden (also noch warmen) Fleisches. Doch über all dem scheint Jesus zu wachen, Jesus im Himmel, Jesus am Kreuz. Kann sein, dass es die Religiosität des lyrischen Ichs/der Autorin ist, die Mensch und Tier letztlich nicht als Gegner begreifen, die die Täter und das Opfer zusammen rücken lässt.    

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Sabine Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht.
München: C. H. Beck Verlag 2011

Non gridate piú / Schreit nicht mehr

Eine Frau entdeckt in der Wohnung ihrer plötzlich verstorbenen Freundin Ines ein Roman-Manuskript, das die Geschichte eines ehemaligen Südtiroler Dienstmädchens in Italien, später durch Heirat Chefin eines römischen Hotels geworden, erzählt und zugleich im Rom des Jahres 1978, dem Jahr der Entführung und Ermordung Aldo Moros, spielt. Die Frau, Clara Burger, selbst auch Autorin, soll die Hinterlassenschaft ihrer Freundin regeln, sie trifft dabei Paul, der die Tote gekannt hat: Mit ihm, dem Zeithistoriker, teilt sie das Interesse für die politische Gegenwart, für Faschismus und NS-Zeit in Italien, mit ihm lässt sie eine in die Sackgasse geratene Ehe zurück, um – vielleicht – eine neue Liebe zu beginnen.

Zwei ineinander verzahnte, jedoch parallel erzählte Geschichten werden allmählich entfaltet. Ein Netz von Bezügen und Beziehungen wird gewoben, Spannung aufgebaut und wieder gebrochen. Konventionell erzählt, doch da und dort ungemein poetisch, aufgeladen mit zahlreichen zeithistorischen Informationen wird in diesem Roman von Faschismus und Verbrechen, von Verrat und Liebe, vom Leiden an den Bedingungen und vom Besonderen im ganz normalen Leben erzählt. Jede Figur erhält ihre spezifische Schattierung, von der Autorin sensibel aufgespürt und präzise komponiert, sodass der stark zeithistorisch angelegte Roman doch in erster Linie menschliche Schicksale aufwirft – sie allerdings konsequent im Licht der historischen Ereignisse deutet. Die Autorin hat in römischen Archiven, in der Presse von damals, im Gespräch mit Zeitzeugen genau recherchiert, um ein Stück Geschichte auch ganz präzise erzählen zu können. Stillbach, ein fiktiver Ort in Südtirol, wahrscheinlich im Burggrafenamt, gerinnt dabei zur Metapher für Widersprüche, zu einem Ort also, den man gern hinter sich lässt, mit dem man sich aber dennoch zeitlebens auseinandersetzt, nach dem man sich letztlich sehnt.

Die Grundstruktur des Romans, das erzählte Manuskript einer anderen Person, die Aufarbeitung nach einem rätselhaft bleibenden Tod, das Erinnern und langsame Enthüllen, ist klassisch, jedenfalls hat man solche Sujets schon kennen gelernt. Doch es gelingt Sabine Gruber, die ausgelegten Schablonen mit Leben zu füllen, einem Leben, das nach Wirklichkeit schmeckt, überzeugend ist und doch neue Sichtweisen auf schon Gehörtes anbietet. Die Figuren sind spannend, sensibel und mehrschichtig, gezeichnet, besonders Paul, aber auch Nebenfiguren wie die Köchin des Hotel Manente, eine Faschistin, oder ein italienisches Dienstmädchen, das aus den urbanen Randgebieten stammt und in den späten 1970ern der gewaltbereiten Linken in  Italien angehört. Der Hauptfigur Emma Manente, das zur Hoteliersgattin und Chefin gewachsene Dienstmädchen aus Stillbach, glaubt man nicht immer die breiten Reflexionen über historische Ereignisse, ihr Nachdenken ist wohl eher eine literarische Strategie, damit diese Ereignisse erzählt werden und die Leser erreichen können. Emma bleibt über weite Strecken merkwürdig blass. Doch am Ende, als Clara Burger das Manuskript ihrer Freundin Ines an der Wirklichkeit überprüft und die real existente Frau im römischen Altersheim besucht, wird plötzlich etwas lebendig, entsteht mit einem Mal ein scharfes Charakterbild dieser Frau: Sie eine starke, selbstbewusste und interessante Person, deren altersbedingte Schrulligkeit zu berühren vermag. Die Begegnung zwischen Emma und Clara ist kurz, jedoch meisterhaft erzählt. Und so gibt es in dem Buch viele Passagen, die nicht nur Sabine Grubers politisches Engagement erkennen lassen, sondern sie auch als großartige Erzählerin ausweisen.

Stillbach oder Die Sehrnsucht ist ein Buch, das man mit Vergnügen liest und das einem dennoch, zumal als Tiroler oder Südtirolerin, zahlreiche Facetten der eigenen Geschichte oder Landesidentität eröffnet, ja begreifbar macht. Mit diesem detailreichen und poetischen Roman könnte Sabine Gruber Joseph Zoderer die Rolle des ‚Südtiroler Platzhirschen‘ in der deutschsprachigen literarischen Szene abspenstig machen. Das voran gestellte Gedicht von Giuseppe Ungaretti Non gridate piú, dargeboten im Original wie auch in einer Übersetzung von Ingeborg Bachmann, verweist zudem auf eine literarische Tradition, der sich die Autorin offenbar verpflichtet fühlt: zu Recht.    

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primär & sekundär

Andreas Erb (Hg.), HändlKlaus: Auf Umwegen
Duisburg-Essen: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2011 

 

Die Herausgabe von Büchern, die sowohl Primär- als auch Sekundärtexte enthalten, ist meist nicht ganz unproblematisch, finden solche Publikationen doch nicht ohne weiteres das „richtige“ Leserpublikum. Die einen wollen nur belletristische Texte lesen. Andere befassen sich beruflich mit Literatur, sie suchen nach dem für die eigene Arbeit passenden „Stoff“, ihnen ist ein literarisch-essayistischer Band womöglich zu wenig stringent. Auch bei dem hier zu besprechenden Buch stellt sich die Frage: Für wen ist es gedacht? Werden Händl-Leser, Händl-Kenner oder allgemein an neuer Dramatik Interessierte angesprochen – und ist es überhaupt das Drama, das Bühnenstück, das in diesem Band im Vordergrund steht oder geht es ganz allgemein um ungewöhnliche literarische Verfahrensweisen, exemplarisch vorgeführt anhand eines sprachreflektierenden Autors? Der Tiroler Händl Klaus ist zwar vorwiegend als Dramatiker bekannt geworden, schreibt aber auch Prosa, die ihrerseits etwas mit Lyrik zu tun hat, außerdem verhält er sich auch in seinen Stücken nicht herkömmlich dramatisch…

Wie auch immer: Der im Universitätsverlag Rhein-Ruhr erschienene Band würdigt ganz einfach einen Autor, er würdigt Händl als „Poet in residence“ an der Universität Duisburg-Essen im WS 2009/10 und als Träger des „Kunstsalon-Autorenpreises 2011 für das Schauspiel Köln“, er tut dies anhand von Händl-Texten wie auch anhand von acht Essays und einer Laudatio. Das ist so nachvollziehbar wie legitim, die Frage nach dem Zielpublikum mag zweitrangig gewesen sein. Trotzdem: Will man ganz einfach Händls Schreibweise kennen lernen, wird man wohl enttäuscht sein – nicht eigentlich von den Texten selbst, obwohl diese nur in Ausschnitten gedruckt sind, die Bühnenstücke zumal, daneben finden sich noch einige bisher unveröffentlichte Prosatexte. Enttäuscht ist man wohl aber vom Stellenwert, der den Primär-Texten in dem Buch unausgesprochen zukommt: Sie wirken wie „Proben“ aus der Werkstatt, wie Beispieltexte, und das ist eigentlich schade.

Als Literaturwissenschaftlerin durchforstet man jedoch mit Interesse die im zweiten und etwas umfangreicheren Teil gereihten Essays über Händls Literatur, verfasst von Theater- und Universitätsleuten. Mag man Händls Prosa und Dramatik, so liest man gespannt nach, was andere davon halten und wie sie ihre Einschätzungen begründen. Man lässt sich gern von den dargebotenen Textauslegungen, von Thesen und interpretatorischen Ergebnissen wie auch von literaturwissenschaftlichen Thesen anregen, bringt das Gelesene in Verbindung mit bereits gefassten Eindrücken und freut sich über die eine oder andere neue Sichtweise. Interessante Einblicke ergeben sich bereits dann, wenn die Literaturwissenschaftlerin einige Tage lang den Band auf dem Nachtkasten liegen hat und jeweils vor dem Einschlafen ein wenig darin liest.

Wirklich Feuer fangen wird man aber wohl erst dann, wenn man zielgerichtet nach diesem Buch greift, etwa weil man als Literaturforscher gerade an einem verwandten Thema, über einen vergleichbaren Autor oder eine ähnlich gelagerte literarische Situation arbeitet. Vor allem, wenn man sich textkritisch und ganz konkret mit Händl Klaus beschäftigt, wird  man sehr angetan sein. In einem solchen Fall ist die Lektüre des Bandes Auf Umwegen unbedingt zu empfehlen: Die Essays zeigen, dass ein Diskurs über Texte und deren Ästhetik, dass also Literaturwissenschaft angenehm ungezwungen betrieben werden kann und ohne allzu viel hochgestochene Diktion auskommt, ohne dabei ins Seichte abzurutschen. Die publizierten Essays – besonders erwähnt sei jener des Herausgebers Andreas Erb und ein Aufsatz über Händls Poetik von Fabian Lettow – zeugen in Summe von beachtlicher Kompetenz und vor allem auch von Zuneigung für den Autor und seine Texte. Es sind Essays, die der Eigenart, dem nicht leicht zu Fassenden, Bruchstückhaften und Zerfallenden (siehe Prolog von Händl Klaus), zugleich scheinbar Unbekümmerten, darin aber durchaus Heimtückischen  (siehe Andreas Erb, S. 78) in Händls Schreiben gerecht werden. Abgesehen von seinen Qualitäten steht der Band aus Duisburg ohnehin ziemlich einzigartig da, literatur- und theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Händl sind bislang nicht eben zahlreich und insofern steht das Buch am Anfang einer längeren Entwicklung, in der hoffentlich viele weitere literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen folgen werden.

Denn Händls Poetik ist für die Gegenwart relevant und wird dies wohl bis auf Weiteres auch bleiben: „Dramenpoetik – in meinem Fall ist das Zerfall, mir zerfällt alles, und am Ende ist es ‚in sich zerfallen‘, und das ist auch schon alles. Ich muß dauernd Umwege gehen, weil mir, wovon ich ausgehe, als ginge einem die Sonne auf – so sonnenklar, so stark steht es doch vor mir –, zerfällt, sobald ich es hinsetzen will.“ Er, so Händl, gehe Umwege und umkreise nur, er mache eine Art Gipsabdruck, den Schauspieler und Regisseur aufsprengten, und ihm sei schließlich, „als hätte sich das Eigentliche doch noch sagen oder sonstwie mitteilen lassen…“ (Prolog).

Eine ähnliche Arbeit, wie sie die Theaterleute, die Händls Texte aufsprengen müssen, leisten, haben auch die Literaturwissenschaftler auf sich zu nehmen, auch sie müssen diese Texte erst aufschlüsseln. Und letztlich gilt dasselbe auch für alle anderen Leser (und Theaterbesucher), denn Händl bedient auch sie nicht mit Bekanntem oder Gewohntem, er überrascht, er irritiert, er bleibt stets sperrig, oftmals rätselhaft und in jedem Fall absolut offen. Andreas Erb formuliert es treffend: „Händl Klaus lesen heißt, beunruhigt sein.“

Im Kern der Sache treffen sich also alle Rezipienten ­– Wissenschaftler, Leser und Theatermenschen – auf einer Ebene. Womit die eingangs gestellten Fragen nach dem Zielpublikum eines solchen Bandes vielleicht doch überflüssig sind…    

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Orge Georwell [Gerald Kurdoglu Nitsche], 2084. Aufzeichnungen aus 2001 Nacht. Protokoll der laufenden Ereignisse. Hrsg. V. Bruno Gitterle u. Roland Ranach.
Landeck: EYE Verlag 2010

 
Es galt in der ernstzunehmenden Literatur bisher nicht als angemessen, sich mit ‚Katastrophendenken‘ und ‚Weltuntergangsprophezeiungen‘ abzugeben. Doch allmählich gelangt die Tatsache des Klimawandels und seiner konkreten Folgen in die Köpfe der Menschen und damit setzt sich auch die Notwendigkeit der künstlerischen Auseinandersetzung durch: Das Thema ist in der zeitgenössischen Literatur angekommen. „Requiem auf die Zukunft“ titelte der Standard vom 26. November 2010 einen ganzseitigen Beitrag des renommierten deutsch-bulgarischen, derzeit in Wien lebenden Schriftstellers Ilja Trojanow, in dem er der Frage nachgeht, wie man einen Roman über die sich zuspitzende Klimakatastrophe schreiben könne. Ein solcher Roman – es geht um die zu erwartenden Umwälzungen, die von der Bedrohung des „letzten heiligen Hains auf Erden“, der Antarktis, ausgehen – liegt offenbar derzeit auf Trojanows Schreibtisch, der Protagonist des Buches soll ein (real existierender) Gletscherforscher alten Schlages sein. Und was sich der Autor zum Ziel gesetzt hat, ist nichts weniger als dass die Leser aufwachen und einen Satz wortwörtlich nehmen: „Wenn die Antarktis untergeht, geht die Menschheit unter“.

     Wie ein (im Bereich der fiktionalen Literatur anzusiedelndes) Buch über ‚das Klima’ geschrieben werden kann, zeigt auch der unlängst in Tirol erschienene Text „2084“ mit dem Untertitel „Protokoll der laufenden Ereignisse“ – kein Roman also, sondern ein fiktiver Tatsachenbericht, also ganz konkret ein „Requiem der Zukunft“. In Anlehnung an George Orwells berühmten Roman „1984“ ‚tarnt’ sich der Autor Gerald Kurdoglu Nitsche mit dem Pseudonym Orge (Orsche) Georwell, damit auch jeder sofort weiß, was hier gespielt wird: Die literarische Herangehensweise ist eine groteske, passagenweise satirische, das Genre allerdings, wie schon bei Orwell, keineswegs Science Fiction. Die Realität hat fictions dieser Art schon öfters bei weitem überholt, was in diesem Buch ‚protokolliert‘ ist, könnte demnach von der Wirklichkeit in etwa 70 Jahren deutlich übertroffen werden.

     Gerald Kurdoglu Nitsche, bildender Künstler aus Landeck mit einem ausgeprägtem Nahverhältnis zu Sprache und Literatur, Herausgeber mit dem Schwerpunkt Literatur der "Wenigerheiten", Galerist, ehemaliger Lehrer, als Künstler in zahlreichen Ausstellungen gestern und heute vertreten, weiß, was er tut: Er erzählt unsere Geschichte der Zukunft, eine Geschichte, die nur scheinbar ‚humorig‘ ist: Das Lachen und ‚Witzeln’, mit dem wir üblicherweise unser Unbehagen vertreiben, soll uns im Hals stecken bleiben. Wie Trojanow geht es auch Nitsche darum, dass die Leser sehend und damit endlich handlungsfähig werden. Diese Art von ‚Lebenshilfe‘ ist (auch in der Literatur) legitim, denn, so heißt es im Buch, die Zeit drängt, „höhere Ambitionen, literarisches Herumschwefeln, -schwafeln, –schwadronieren“ sind fehl am Platz, die geforderte „Position ist die eines Beobachters, Zeitzeugen und sachlichen Chronisten“. Und weiter: „Ab heute wird nur noch Tacheles geredet, geschrieben“ (vgl. Vorwort, S. 10). Der Anspruch, Tatsachen der Zukunft zu berichten, ist, nimmt man Nitsches Ansatz ernst, keineswegs Widerspruch, keineswegs Mumpitz. Denn der Autor geht davon aus, dass die Zeichen, die in der Gegenwart zu beobachten sind, klare Aussagen über die Zukunft möglich machen.

     Nun denn, wie sieht sie also aus, unsere Zukunft? Wir leben noch, wenngleich deutlich dezimiert. Unser Lebensstil hat mit dem heute noch gewohnten nur mehr wenig zu tun. Stürme und Überflutungen haben mit sich gebracht, dass das, was oben war, sich nach unten verkehrt hat, da ist kein Stein mehr auf dem anderen, doch der Grundinstinkt ist nach wie vor aktiv, wir kämpfen uns weiter. Wir strampeln allerdings nicht mehr um Luxusgüter, nicht um Fortschritt im heutigen Sinn und nicht um die Kontrolle einer Wirtschaftskrise, wir haben mit dem reinen Überleben genug zu tun. H2O ist die magische Formel, die das Buch, welches als Tagebuch, als Tagesprotokoll geschrieben ist, durchzieht: Wasser ist, das wissen wir schon im Jahr 2010, Leben und Tod in einem. Wasser, das ist unsere Natur, auch die unseres Körpers, es bestimmt unser Dasein, aber es muss sich in der richtigen Balance mit den anderen Elemente befinden. 2084 haben wir noch einen Wein und ein gelegentliches Schnapserl, sogar das. Wir haben sie immer noch, die Glücksmomente. Doch abgesehen davon haben wir zu viel Wasser. Doch auch anderes gibt es zu Hauf: Müll, zum Beispiel. Wieder anderes ist abhanden gekommen: Land und Nahrung etwa. Doch obwohl uns gar viele Sorgen drücken, klingt das eine und andere sogar tröstlich:

Mit der Zeit finden sich einige „Wasservögel“ und auch ehemalige Landratten über dem durch die Überflutung verlorenen Land zu geradezu heimeligen Ensembles, gemütlichen Dörfchen zusammen. Zug- und Hängebrücken, vergleichbar mit den Baumhäusern, ermöglichen geselliges Beisammensein, sodass den alten Zeiten nicht mehr nachgetrauert werden muss.

Orge Georwells Buch ist eines, das man am besten langsam liest, sich Abschnitt für Abschnitt zu Gemüte führt wie eine Medizin in Tropfenportionen. Man mag es sich auf das Nachtkästchen legen, doch sollte man tunlichst vermeiden, vor dem Einschlafen darin zu lesen. Es ist ein Buch zum AUFWACHEN, ein Buch für den Morgen, das Morgen. Was wir als mit Intelligenz und Vorstellungskraft reichlich ausgestattete Wesen durchaus zu wissen in der Lage wären, was wir aber gerne verdrängen, wird uns hier erzählt, und zwar so, dass wir es noch verdauen können. Weniger verdaulich und gedeihlich werden die Erfahrungen unserer Kinder sein, jedenfalls dann,  wenn wir so weitermachen wie bisher.

     Was wir neben dem Wissen über die Zukunft vom Autor noch, quasi als Zugabe, geschenkt bekommen, sind unzählige literarische Einfälle, Gedanken-Ausschweifungen, Sprachspiele und Text-Zauberhaftigkeiten. Denn, so scheint uns der Dichter sagen zu wollen, auf dem Weg zur Wirklichkeit soll uns: wird uns bei Gott nicht langweilig werden.    

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Alois Schöpf, Die Sennenpuppe. Libretto zur Oper in drei Akten für Blasorchester und Sänger von Ernst Ludwig Leitner.
Hohenems: Limbus Verlag 2008

Der Komponist Ernst Ludwig Leitner hat für die Gmundner Festwochen eine Blasmusikoper geschrieben, die im August 2008 unter der Regie von Erich Hörtnagl uraufgeführt wurde (Bläserphilharmonie Mozarteum Salzburg, dirigiert von Hansjörg Angerer). Das Libretto stammt vom Tiroler Schriftsteller und Blasmusikexperten Alois Schöpf, der Text, die Sage von der so genannten Sennenpuppe (schweizerisch auch Sennentuntschi oder Toggeli) ist in einem schmalen Band, der unlängst bei Limbus erschienen ist, nachzulesen.
     Diese Sage ist höchst interessant, der Stoff steht mit dem antiken Pygmalion-Stoff (Ovid, Vergil) in Zusammenhang und wurde im Lauf der Kulturgeschichte immer wieder und sehr variantenreich verarbeitet – bis herauf zu George Bernard Shaws Schauspiel „Pygmalion“, besser bekannt als Musical „My Fair Lady“. Kern des Stoffes ist: Der Mensch überschreitet seine Kompetenzen, er schafft sich ein Ebenbild, erweckt es zum Leben und wird dafür bestraft. Alois Schöpf orientiert sich an der alpenländischen Ausformung der Geschichte, er gibt ihr einige neue Konturen und arbeitet mit den Widersprüchlichkeiten der Vorlage. Felix Mitterer hat, um weitere Beispiele zu nennen, in seinem Stück „Die wilde Frau“ Elemente der Sage aufgegriffen und der Schweizer Dramatiker Jörg Schneider hat seinen „Sennentuntschi“ daraus gestaltet.
     Es gibt im Alpenraum verschiedene Versionen der Sage, zentral sind meist folgende Punkte, u.a. die erotische Komponente: Einsame Sennen und Hirten auf einer Alm – früher arbeiteten meist nur Männer auf den hoch gelegenen Almen – schnitzen sich aus Langeweile eine weibliche Puppe, die sie füttern, mit der sie sprechen und die sie für erotische Spiele gebrauchen. Mit der Zeit wird die Puppe lebendig und rächt sich für die an ihr begangenen Sünden, sie zwingt einen der Hirten im Herbst bei ihr zu bleiben, tötet ihn und zieht ihm die Haut ab. Zieht ihm die Haut ab, zieht ihm die Haut vom Leib – diese mehrfach gegebene Formulierung (siehe diverse im Internet nachzulesende Sagendarstellungen) scheint nicht ganz zufällig zu sein, zumindest dann nicht, wenn man sich Schöpfs Text etwas genauer auf seine Bedeutungsmuster hin ansieht. Schöpf modernisiert den Stoff dahingehend, dass nicht die sexuelle Ausschweifung, sondern Missbrauch und Verrat bestraft werden. Der Missbrauch, wie er hier vorgeführt wird, ist letztlich ein Verrat an der eigenen Lebendigkeit und Liebesfähigkeit. Das zunächst recht klischeehaft zwischen Madonna und Hure angesiedelte weibliche Bild einer lebensgroßen Holzpuppe (S. 14 und 15) wird ein zum Leben, zur Autonomie erwachter Mensch (S. 18f) und geht in Schöpfs Version  den Männern tatsächlich unter die Haut.
     Im ganzen 2. Akt feiert die Oper nämlich die Liebe als das eigentliche Leben. Die Frau wird von den Männern abwechselnd beschlafen, sie dient im Haus außerdem als Magd. Dies führt jedoch keineswegs zu Verrohung, etwa zu Konkurrenz und Gewalt oder zu Unterdrückung und Pornografie. Nicht hier ist der Missbrauch angesiedelt, im Gegenteil, es scheint nicht nur Solidarität unter den Männern, sondern auch Harmonie zwischen den Geschlechtern zu herrschen. Die Protagonisten bewegen sich in einer Sphäre zurück erworbener Unschuld, sie handeln  jenseits aller Konventionen. Es ist ein dünner Boden zwar, doch ermöglicht er bei den Männern eine Aufweichung üblicher Verhaltensmuster, eine Öffnung der vorher geschlossenen Charaktere, ein Schmelzen der vereisten Herzen. Selbsterkenntnis ist die Folge, und zwar nicht nur bei den Männern, sondern auch bei der Frau. Der biedere und vernünftig verheiratete Bauer ist dankbar, dass er „zumindest einmal von dieser Liebe kosten durfte, von dieser Liebe, die das Leben ist und sonst nichts als das Leben“ (S. 21). Der Hirte, ein sonst zupackender Frauenheld, schwärmt vom „zärtlichen Lufthauch“, der „die Blumen schaukeln lässt“, erst jetzt weiß er gelebt zu haben, seit er „lieben durfte“ (S. 23f). Der Junge, der die Puppe geschnitzt hat, hat zuvor noch nicht geliebt, jetzt ist er erfüllt und beseelt wie die anderen, gemeinsam singen sie alle drei in den nächtlichen Sternenhimmel hinein: „Wir wollen ihr danken für ihre Liebe!“ Die Puppe ihrerseits feiert ihre Befreiung aus einer „Jahrhunderte langen (…) Erstarrung“: „Und so wie du, mein junger Freund, von meiner Liebe nichts gewusst hast, so habe ich nicht gewusst, wie wunderbar und schön das Leben ist. Niemals will ich es wieder zurückgeben…“. Die Liebe wird hier, in Alois Schöpfs Libretto, gezeigt als das – um es in einer religiösen Sprache auszudrücken – Mittel zur Menschwerdung, als die gegenseitige Erweckung aus dem nur Materiellen, aus der seelischen Erstarrung.
     Doch das Erleben allein bewirkt keine anhaltende Transformation. Der Wille zur Überwindung gesellschaftlicher Schranken und alt eingeschliffener persönlicher Gewohnheiten müsste nachfolgen. Die Tür zum Universellen, die Schöpf im 2. Akt sehr emphatisch und auch ironisch-pathetisch geöffnet hat, wird im 3. Akt leider wieder geschlossen – vielleicht weil dies realistischer ist? Der Sommer ist aus, die Männer müssen und wollen ins Tal zurück, Pflicht und Neigung lässt sie all drei ausschließen, ihre doch soeben noch schwärmerisch geliebte Sennenpuppe mitzunehmen. „Ich kann die Frau nicht gebrauchen!“ (S. 31) ruft plötzlich einer nach dem anderen aus. Die Gründe für diesen schnöden Wechsel der Gefühle mögen aus der bürgerlichen Perspektive nachvollziehbar sein, doch das universelle Prinzip hat bei der Tür herein geschaut, es lässt sich nicht so einfach wieder hinaus sperren, ist es doch dem Leben verpflichtet und nicht der Konvention: Wer das Lebendige in sich selbst verrät, leitet seine eigene Destruktion ein.
     So könnte man das alles lesen, soweit ergibt es durchaus Sinn und obendrein einen starken Stoff für eine musikalisch hochkomplexe Oper. Nur leider wird einiges auf der Textebene im 3. Akt wieder zurückgenommen. Alois Schöpf hat die Sage traditionell eingeführt, sie dann modern ausgelegt, was spannend ist. Er hätte, nach meinem Geschmack, den bereits eingezogenen zweiten Boden weiter ausdehnen, ihn nicht etwa wieder herausziehen sollen. Musikalisch mag es hundert Prozent stimmen und mehr als interessant sein, wenn der Komponist moderne Musik schreibt, dabei aber alte Volksmusikthemen und Instrumente des Alpenraums wie Alphorn, Flügelhorn und Zither einsetzt. Literarisch hätte man am Schluss gern etwas anderes gesehen als die Erfüllung traditioneller Vorgaben und moralinsaurer Lehrinhalte.
     Die Puppe erlangt kraft ihres Zorns Macht über Leben und Tod. Sehr im Gegensatz dazu und wenig überzeugend ist ihre Diktion das Jammern einer verlassenen Frau: „Alles hab ich euch gegeben. Ist das der Dank? Nein, das kann der Dank nicht sein! Ich will nicht allein bleiben! Nimmer ein Stück Holz werden.“ (S. 35) Ihre Rache mutet einerseits kleinkariert, andererseits überzogen an, was sie in den Augen der Männer zum Teufel macht: „Sie ist kein Mensch, sondern ein Ungeheuer!“ (S. 37) Zuerst sieht es so aus als wolle sie, selbstsüchtig wie sie ist, weiter feiern und lieben: „Einer von euch wird mich immer lieben müssen, den ganzen Winter lang, bis die anderen wieder kommen. Das Leben schmeckt mir zu gut…“ (S. 36). Bald stellt sich aber heraus: Sie will morden. Sie lässt würfeln, es ist ihr egal, ob Junge, Hirte oder Bauer bei ihr bleibt. Die Männer haben dem nichts entgegen zu setzen, sie führen alles aus, was man ihnen befiehlt, einer kommt dran, die anderen fliehen und beobachten aus der Ferne die grausame Ermordung des Freundes. Schließlich hängt die Haut des Jungen auf dem Dach der Hütte – Symbol für den gewaltsamen Verlust einer verlogenen Hülle, Symbol für ein ausgesaugtes Leben?
     Nirgendwo blitzt am Ende ein Erkennen auf, alles ist wieder unter Dach und Fach, hinter Schloss und Riegel. Die Lesart, die einem hier aufgedrängt wird, ist die althergebrachte: Da gibt es eine beleidigte und in der Folge bösartig gewordene Frau, die die Männer zu Tölpeln macht oder sie vernichtet. Da gibt es auch womöglich eine gerechte Strafe für allzu viel Sündigen. Die tiefer liegende Dimension, dass nämlich die Puppe/Frau deshalb zum Ungeheuer wird, weil sie ihre eigene Vergänglichkeit nicht akzeptiert, weil sie dem Schöpfer zürnt, der sie erst leben lässt, nur um sie dann wieder ins Nichtsein zurückzuwerfen, wird nicht herausgearbeitet.
     Alles in allem ist Alois Schöpfs Interpretation der Sennenpuppe zugute zu halten, dass sie offen genug ist, um eine Diskussion oder ein Nachdenken über das Geschlechterverhältnis und das nie zu Ende gedachte Thema Liebe und Tod anzuregen. So gesehen ist das kleine, übrigens sehr wohlfeile, Buch eine empfehlenswerte Lektüre. Die Oper – wer sie in Gmunden gesehen hat, wird es bestätigen – ist freilich ein anderes Kaliber, man freut sich zu hören, dass das Werk bei den Tiroler Festspielen Erl, am Mozarteum Salzburg und im Stadttheater Wels nachgespielt werden wird. 
    

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Felix Mitterer, Der Patriot.
 Ein-Mann-Stück. 
Innsbruck: Haymon 2008 (tb 7) 

Mit dem Stück „Der Patriot“ hat sich Felix Mitterer  eines Themas angenommen, das für die politische Gegenwart in Österreich allergrößte Brisanz besitzt. Zwar ist der Briefbomben-Attentäter Franz Fuchs, dessen Fall Gegenstand des Stückes ist, tot und die reale Kriminalgeschichte abgeschlossen, die ideologischen (und wohl auch psychopathologischen) Komponenten des Falles aber sind in einer Zeit, in der die Freiheitliche Partei und das BZÖ großen Zulauf bekommen, keineswegs ad acta zu legen. Mitterers vorrangiges Anliegen ist es denn auch, Einblick in die fanatisch-paranoide Weltanschauung seiner Figur wie auch in zugrunde liegende Gefühle wie Hass, Rache, Versagen und Verzweiflung zu geben.
     Vier Jahre lang terrorisierte der Briefbomben-Attentäter das Land mit Anschlägen gegen Ausländer sowie Personen und Institutionen, die sich in Migrationsfragen engagierten. Laut Bekennerschreiben handelte es sich nicht um einen Einzeltäter, sondern um den Terror einer ganzen Gruppierung, der sogenannten Bajuwarischen Befreiungsarmee (BBA). Im März 1999 wurde aber nur ein Mann von einem Schwurgericht in Graz schuldig erklärt. Franz Fuchs hatte jene Gruppierung nur vorgetäuscht, in Wahrheit aber im Alleingang 6 Briefbombenserien initiiert und Sprengstoffattentate verübt, welche insgesamt 35 Verletzte und 4 Todesopfer forderten. Wie aus dem Nachwort des damals involvierten Gutachters, des Psychiaters Reinhard Haller hervorgeht, war Fuchs ein „Alleskönner“, „Ideologe, Planer und Frontsoldat in einem und ebenso Elektroniker, Chemiker und Bombenbauer“, außerdem „Historiker und Logistiker“ (S. 81). Am Ende hat er es, wie Haller schreibt, sogar fertig gebracht, sich ohne Hände (welche ihm im Zuge seiner Verhaftung durch eine Bombe abgerissen worden waren) in der „bestüberwachten Zelle unseres Landes mit Hilfe eines Stromkabels an einem Wasserkasten zu erhängen.“ (S. 81)
     Mitterers Stück - unter der Regie von Werner Schneyder uraufgeführt am 13. November 2008 im stadtTheater walfischgasse in Wien mit Thomas Kamper als Franz Fuchs - ist ein Monolog, arbeitet jedoch intensiv mit impliziter Dialogizität. Der Angeklagte „spricht“ mit dem Untersuchungsrichter Nauta, dem Vernehmungsbeamten Sturm und dem Gerichtsgutachter Haller, doch die Gesprächspartner sind nicht da, sie „befinden sich sozusagen im Publikum“ (S. 5, Regieanweisung). Diese an der realen Vernehmung des Franz Fuchs sich orientierenden Szenen (Mitterer konnte die Vernehmungsprotokolle verwenden) wechseln sich mit echten inneren Monologen ab: Hier ist die Figur allein und damit den inneren Stimmen, den eigenen Ängsten und Phantasien ausgeliefert. Auch das Gerichtsgutachten Reinhard Hallers stand Mitterer zur Verfügung und hat wohl wesentlich dazu beigetragen, dass der Autor einen, wie es im Klappentext heißt, „beklemmend intimen Einblick in die Gedankenwelt des berühmtesten Verbrechers der österreichischen Kriminalgeschichte“ geben konnte.
     Es ist tatsächlich faszinierend, welch präzises Bild des Menschen und Verbrechers Franz Fuchs vor den Augen der Zuschauer entsteht. Mitterer schafft es, sich einerseits an die äußeren Fakten und Tatbestände zu halten und die Strategien, die Fuchs bei den Vernehmungen angewandt hat, zu erfassen. Der Angeklagte hat offenbar alles getan, um die Kontrolle über seine Gesprächspartner zu bewahren, in Verkehrung der bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse hat er immer wieder die Gesprächsführung an sich gerissen, sich als Autoritätsperson und Führungsfigur aufgespielt und mit den Druckmitteln Zeitverschwendung und Aussageverweigerung gearbeitet. Das Omnipotenzgefühl eines beschädigten Charakters mit letztlich geringem Selbstwert wird dadurch besonders deutlich. Andererseits werden uns die inneren Abgründe eines Menschen, der voller Hass und für zweifelhafte Ideale zu morden bereit ist, vorgeführt: Er wird zwischen Wutausbrüchen und Angstbildern hin und her gerissen, wird letztlich von dem, was er anderen antut, gejagt, gequält. Alles, so hat man den Eindruck, was Fuchs verbrochen hat, hat ihn letztlich auch selbst bestraft. Motiviert war sein Handeln von tiefen Ressentiments gegenüber Ausländern und von einem für politische Attentäter wohl typischen Pflicht- bzw. Opfergefühl. So sagt er etwa: „Nein, ich bin nicht stolz auf das, was wir getan haben. Es musste sein.“ (S. 49)
     Stolz wirkt der Angeklagte dennoch, wenn er bemerkt: „Wir haben den Staat aus den Angeln gehoben. Wir haben vier Jahre lang ein ganzes Land in Geiselhaft genommen.“ (S. 49) Andererseits weist er immer wieder einen Teil der Schuld von sich. Die Ermordung von vier Roma in Oberwart durch eine Rohrbombe sei nicht beabsichtigt, sie sei ein Unfall gewesen. Die in einer slowenisch-sprachigen Volksschule in Klagenfurt hinterlegte Bombe („weil es nicht einzusehen ist, dass in einer deutschsprachigen Stadt auf Slowenisch unterrichtet wird“, S. 52) hätte nur „den Elektrokasten zerrissen, vielleicht wären auch ein paar Scheiben zersprungen und das Bild des Bundespräsidenten heruntergefallen.“ (S. 52) Franz Fuchs zeigte sich während der Vernehmungen als ein Mensch, der sich anmaßte, Machtgefühle durch hinterhältige Attacken an Andersdenkenden und Unschuldigen auszuleben, der dies damit zu legitimieren versuchte, dass er der „Überfremdung“ in Österreich Einhalt gebieten musste, der sich zuletzt aber vor der Verantwortung weg ducken wollte.
     In der Summe sind es die Ambivalenzen im Charakter des Angeklagten, die Mitterer ausspielt und die sein Stück spannend und überzeugend machen: Mitterer zeigt die Verbrechen in ihrer ganzen Absurdität und Grausamkeit, doch wird der Täter auch als Mensch mit menschlichen Reaktionen und Gefühlen des Versagens vorgeführt.  Die Figur ist einerseits hochintelligent, sie wirkt phasenweise vernünftig, fast einsichtig, nur um im nächsten Moment völlig von blindem Fanatismus besetzt zu sein. Der Angeklagte hat während der Vernehmungen scheinbar alles im Griff, andererseits ist er ganz ungeschickt. So zum Beispiel, wenn sich Fuchs verspricht und sich damit hinsichtlich der Morde in Oberwart selbst als Täter überführt. Kontrolle und Macht stehen in dieser Figur Feigheit, aber auch Verzweiflung gegenüber. Es geht bei den Verbrechen scheinbar um einen politischen Auftrag (Haider müsse sich von der BBA distanzieren, „wir sind trotzdem sein verlängerter Arm“, S. 32), andererseits sagt der Täter: „Politik ist mir an sich egal […]“ (S. 32). Es sind vor allem Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit, aber auch eine große geistige Verworrenheit, die diesen Charakter bestimmen.
     Mit „Der Patriot“ ist Mitterer eine schwierige Gratwanderung gelungen. Er hat sich der Schwarz-Weiß-Malerei enthalten, es geht ihm nicht darum, ein Monster vorzuführen, zugleich aber beschönigt er nichts und liefert mit seinem Stück ein abgründig-interessantes Psychogramm.  Mehr als das aber besticht der Text durch Genauigkeit im Hinblick auf die damaligen Ereignisse und die politischen Hintergründe. Über die Tatsache, dass einzelne Passagen etwas aufgesetzt wirken - etwa wenn in einer der „irrealen“ Szenen eine Parallelität zwischen der „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ und dem grausamen Kampf der Bayern gegen die Tiroler Bauern hergestellt wird und Fuchs (weinend) das abgegriffenste aller Hofer-Zitate bemüht - kann man mit einigem guten Willen denn auch hinwegsehen.  
    

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Otto Grünmandl, Pizarrini.
Roman.
Hrsg. von Aglaja Spitaler und Florian Grünmandl, mit einem Nachwort von Eckhard Henscheid.
Innsbruck: Kyrene 2008 (Reihe alter Autoren 2) 

 
Ausgehend von der zentralen Figur des überaus ordnungsliebenden Buchhalters Pizarrini verzweigen sich in Otto Grünmandls jüngst erschienenem Roman unterschiedliche Erzählstränge und führen den Leser in die psychologischen Tiefen eines dümmlichen spießbürgerlichen Denkens mit all seinen verschlagenen, ja kriminellen Schlagseiten. Dass dieser Text dem nachgewiesenen Humoristen und Satiriker, wie der Autor einer gewesen ist, ordentlich Spaß gemacht haben muss, liegt auf der Hand. Und dass er all jenen, die sich durchs Erzählgestrüpp des Romans wagen, vergnügliche Stunden bescheren wird, dessen kann man sich, kennt man Otto Grünmandl von früher her, sicher sein.
     Der Titelheld geht eines Tages ins Bordell und begeht die Dummheit, Geld für nichts zu bezahlen, weil er im Grunde gar keine erotischen Dienste in Anspruch nehmen will. Offenbar will er sich nur sagen können, einmal im Puff gewesen zu sein - „ordnungshalber“. Solch unlogische, damit „unordentliche“ Handlung zieht erwartungsgemäß Strafe nach sich: Pizarrini ist verwirrt und steuert ab nun dem Abgrund entgegen. Wie das? Erraten! Die Katastrophe beginnt im „Weißen Hirschen“ bei viel Alkohol (er trinkt mehrere Gläser „siebzigprozentigen Kontiuszowska“) und in Gesellschaft zweier Herren, die den unerfahrenen Pizarrini an der Nase herumführen wollen, um ihn auszunehmen, die aber alles in allem auch nicht gescheiter sind als er.
     Das Vergnügliche an diesem Text sind die Typen, die man lesend leibhaftig vor sich sieht und deren Eigenarten man aus eigenen Erfahrungen kennt: Man hat den einen oder anderen Charakterzug entweder schon an sich selbst gesehen oder an anderen beobachtet. Wie jeder Satiriker war Otto Grünmandl ein Moralist, der den Finger in die Wunde legte, um zu erschrecken, um den Spiegel vorzuhalten, zum Lachen zu bringen und aufzuwecken.
     Vergnüglich ist der Roman aber auch im hintergründigen Witz und im sprachlichen Detail. Grünmandl führt uns in der Typenzeichnung da und dort aufs Glatteis, glaubt man als Leser, Durchblick gewonnen zu haben, wird man bald eines Besseren belehrt. Damit geht die Spannung nicht verloren, die andererseits oft durch allzu bekannte, mitunter auch klischeehafte Situationen gefährdet wäre. Bei seinen zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten und bei seinen Auftritten hat Grünmandl immer den Leuten aufs Maul geschaut, und das tut er auch hier. Ob gespreizter Dialog oder boshafter innerer Kommentar, die Rede ist an der Realität gemessen,  und der Leser wehrt sich gegen die Einsicht, dass die Welt wirklich so „zappenduster“ ist, aber schließlich begreift er: Sie ist es doch. Das Surreale ist letztlich Realität und das Reale im Fortschreiten der Verstrickungen zunehmend verrückt oder auch nur komisch. Und doppelbödig wie diese Geschichte, das weiß schließlich jeder, ist auch das Leben.
     Mit „Pizarrini“ hat der junge Verleger Martin Kolosz dem ersten einer Reihe nachgelassener Texte des vor sieben Jahren verstorbenen Tiroler Kabarettisten und Autors an die Öffentlichkeit verholfen, weitere sollen folgen. „Nach dem originalen Schreibmaschinenmanuskript in der alten Rechtschreibung“ heißt es knapp (und kleingedruckt) im Impressum, ein editorischer Bericht, Informationen über den Nachlass des Autors und andere historiografische Bemerkungen fehlen. Derartiges mag zwar dem Durchschnittsleser nicht von Vorneherein abgehen, wäre aber für Fans, Fachleute und auch für viele allgemein Interessierte ein Zugewinn. Denn auch wenn Otto Grünmandls Text qualitativ vielem, was in der neuesten Zeit veröffentlicht wird, prinzipiell standhalten kann, so mutet er doch ein wenig wie aus einer versunkenen (oder doch zumindest versinkenden) Welt an. Zusatzinformationen – die Antwort der unwillkürlich auftauchenden Frage etwa, welchen Stellenwert der Roman im Gesamtwerk Grünmandls einnimmt und warum er nicht zu Lebzeiten veröffentlicht wurde – würden das Lesemotiv schärfen und damit der Lektüre etwas mehr Schubkraft geben. Auch ist es bedauerlicherweise durchaus nicht so, dass Otto Grünmandl in seiner unnachahmlichen Art, über die Verhältnisse im Land und anderswo nachzudenken, sich einige Jahre nach seinem Tod noch allzu großer Bekanntheit erfreuen würde (oder in der breiteren Öffentlichkeit jemals erfreut hätte).
     Das wunderbare Nachwort von Eckhard Henscheid, dem bayrischen Experten für das Komische und Kollegen in der satirischen Zunft, hilft auch nur bis zu einem gewissen Grad aus der Verlegenheit eines Durchschnittslesers, nicht allzu viel zu wissen und kaum etwas zu erfahren. In der Diktion einer Huldigung, die Grünmandls literarisch-kabarettistische Aktivitäten nur anreißen, sie aber nicht ausführen oder gar systematisieren will, wirft es eher noch weitere Fragen auf. Henscheids Kommentar setzt ein wenig den Pizarrini-Ton fort, erzählt eine persönliche Geschichte und vermittelt die Atmosphäre einer bestimmten Kultur in einer vergangenen Zeit. Das ist erfreulich und gut, es reicht aber nicht aus, um den Text für Leser, die Otto Grünmandl entweder nicht oder nur als Schauspieler und Kabarettist, also bloß von einer anderen Seite her kennen, zu positionieren.
     Wollen wir hoffen, dass dies in den folgenden Grünmandl-Ausgaben nachgeholt wird, zumal wenn weitere bis dato unbekannte (und womöglich wieder erzählende) Werke auf uns zukommen sollten. Alte Grünmandlfans warten jedenfalls gespannt darauf!
  
    

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C.H. Huber, wohin und zurück
. Gedichte.
Innsbruck: TAK – Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative 2008

  
von „thonetlehnenden herrn“ und anderen dingen des lebens…
 

Wenn C.H. Huber (um nicht mit ihrer Wiener Kollegin Christine Huber verwechselt zu werden, führt sie das Kürzel C.H. und wird unter Kolleginnen liebevoll Ceha genannt) ihre Gedichte öffentlich vorliest, so klingen sie genau kalkuliert und im Ton (mitunter wohlig-, oft auch bedrohlich-) dunkel. Das im Text meist mitschwingende Augenzwinkern - mal etwas versteckt, mal sehr offensichtlich - kann der Vorleserin Huber förmlich vom Gesicht gepflückt werden, es gibt der dunklen Leseart den rechten Stellenwert, verrät das Spiel hinter der Pose.
„Eine Frau reist durch Landschaften, Liebe und Leben, quert Jahreszeiten und Stimmungen, erfasst sie mit lyrischem, dennoch kritischem Blick und ebensolchem Herzen.“ Mit diesem knappen Klappentext in C.H. Hubers neuem Gedichtband wird eine treffende Spur gelegt. Huber ist in der Tat eine Autorin, deren gelebtes Frausein den Text trägt. Sie ist eine, die mit Herz, Verstand und Körper wirklich durchlebt zu haben scheint, was sie literarisch verarbeitet. Damit sei keineswegs ein autobiografisches Schreiben angedeutet. Aber die gestandene Erfahrung und vor allem der gegenwärtige klare Blick bringen den Humor, die Distanz auch in ihre ernstesten Texte hinein.
In C.H. Hubers Werkstatt entstehen seit etwa 15 Jahren Werke der Lyrik und Prosa sowie Dramatisches. Der jetzt vorliegende zweite Lyrikband ist ihr insgesamt viertes Buch - auf die beiden Prosabände „unter tag“ und „Kurze Schnitte“, beide ebenfalls bei der TAK erschienen, sei hier im Besonderen hingewiesen. Der neue Band ist eine Sammlung von balladenartigen Texten, von lyrischen Beobachtungen oder Momentaufnahmen, die wohl seit dem ersten Gedichtband „gedankenhorden“ in den letzten Jahren entstanden sind – zu Hause und auf zahlreichen Reisen, letzteres meist in südlichen Ländern, vornehmlich in Griechenland.
wohin / wege / verortung / zurück: Die vier betitelten Abschnitte innerhalb des Bandes gruppieren die Texte nur ungefähr, charakterisieren aber den durchgängigen gedanklich-emotionalen Bewegungsverlauf von innen nach draußen und von draußen nach innen zurück. In dieser Kreisbewegung gilt es die Beobachtungen äußerer Vorgänge im Inneren auf Tauglichkeit, vielleicht sogar auf Echtheit hin zu überprüfen. Das Falsche, das bloß Vorgegebene ist es denn auch, was die Autorin entlarvt, was manchmal sogar ihren Unmut provoziert.
Hubers Gedichte wollen nicht überflogen und konsumiert werden, sie beanspruchen genaues Lesen. Der Verzicht auf Interpunktion – nur selten gibt ein Schrägstrich die Atempause vor – zwingt den Leser, die Leserin in tiefere Schichten der Sprache hinein. Besonders jene Texte, die keine unterschiedlichen Zeilensprünge aufweisen, sondern optisch wie kleine Blockminiaturen daherkommen, verlangen, dass man sich wirklich auf den jeweiligen Text einlässt. Semantische Mehrdeutigkeiten oder syntaktische Doppelbödigkeiten werden nur durch langsames Lesen, durch ein Zerkauen der Sätze erschlossen. Die Offenheit in der Struktur der Texte verweist auf den Variantenreichtum des Vor- oder Dargestellten.  Die Möglichkeiten sind in multiplen intertextuellen Verknüpfungen angedeutet, damit eröffnet die Autorin Spielarten, lenkt die Aufmerksamkeit auf mögliche interessante Sichtverschiebungen.  Die Eindrücke, welche die in den Texten angesprochenen Situationen und Stimmungen erwecken, fächern sich quasi wie eine Farbpalette auf.
Trotzdem gelingt es C.H. Huber ganz auf dem Boden der Realität zu bleiben. Ihre Gedichte sind konstruiert, aber nicht abstrakt. Sie schöpfen aus der Geschichte eines Ortes, aus dem Alltäglichen, sie sind üppig oder exotisch und erwecken dabei doch das ganz Normale zu neuem Leben. Seltsame Typen erscheinen und verschwinden, das Gewöhnliche wird ungewöhnlich besetzt oder bleibt wie es ist, Farben, Gerüche, Temperaturen werden sinnlich wahrnehmbar. Ein Hauch von Erotik, mehr noch von: Leiblichkeit hängt sehr angenehm, weil nicht aufdringlich, in so manchem Text. Die Autorin scheint uns weder etwas weismachen zu wollen, noch sollen wir alles glauben, was sie uns erzählt.
In Summe entsteht der Eindruck, dass es C.H. Huber in erster Linie um die Vermittlung eines Lebensgefühls, einer vagen Anschauung dessen, was im Vorbeigehen zählt und was verzichtbar ist, geht. Dass einzelne Passagen oder Satz-Wort-Reihen gelegentlich beliebig anmuten, dass die Dinge da und dort weder logisch noch bewusst anti-logisch verknüpft zu sein scheinen, fällt in Summe nicht ins Gewicht. Nicht alle Gedichte vermögen in demselben Maß zu überzeugen, doch die meisten halten – sie halten, was sie versprechen, und sie halten die Leserin an der Leine. Wirklich kritisch bemerkt sei nur, dass man die stets an den Schluss gesetzten Titelzeilen (dann, wenn es sich nicht um Ortsangaben oder Widmungen, sondern um inhaltliche Verweise handelt) zu sehr als Pointen liest - man möchte lieber darauf verzichten. Hier wird die Offenheit der Texte oft leider wieder zurückgenommen.
„wohin und zurück“ ist nur vordergründig ein Buch, das von Reisen und Fahrten, von fremden oder vertrauten Orten erzählt. Es geht um die äußere Beweglichkeit und um das innere Bewegtsein, es geht aber auch um das Innehalten in der Bewegung, um den Moment des Schauens, Aufmerkens, Mitnehmens. Was man als Leser mitnimmt sind wie im Gehen aufgesammelte Skizzen mitsamt dem dazu gehörigen Gefühl, dem Schritttempo oder Schlendergang: Ob nun ein „herr sich persiflierend thonetlehnt“ oder Möwen von „bemäntelten hündchen verbellt“ aufflattern, ob man „in die hölle der rolle einer unbegehrten begehrten“ hinabsteigt oder ob es wieder „im kastaniengarten bad ischln tut“ – das Sammelgut ist am Ende sehr bunt. Und die Freude an schönen Wortschöpfungen, klanglichen Leckerbissen und spannenden Sinn-Kombinationen ist durchwegs groß. 
  
    

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Konstantin Kaiser, Ausgewählte Gedichte.
 
Mit einem Vorwort von Daniela Strigl.
Wien: Podium Porträt 31 (hrsg. von Hannes Vyoral) 2007 

Eines der jüngsten jener liebenswerten schmalen Lyrikbändchen des Hannes Vyoral – „Podium Porträts“ – ist dem in Wien lebenden Innsbrucker Dichter Konstantin Kaiser gewidmet. Man freut sich, wieder einmal Lyrisches von Kaiser in Händen zu halten, hat er doch nach seiner Publikation im TAK-Verlag – „Durchs Hinterland“ 1993 – keine Gedichtsammlung mehr veröffentlicht.
     Das Buch kommt im Umfang bescheiden daher, die Gedichte sind nicht ausladend, vielmehr knapp, doch was sie hergeben, ist nicht wenig. Sie führen in die Welt eines augenscheinlich strukturierten Ich, eines Ich, das genau, aber auch skurril wahrnimmt, das konkret ausspricht, aber auch philosophiert, das trotz aller Struktur  (oder vielleicht gerade ihretwegen) dem Spielerischen und Schnodderigen offenbar nicht zu widerstehen vermag. Diese Texte führen darüber hinaus in unterschiedliche Alltagswelten, sie tippen da und dort einen politischen Diskurs an, den wir leider im Gedicht allzu oft vermissen, einen geradewegs linken Diskurs. Und die Gedichte rühren da und dort behutsam, sich jeder bombastischen Geste entziehend, an den großen Themen wie Liebe, Verlassenheit, Tod. Der lyrische Erzähler, der nichts erzählen will, aber doch alles Wesentliche zur Sprache bringt, verhält sich einmal beiläufig, ein andermal punktgenau zielend und hält damit eine Spannung aufrecht, die von einem Text zum anderen trägt. Entstanden sind Kaisers Gedichte aber wohl nicht innerhalb eines geschlossenen Zeitraumes, sondern lose über die Jahre.
     Eindrucksvoll, wie Kaiser die Dinge im Ungefähren hält, ohne in Geheimniskrämerei zu verfallen.  Der schwebende Zustand der Gedichte, das spürt man auf sehr angenehme Weise, kommt aus dem Beiläufigen und Alltäglichen. Wo man sich wie ein Blinder sicher bewegt, da muss man nicht hervorheben oder gar ausbuchstabieren. Mit Koketterie des Verbergens hat dies nichts zu tun, wohl eher mit dem Vertrauen, dass wir alle Teil eines Erfahrungspools sind und darum das bloß Angedeutete ohne weiteres verstehen, das Ausgelassene mitdenken können. Es ist ein persönlicher Eindruck nur, aber diese  Gedichte wirken wie Gespräche unter guten Freunden. Aber bei aller Intimität sind sie auch universell bedeutend. Und vor allem sind diese Texte warm, sie kommen aus der Mitte, gewähren Teilnahme und fordern Beteiligung. Besonders schön ist dabei, dass Kaiser in seiner Lyrik niemals das Authentische dem Runden und Glatten opfert, in seinem Schreibstil darf es rumpeln und holpern. Wenn ein Dichter die Wahrheit sagen soll, dann muss es Brüche geben dürfen in der Sprache und im Rhythmus! Der „Mund, der Gedichte philosophiert, sitzt nicht genau im Gesicht, nicht richtig  Leben […] (S. 42).
     Das Vorwort zu Konstantin Kaisers  Gedichten hat Daniela Strigl verfasst und es ist, wie dies auch bei allen anderen Podium Porträts der Fall ist, nicht nur eine Beigabe. Strigls Lesart ist auf eine Art vorangestellt, dass sie uns manches aufschlüsselt, zugleich aber nichts festnagelt, ihre Beobachtungen stellen tatsächlich einen Mehrwert dar, sie spuren, sie konzentrieren ein wenig, und das ist hilfreich. Denn auch wenn Kaisers Gedichte frappierend einfach zu sein scheinen, auf Fremdwörter völlig verzichten und Artistik vermeiden, so sind sie doch nicht leicht zu erfassen oder gar simpel, manche von ihnen muss man wieder und wieder lesen. Strigl arbeitet außerdem die wichtigsten Bedeutungsstränge heraus, verortet sie damit im literarischen Kontext: die programmatische „Diesseitigkeit“, die „Verkörperung“ des Philosophischen, die „Etüden der Angst“ wären hier als Leitbegriffe für eine Dichtung zu nennen, die Daniela Strigl zwischen Lakonie und großer Eleganz und Prägnanz ansiedelt (vgl. S. 8). Das Politische ist allgegenwärtig, obwohl es sich gar nicht immer als solches gibt.
     Kaiser ist ja durch sein über Jahrzehnte andauerndes Engagement für die Exilliteratur, für die Literatur des Widerstands und die antifaschistische Kunst im Allgemeinen in Österreich bekannt. Durch ihn haben zahllose Autorinnen- und Autorennnamen, zahllose wichtige Texte erst Eingang in unsere Literatur gefunden. Er ist seit langem Mitarbeiter der Theodor Kramer-Gesellschaft und hat in dieser und anderen Funktionen als Herausgeber und Editor randständiger oder vergessener literarischer Werke und Persönlichkeiten der österreichischen Kultur einen großen Dienst erwiesen. Dass dabei die eigene literarische Arbeit womöglich notgedrungen an den Rand gedrängt wurde, verwundert spätestens dann nicht, wenn man Kaisers Literaturliste durchsieht und sich vergegenwärtigt, in wie vielen großen und kleineren Projekten er hauptverantwortlich war oder mitgearbeitet hat.
     Der Vielarbeiter, aber Wenigschreiber Konstantin Kaiser kann aus seiner unglaublichen Erfahrung mit Welt und Geschichte umso mehr destillieren. Das ist es auch, was diesen seinen Gedichten anhaftet: Gewicht im besten Sinn des Wortes. Keine Schwere, jedoch das seelische Gewicht von einem, der die Schattenseite im eigenen Leben und in der Geschichte nicht nur gesehen, sondern erforscht hat, der das Unrecht nicht nur analysiert, sondern sich auch dagegen verhalten hat.  
    

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Christoph W. Bauer,  Im Alphabet der Häuser.
Roman einer Stadt.
Innsbruck: Haymon Verlag 2007 

Roman einer Stadt oder nicht 

Die Idee des aus Kärnten stammenden, in Innsbruck lebenden Lyrikers C.W. Bauer, die Stadt seiner Wahl durch einen historischen Roman der anderen Art zu „ehren“, wirkt aufs erste faszinierend, eigentlich genial: Ausgehend von den Häusern in der Alt- und Innenstadt Innsbrucks erzählt Bauer, in einem großen zeitlichen Bogen vom Mittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Geschichten einzelner Menschen und ganzer Familien, die hier wohnten. Es ist klar, die Menschen sind verschwunden, die Häuser aber existieren noch und speichern die wechselhafte Historie, die, Bauers Konzept gemäß, eine Geschichte „von unten“ ist. Über die in die Historiographie eingegangenen Größen – Kaiser, Aristokraten, Helden – erfährt man in diesem Buch nur wenig, die übliche Rangordnung dreht sich bei Bauer um. So hören wir, um nur ein Beispiel zu nennen, dass Kaiser Maximilian sein Gesinde in jenem Haus dort untergebracht hat, wir hören, dass und wie sich die Leute nach der Arbeit im Tanzsaal amüsiert haben. Der Kaiser aber ist aus der Sicht der Häuser nicht wichtig.
     Auffallend ist das im Titel gegebene Signal Alphabet, das an die Reihe der Buchstaben, vielleicht an Namen denken lässt, man assoziiert damit Vielfalt, die Menge im Gegensatz zur besonderen, im Mittelpunkt stehenden Romanfigur. Doch Alphabet deutet nicht nur ein sozusagen demokratisches Erzählen an. Das Signalwort verweist auf das Zeichensystem Sprache und erinnert daran, dass die Geschichte letztlich nicht zu verdinglichen ist, dass sie im Grunde immer nur in der Erinnerung besteht, in den Erfahrungen und Gedanken der jeweiligen Zeit, in sprachlich Erfasstem und sprachlich Weitergegebenem. Der Prozess des Vermittelns und der Überlieferung wird bei Bauer allerdings nicht betont, vielmehr wird der Leser von einem Kapitel zum anderen wie von einer Gegenwart zur nächsten geführt. Der Roman ist im Präsens geschrieben, er will bei den Lesern Unmittelbarkeit und vermutlich auch Beteiligung erzeugen. Ein historischer Roman, ein Geschichtsbuch der ganz anderen Art also. Oder besser gesagt: C.W. Bauers Buch ist weder das eine noch das andere, und dies wäre ein reizvoller Ansatz, ein spannendes Vorhaben.
     Zeit ist immer nur jetzt, scheint der Autor zum Ausdruck bringen zu wollen, und aus diesem Jetzt heraus skizziert er (über die Jahrhunderte hinweg) das menschliche Treiben – pendelnd zwischen Mühsal und Lust, zwischen gewohntem Trott und außergewöhnlicher Situation, zwischen Gelingen und Zerstörung. Es wird anschaulich und detailreich erzählt, so dass man als Leser da und dort tatsächlich dabei ist, mit-sieht, mit-riecht und mit-schmeckt.  Man blickt zuweilen sogar ins Denken und Fühlen der Leute hinein, ein wenig zumindest. Wie es sich früher in Innsbruck gelebt hat, davon bekommt man tatsächlich einen Geschmack.
     Die Jetzt-Perspektive, dieses Hineingeworfenwerden in Alltagssituationen einer anderen Zeit (aber vielleicht war sie so anders gar nicht?) gibt dem Text – im Prinzip – eine anregende Dynamik. Bedauerlich ist:  Der Autor unterwandert die Dynamik durch die Einführung zweier in einer Bar sich miteinander unterhaltenden Figuren, von denen die Erzählung ausgeht. Diese beiden (Männer?) stehen an der Theke und trinken, sie schauen aus ihrer Gegenwart in die Vergangenheit zurück, der eine ist historisch versiert, er scheint alles zu wissen, der andere fragt nach. Die offensichtlich konstruierte und allzu statische Ausgangssituation wird durchwegs aufrecht erhalten und unterbricht den Erzählfluss auf jeder zweiten oder dritten Seite. Diese Textebene ist störend und absolut verzichtbar. Auch wenn man eine Art inneren Dialog der Erzählperson annimmt, quasi das Ego und Alter Ego des Erzählers an der Theke stehen sieht, wird die Sache dadurch nicht besser.
     „Kannst du mir etwas über diesen Engenlander sagen?“ heißt es zum Beispiel, die Antwort folgt. „Drück dich bitte präziser aus!“ heißt es weiter, die Präzision folgt. „Direkt gegenüber meinem Wohnzimmerfenster!“ ruft der Frager (erfreut, überrascht, erstaunt?) aus, um bald, einige Passagen weiter, kund zu tun: „Unfassbar!“ […] „Wie stand es eigentlich um die Sauberkeit der Menschen? “ – ein neues Kapitel wird eröffnet. (S. 60ff)
     Was C.W. Bauer an alltagsgeschichtlichen Einzelheiten, wohl in monatelanger Archivarbeit und in vielleicht jahrelangem Studium zusammengetragen hat, ist erstaunlich und bewundernswert. Man liest hier Dinge nach und heraus, die man so kaum jemals irgendwo erfahren kann. So gesehen kann man dieses Buch all jenen, die an der Innsbrucker Geschichte in erster Linie interessiert sind, empfehlen, seien sie nun Einheimische oder Durchreisende.
     Der Dichter hat für uns Leser den Weg ins Archiv gemacht und uns eine Menge Zeit erspart. Die Frage ist nur: Hätten wir selbst ins Archiv gehen wollen? Und wodurch ist, abgesehen von der wertvollen Informationssammlung, der Mehrwert dieser miteinander verknüpften Geschichten zu sehen? Wo kommen die Dinge auf den Punkt und worin verdichtet sich die Absicht C.W. Bauers, eine sehr persönlich gefärbte oder gegen den Strich gebürstete Geschichte der Stadt Innsbruck zu erzählen? Sie verdichtet sich nicht im Sprachlichen, nicht in dem Maße jedenfalls, wie man es sonst von einem Bauer-Text gewohnt ist.
     Das Faktische – wer damals was mit wem wie, unter welchen Umständen und in welchem Kontext, getan hat – es ist gewiss interessant, aber auf merkwürdige Weise rührt es einen nicht an. Das mag daran liegen, dass der Erzähler das Faktische zwar durch Stimmungsbilder anreichert, Wetternuancen und Gefühlslagen unserer Vorfahren frei erfunden einbaut, sich aber nie allzu lang bei einer Person, einem Thema und Vorgang, oder einer Familie aufhält. Dies entspricht zwar dem Konzept des Demokratischen,  macht es aber dem Leser schwer, einzelnen Figuren oder Vorgängen näher zu rücken, ihnen gegenüber eine Haltung  einzunehmen oder gar ein Gefühl wie Sympathie oder Antipathie zu empfinden. Man läuft als Leser überall Gefahr, das Interesse zu verlieren und weiter blättern zu wollen, um möglicherweise weiter hinten im Buch auf größere Dichte oder schärfere Charakterprofile zu stoßen. Auf der Suche nach einem Roman fallen einem leider die Geschichten auseinander.
     Begibt man sich hingegen auf die Suche nach einer Stadtgeschichte, so wird man hier fündig. Innerhalb der Textinseln zu einem Haus, einer Wohnung, einem Gewerbe, einer Familie, einem Brand, einer Pestkatastrophe, einem Kirchenbau, einem Verbot, einer Gepflogenheit, einer Ausgrenzung, einem Kaffeehaus, einem Verbrechen usw. erschließt sich der eigentliche Wert dieses Textes, dessen Großzügigkeit darin besteht, viele signifikante historische Details wie nebenbei einzustreuen. Vielleicht hätte C.W. Bauer damit etwas stringenter umgehen sollen, damit seinen Lesern der Wert dessen, was er ausgehoben hat,  bewusst werden kann. Vielleicht hätte er zwischen dem Abschluss der Recherche und dem Beginn des Schreibens eine längere Phase von Nichtstun einlegen sollen, um schließlich der Textproduktion jene Kraft geben zu können, die das Material verdient hätte. 
    

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Markus Vallazza, Das Radierwerk 1966-1978/ Bd.1.
Hrsg. von Renate Maruschko und Alma Vallazza. Mit einem Vorwort von Peter Weiermair.
Wien, Bozen: Folio Verlag 2007 


Die Wahlverwandten des Meisters, des Philosophen

Der Folio Verlag hat es sich zur ehrenvollen Aufgabe gemacht, das gesamte Radierwerk von Markus Vallazza - ein Südtiroler Künstler von europäischem Format - herauszugeben. In zwei Bänden werden alle Mappenwerke und die wichtigsten Einzelradierungen prominent abgebildet. Beigegeben sind ein einleitender Text von Peter Weiermair und Texte zu den einzelnen Mappenwerken von Kristian Sotriffer, Fortunato Bellonzi, H. C. Artmann und Markus Vallazza. Ein Verzeichnis je Band katalogisiert in Text und Bild alle den Zeitraum umfassenden Radierungen und ein ausführlicher biobibliografischer Anhang stellt wichtige Bezüge zwischen Leben und Werk her. 

Seit vierzig Jahren steht die Radierung, besonders die Kaltnadeltechnik, im Zentrum von Markus Vallazzas Schaffen: „Er ist ein großer Erzähler in radierten Bildern“, „es sind die Figuren der Weltliteratur, die ihn interessieren, ihre Schöpfer wie deren Figuren selbst sind seine Wahlverwandten“, schreibt Peter Weiermair im Vorwort zum ersten vorliegenden Band. Vallazza gilt gemeinhin als grafischer Kommentator literarischer Werke der Weltliteratur: Von Oswald von Wolkensteins Liedern bis zu Dantes Göttlicher Komödie erzählt er mit kraftvoller, kreativer Geste seine Version der „menschlichen Komödie“, in Bildern von hohem emotionalem und künstlerischem Wert.
     Geboren wurde Markus Vallazza 1936 in St. Ulrich/Gröden. Zunächst in verschiedenen Stilrichtungen ausgebildet bei seinem Onkel Dominikus Moroder, machte er sich bald frei und begann ein gezieltes autodidaktisches Studium. Es folgten Studienaufenthalte in Florenz, längere Aufenthalte in Paris, Salzburg, Wien, Augsburg und Berlin. Von 1962 bis 1972 war er Kunsterzieher an der Kunstschule in St. Ulrich und begann, seine Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen: Einzelausstellungen u. a. in der Secession, Wien, in der Albertina, Wien, im Museum Ferdinandeum, Innsbruck, und im MART, Rovereto; Gemeinschaftsausstellungen u. a. auf der III. Internationale der Zeichnung in Darmstadt, auf der Quadriennale in Rom, bei Art Tirol in New York, Pittsburgh und Washington.
     Eine Ausstellung von Dürer-Kupferstichen im Gabinetto delle Stampe in der Uffiziengalerie in Florenz gab dem jungen Vallazza den wesentlichen Anstoß. „Diesen geheimnisvollen Blättern konnte ich so viel Hintergründiges, Symbolisches und Rätselhaftes entnehmen, dass ich den Meister aus Nürnberg zum Maßstab für Druckgraphik schlechthin machte. […] Es fiel mir schon damals auf, dass Graphik im allgemeinen, aber insbesondere Radierungen mehr gelesen als angeschaut werden wollen. […] Seit jenem Erlebnis blieb ich der Radierung verhaftet und ausgeliefert.“ (S. 12) Es war also das Literarische, das Narrative im Bildkünstlerischen, das Vallazza zur Radierung hinzog. Er hatte selbst früh zu schreiben begonnen, erkannte aber bald sein größeres Talent im Bildnerischen. Der Literatur ist er dennoch, auf seine Weise, treu geblieben bis heute. Dies ist wohl auch einer der Gründe, weshalb Vallazzas Erzählungen und Berichte zu seiner eigenen künstlerischen Arbeit so spannend, so gewinnbringend zu lesen sind – hier schreibt einer, der es gewohnt ist, aus Texten das Hintergründige herauszudestillieren und den Dingen jenseits ihrer äußeren Erscheinung Bedeutung abzugewinnen. Im Gesamten, so könnte man also sagen, ist der vorliegende Band ein Lesebuch auf hohem, ja höchstem Niveau: In Bild und Text wird aufs Trefflichste erzählt, aber nichts wird ausbuchstabiert. Denn, so Vallazza selbst, beim Vergleich seiner radierten Bildfolgen mit der Dichtung finde man „keinerlei äußeren Zusammenhang mit dem behandelten Sujet, wohl aber eine geheime innere Verwandtschaft“ mit ihrem Sinngehalt (vgl. S. 166).
     Das Buch enthält neben den Einzelgrafiken der Jahre 1966–1978 die Mappenwerke „Oswald von Wolkenstein“ (1973), „Daphne“ (1974), „Le Bateau Ivre“ (1974), „Zu Horaz“ (1976) und „Hop Frog“ (1976). Blättert man sich zunächst einmal ganz unvoreingenommen und ohne allzu viel Vorinformation durch die satten 340 Seiten, so schlägt einem eine Bilderflut menschlicher Körpernaturen, Befindlichkeiten und Beziehungskonstellationen entgegen. Es ist das Lebendige, das prall Lebende, das Ungezügelte und Sinnliche auch, das hier zuallererst anrührt. Das Grundmuster, das den Künstler vornehmlich zu interessieren scheint, ist das spannungsgeladene Verhältnis von Mann und Frau, das Begehren in all seinen wunderlichen bis wunderbaren Schattierungen, aber auch das Leid, das damit unmittelbar zusammenhängt, bis hin zum letzten großen Schmerz, dem Tod und der Auflösung. Das Motiv der sinnlichen und in ihrer Anziehungskraft auch mächtigen Frau kehrt am häufigsten wieder, daneben die leidende Kreatur Mensch, wobei dieses Leiden öfters Männern als Frauen zugeschrieben wird. Auch die menschliche Grausamkeit in ihren unterschiedlichen Spielarten führt uns der Künstler vor.
     Trotz der schwierigen Technik, wie sie die Radierung darstellt, arbeitet Vallazza präzise die Nuancen heraus, er gleitet nicht ins Ungefähre ab und vermag den Betrachter durch feingliedrige Details zu beschäftigen und zu faszinieren. Dekoratives ist in diesen Bildern dennoch nicht zu finden. Die Radierung sei für Vallazza „ein Akt der Alchimie“, schreibt Peter Weiermair. “In der Radierung ist das Thema auf das Wesentliche konzentriert. Es wird, so will es der Künstler, von allem Überflüssigen befreit.“ (S. 8)
     Die beim ersten Blättern noch oberflächlich gesammelten Eindrücke verdichten sich, je intensiver die Bilder betrachtet und auch zu ihren literarischen Vorlagen in Beziehung gesetzt werden. Es ist das narrative Element, welches in die Tiefe führt und die sinnliche Spannung der einzelnen Szenerien differenziert. Im Studieren der Bild-Abfolgen und Bedeutungszusammenhänge sieht man erst, in welch hohem Maße die vordergründige Darstellung geistig, ja intellektuell durchdrungen ist. Dabei ist Vallazzas Herangehen an die Geschichte, welche er „illustriert“, radikal subjektiv - es geht ihm um sein persönliches Verständnis der literarischen Werke, mit denen er sich zeichnend und radierend jeweils jahrelang befasst hat, um einen Zyklus entstehen zu lassen. Er interpretiert, lotet aus und er scheut vor dem Irrationalen und Traumhaften nicht zurück. In das letztlich Unerklärbare, oft Mythologische und Fabelhafte steigt er, wohl selbst traumsicher arbeitend, voll ein, doch dies unterwandert die Intellektualität, die er auf das Blatt bringt, nicht. Es bringt diese Intellektualität vielleicht sogar noch stärker hervor. Das Mythologische wird zum Paradigmatischen und schließt Vallazzas Kritik an unserer Gegenwart mit ein. Es deutet auf eine geistige Dimension, die sich nicht nur auf die Handlungsmotive und auf das Erleben seiner „Wahlverwandten“ beschränkt, sondern die Art und Weise, wie die Welt als Ganzes funktioniert, welche Strukturen ihr innewohnen und welche Triebfedern sie antreiben, beschreibt. So scheint Vallazza, angeregt durch die Literatur, in den Radierzyklen seine ganz eigene Welterklärung zu betreiben. Es ist eine Werkstatt, in der das Exakte genauso gesucht wird wie die Poesie, die den Phänomenen selbst dann, wenn sie in ihrer Verworrenheit, Verworfenheit oder Lächerlichkeit auf dem Pranger stehen, vom Meister zugeschrieben werden.
     Auch Reisen und fremde Orte haben Markus Vallazza als Anregung für die künstlerische Arbeit, vor allem aber auch als Klärung der eigenen gesellschaftspolitischen Position, als Schärfung des Blicks gedient. Er schreibt: „In Manhattan […], im sogenannten ‚Schmelztiegel der Nationen’, erlebte ich auf Schritt und Tritt und konzentriert wie nirgendwo, was mich am Menschen seit eh und je auf eine tragikomische Weise fasziniert und berührt hat: Auf der einen Seite sein unverwüstlicher Fortschrittsglaube, sein Strebertum, seine Ellenbogenpolitik, die ewige Jagd also nach dem verlorenen und verbotenen Paradies. Auf der anderen Seite, den Gestrandeten, den ewig Armen, Gedemütigten, Ausgestoßenen, den sprichwörtlichen ‚Ahasver’, kurzum den Auswurf und Abschaum der Gesellschaft.“ (S. 14) Auch wenn Vallazzas Wunsch, an einem Manhattan-Zyklus zu arbeiten, nie Wirklichkeit geworden ist, so sind doch seine Amerikareise wie auch weitere Reisen in Europa entweder als eigener Blickwinkel, oder als Leinwand bzw. Grundfarbe in seinen Radierungen präsent. Da ist eine Weltläufigkeit, die jedoch niemals als solche daherkommt, zu spüren: ein Wissen, ein Begreifen, ein Gesehen haben. Der Meister ist nicht nur ein Meister seines Handwerks, sondern auch ein Philosoph.
     Und so wird schon in diesem ersten Band zu Vallazzas Radierwerk Licht auf einen Künstlerkosmos geworfen, der sich nicht nur in einer großen Anzahl unbestreitbar hochwertiger Blätter ausdrückt, sondern auch im Reflexionsniveau des Künstlers selbst besteht. Sich mit dem Leben, der Persönlichkeit und Denkweise Markus Vallazzas zu beschäftigen ist mithin, neben dem Kunstgenuss, ein lohnendes Unterfangen. Es ist anzunehmen, dass auch der zweite, für nächstes Jahr geplante Band diesen Erhellungsvorgang fortsetzen wird.
   

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Bernhard Kathan, Nichts geht verloren.

Lengwil: Libelle Verlag, 2006 

Starke Bilder vom Fortleben 

Nahezu zeitgleich hat Bernhard Kathan im Jahr 2006 eine kulturhistorische Studie „Strick – Badeanzug – Besamungsset. Nachruf auf die bäuerliche Kultur“ (StudienVerlag) und die Erzählung „Nichts geht verloren“ (Libelle) herausgebracht. Man spürt gleich, dass diese beiden Texte aus einem Geist heraus geschrieben wurden, dass sie einander ergänzen. In „Nichts geht verloren“ folgt Kathan der Spur eines einzelnen Bauern, wirft – von dessen Tod aus betrachtet – Schlaglichter auf sein Leben, seine Arbeit, sein Denken und auf die Menschen um ihn. Jodok tritt dem Leser als starke, autonome Figur entgegen und doch ist sein, wie unser aller Leben, zerbrechlich.
            Es ist immer spannend, die Dinge von ihrer fragilsten Seite aus anzusehen, wird doch das Gewöhnliche und Alltägliche dadurch zu etwas Besonderem. Faszinierend ist, wie einfach und zugleich fesselnd eine Erzählung sein kann, wenn sie mit einem klaren, aber auch einfühlsamen Blick geschrieben ist. Bernhard Kathan lässt seinen Erzähler – ob ein jüngerer Freund des Sterbenden oder sein Schwiegersohn, wir erfahren es nicht und es ist auch nicht wichtig –  keiner Chronologie folgen, vielmehr um die zentralen Ereignisse in Jodoks Leben kreisen. Dem offenbaren Anliegen des Autors entsprechend werden dabei vor allem die Brüche, manchmal sind es nur feine Bruchlinien, sichtbar gemacht. So wird etwa die Hochzeit mit Agnes, die nicht aus einer Bauernfamilie stammt, weniger als freudiges Ereignis, sondern mehr als Widerspruch oder Gratwanderung geschildert. Die sehr berührende Szene des Hochzeitsmahls, zweimal unter verschiedenen Blickwinkeln erzählt, lässt das Glatteis spüren, auf dem sich das Leben mit all seinen Hoffungen und Erwartungen abspielt: Der ausgeprägte Ordnungsdrang der Braut verdeckt Abgründe und die überall gegenwärtige Gefährdung, das Hochzeitsmahl wird nur für fünf Personen, jedoch mit Goldrandgeschirr und eigenhändig bemalten Tischkärtchen bereitet, Jodok ist ungeschickt und verschüttet Wein, die Bauern sind nicht geübt mit mehrteiligem Besteck umzugehen. Hinter dem Vordergründigen stehen schwerer wiegende Tatsachen, etwa dass einige aus Jodoks Familie schon früh herausgestorben und die Bauern arm sind. Doch: „Als Agnes starb, hinterließ sie das Goldrandgeschirr vollzählig.“ (S. 16)
Jodoks Schwester Bernadette ist früh an Typhus gestorben, sein taubstummer Bruder Walter hat sich aufgehängt, nachdem ihn ein Mädchen abgewiesen hatte und die Dörfler spottend über ihn hergezogen waren. Agnes’ Schwester Maria ist längst tot, Bernarda aufgrund einer viel zu spät gefundenen Stecknadel im Hals starr und auf „einen Rollwagen“ (S. 77) angewiesen.
Es wird gewaltsam gelebt und gestorben, vier Brüder aus dem Dorf geraten in Streit, einer von ihnen wird den Felsabhang hinab gestoßen. Der Mord ist zwar nie bewiesen worden, aber es könnte so gewesen sein. Der alte und kaum noch wendige Jodok erwürgt einen Rehbock, seine plötzlich aufflackernde Wut auf einen Jagdaufseher gibt ihm die Kraft dazu. Ferkel und ausgewachsene Schweine werden geschlachtet, andere Tiere verenden. Mehr und mehr wird deutlich, wir haben es bei diesem Buch mit einem Totentanz zu tun, doch bei Kathan wird keine Moral daraus abgeleitet. Dass alles stirbt, ist die schlichte Realität und gewaltsam ist nicht nur der Tod, sondern auch das Leben.
„Das Leben ist ein Durcheinander. Tröstlich ist deshalb die Vorstellung, dass zumindest Leben und Tod klar voneinander geschieden sind“ (S. 93), meint der Erzähler und muss doch zugleich wissen, dass das, was er selbst wahrnimmt, diese Vorstellung widerlegt. Dass Dies- und Jenseits nicht wirklich getrennt sind, sondern ineinander verschwimmen, durchzieht die Erzählung von Anfang bis zum Schluss und wird durch eingestreute surreale Szenarien bekräftigt: Der tote Jodok lässt seine Schritte auf dem Kies deutlich vernehmen, er streicht ums Haus, hinterlässt Zeichen seiner Anwesenheit vor und hinter der Tür, er schaut aus den traurigen Augen eines Siebenschläfers. Unter dem Tisch, an dem die Hochzeitsgesellschaft tafelt, liegt das sonnengebleichte Skelett der Maria und wird von den Anwesenden Stück für Stück verzehrt. Das Paradoxon, dass alles stirbt, doch nichts verloren geht, dass sich die Nachgeborenen die Toten einverleiben, dass notgedrungen eines aus dem anderen hervorgeht und ohne das Vorangehende so nicht denkbar wäre, scheint als Kernaussage des Buches zwischen den Zeilen hervor.
Es ist ein tiefgründiger, poetischer Text, den Bernhard Kathan hier vorgelegt hat, ein Text, der trotz der ständigen Anwesenheit des Todes nichts Morbides an sich hat, sondern die Dinge zeigt, wie sie sind. Diesem Autor geht es immer um die Wirklichkeit, was etwa auch an den Stellen deutlich wird, wo der lieblose medizinische Umgang mit den Alten und die Veränderungen in der bäuerlichen Gesellschaft und Kultur skizziert werden. Besonders schön an diesem Buch ist, dass die zentralen Figuren mit wenigen Strichen lebendig hervortreten: der widersprüchliche und vitale Jodok, die im Bauernhaus (gewissermaßen aus eigenem Willen) fremd bleibende Agnes, die Kinder der beiden: Sie alle sind konkrete Menschen mit einer ganz eigenen Geschichte, aber letzten Endes sind wir nicht anders als sie.
  

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Sepp Mall (Hg.), Über beide Ohren
. Jugendliche schreiben Hörspiele.
Innsbruck: Skarabäus 2006

Mit dem Gehör sehen

Höchst löblich war bereits die Initiative der Kulturämter Nord- und Südtirols, einen Hörspielwettbewerb für Jugendliche zu veranstalten. Erfreulich ist nun, dass die besten Texte in einem ansprechenden Buch nachgelesen werden können. So kann man sich ein Bild dessen machen, was die Jugendlichen des Landes derzeit so sehr beschäftigt, dass sie es sogar literarisch verewigen wollen (das Thema konnte frei gewählt werden). Und man kann sicher auch das eine oder andere literarische Talent entdecken. Die Themen der Stücke reichen von Beziehungskonflikt, Scheidung und Schulalltag über Umweltzerstörung und Tourismus bis hin zu Ausländerpolitik und Asylantenproblematik. Die unmittelbare Lebenswelt der Jugendlichen kommt zum Ausdruck, verfließt mit dem Konzept, dem Thema und macht das Unternehmen erst richtig stimmig. Zum Schmunzeln gibt es beim Lesen viel, aber auch zum Fürchten, hat doch der Hörspielkrimi hier wie auch andernorts seine Anhänger gefunden.
     19 Hörspiele, meist in Kleingruppen verfasst von insgesamt 49 Autorinnen und Autoren zwischen 15 und 21 Jahren, sind es, die sich zwischen zwei Buchdeckeln versammeln – ein satter Eindruck. Doch beim Wettbewerb eingesandt wurden weit mehr, nämlich 135 Hörspiele. Es waren also an die 500 Jugendliche, die sich an der Initiative beteiligten! Ein überwältigender Erfolg.
     Das Hörspiel ist eines der interessantesten literarischen Gattungen, bietet es doch viel Möglichkeit für Experiment und Spiel. Der Südtiroler Schriftsteller und Herausgeber Sepp Mall schreibt in seinem Vorwort, es blühe eher im Verborgenen, habe aber seine Strahlkraft nicht verloren. Die besten Jahre des deutschsprachigen Hörspiels waren die 50er und 60er Jahre, nahezu alle arrivierten Schriftsteller beschäftigten sich damals mit dieser Gattung. Das ist heute anders, die Radiokunst ist von den Bild- und Filmmedien zurückgedrängt worden. Doch es gibt immer noch so etwas wie einen Hörspielkult, dem sich manche Autoren und Radioleute hingeben; hat man einmal mit dem Hörspiel zu tun gehabt, wird man es nicht mehr so schnell loslassen. Vielleicht, so hofft man, geht es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an diesem Wettbewerb ja auch so. Soviel ist jetzt schon sicher: Diese 500 jungen Leute in Tirol werden derzeit und in Zukunft immer dann aufmerken, wenn ein Hörspiel im Radio kommt.
     Das schnelle Switchen zwischen ganz verschiedenen Erlebnisräumen ist im Hörspiel nicht nur erlaubt, sondern geradezu erwünscht, und dies war vermutlich für die Schülerinnen und Schüler ein großer Anreiz zum Schreiben, Gestalten, Kreieren. Der Kreativität und Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Allzu strenge literarische Maßstäbe konnten beiseite gelassen werden, wenn die Idee gut und die Ausführung von einer gewissen Kraft und Klarheit geleitet war. Es wurde nicht nur geschrieben, sondern auch gesprochen, vertont und geschnitten, die Ergebnisse wurden von einer sechsköpfigen Expertenjury sortiert und bewertet. Und es gab als zusätzlichen Anreiz ordentliche Geldpreise zu gewinnen!
     Die Siegerhörspiele „Dinkelbrot mit Käse und Gurken“ (Esther Strauß), „Odyssee der Namenlosen“ (Carmen Holzmann, Anna Oberrauch, Katharina Obwexer) und „Ver(w)irrt“ (Lena Bragagna, Giovanna Maria Helmer, Lisa Mayr, Anna Untertrifaller) wurden professionell produziert und in ORF und RAI ausgestrahlt. Dass „die spürbare Sicherheit bei der ästhetischen Umsetzung mancher Stücke die Jury beeindruckt“ hat (siehe Vorwort) mag damit zu tun haben, dass die heutigen Jugendlichen vom Akustischen im Allgemeinen wohl insgesamt stark geprägt sind, auch wenn sie das Hörspiel im engeren Sinn vielleicht noch gar nicht gekannt haben. Die Verbindung von Geräusch-Ton-Musik und dem sprachlich formulierten Gedanken oder Thema hat hier sicher ganz neue Erfahrungen gebracht, die hoffentlich über die eine Arbeit, über diese erste Gelegenheit, mit der eigenen Arbeit so vortrefflich gehört und gelesen zu werden, hinausgehen wird.
 

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Bernhard Kathan, Strick Badeanzug Besamungsset.
Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur.
Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag 2006 

gebürstet 

100 Bürstenstriche pro Tag bringen ausgelaugtes Haar wieder zum Glänzen. Dabei empfiehlt es sich, die Arbeit bei herab fallendem Kopf vom Nacken aus zu beginnen, die Bürste in alle möglichen Richtungen zu führen, den dicht an der Haut liegenden Strähnen Luft zuzuführen und das natürliche Fett ordentlich zu verteilen. Schaut man dann in den Spiegel, so hat man den Eindruck, das Haar falle anders, läge neu, gesunde.
     Wie ein Bürstender geht der Kulturhistoriker, Schriftsteller und Künstler Bernhard Kathan vor, wenn er einen Nachruf auf die verschwindende (sich damit der Kenntnis entziehende) kleinbäuerliche Kultur verfasst. Strähne für Strähne wird der bäuerliche Alltag beleuchtet: Ausgehend von 60 Gebrauchsgegenständen (Eisenhaken, Weihwasserkesselchen, Grenzstein, Gussstück…) werden Geschichten rund um das tägliche Leben, die harte Arbeit und die damit zusammen hängenden Mythen erzählt, schrittweise enthüllt sich eine Lebensform, die in ihrer Logik eng mit der Natur und dem Überleben in der Natur verknüpft ist. Kathan ist nicht ausschweifend, konkret und reduziert beschreibt er, wie die Kleinbauern gelebt haben und (in nur mehr seltenen Fällen) heute noch leben. Er zeigt, wie und wozu die Dinge verwendet wurden. Er will keine Romantik erzeugen, keine Reparatur vornehmen und schon gar kein fototaugliches, museales  Bild herstellen. Er giert nicht nach dem Glanz dessen, was er beschreibt. Doch wenn sich dieser von selbst einstellt, hat er nichts dagegen.
     Kathan informiert sorgfältig, aber nicht schwerfällig. Langsam und präzise bringt er die Eigenstrahlung hervor, die die Dinge im logischen Kontext eines Lebenszusammenhanges entfalten. Indem die Gegenstände auf ihre Funktion zurück geführt werden, versteht man sie, indem sie mit anderen Dingen in Beziehung treten, werden sie lebendig. Auf diese Weise erfährt man sehr viel über Leben und Denken der Klein- und Bergbauern, ohne sich belehrt oder überfrachtet zu fühlen. Die Informationen fließen aus den Gegenständen heraus, leicht und meist poetisch.

     Es kann einem passieren, dass man plötzlich selbst an der Kreissäge steht oder in der Stube sitzt. Man hört und spürt, wie es dort ist. Als Leserin war ich ein paar Mal in den Händen der Bäuerin, in den Schuhen des Bauern. Ich war das Kind dieser Leute. Ich war für Momente deren Nachbarin, deren Seelsorger. Sogar ein Traktor war ich, spürte die spezielle Vibration des Fahrzeugs. Kathan fängt mitunter das Spektrum der Gerüche und Klänge ein, auch die Beschwerden des Körpers beim Arbeiten, die Kälte, die Hitze. Das Sinnliche spielt eine wichtige Rolle, aber hier wird nicht schwadroniert. Weil der Autor über diese Kultur genau Bescheid weiß, kann er sich Ausflüge in die Imagination leisten. Als Leserin und Leser glaubt man den Klängen, Gerüchen, Sensationen.
      Was in diesem schmalen Buch an sachlicher Information über die kleinbäuerliche Kultur untergebracht wird, ist enorm. Der Text ist eine Fundgrube an Detailwissen. Doch das ist nur eine von mehreren Qualitäten. Da ist etwa noch der poetische Blick, der einnimmt und fesselt. Diese Poesie ist unaufdringlich, sachlich rückgebunden, zugleich subtil schräg. Mit ihren Mitteln wird mehr ausgedrückt als durch reines Nennen und Aufzählen, Vielschichtiges tritt zutage, Atmosphäre verdichtet das Bild. Sie ist gekennzeichnet von harter Armut, vom Überleben und vom Leiden, von der Fraglosigkeit des Daseins und von der mangelnden Zeit für Gefühle. Verklärt wird da nichts.
     Johannes E. Trojer, über dessen Nachlass am Brenner-Archiv derzeit geforscht wird, hätte seine Freude mit diesem Text gehabt! Wie Trojer (Villgrater Autor, Historiker, Dichter, Volkskundler) lebt auch Kathan als Künstler ganz nah an der Alltagskultur, verwebt das Kleine, das Konkrete, die ungeschminkte Wirklichkeit mit dem Hintergründigen und Geheimnisvollen, mit der Poesie. Er reflektiert den Befund kritisch und nimmt ihm doch niemals seine Würde. Wie Trojer schafft es auch Kathan, das Verschwindende verschwinden zu lassen, es nicht aufhalten zu wollen und es doch lebendig zu halten. Im Benennen wird interpretiert, im Verknüpfen der einzelnen Facetten steckt schon die Reflexion. Das Wissen um die Dinge spielt eine Schlüsselrolle, doch dieses Wissen ist nicht nur aufzählend und nie oberflächlich, es dringt zu den Unterschichten vor. 
     Kathans Text weist noch eine weitere Dimension auf. In manchen Passagen reflektiert er die kleinbäuerliche Kultur im Kontrast zur Gegenwart. Wird aus dem Blickwinkel unserer ‚fortschrittlichen’ und hoch spezialisierten Gesellschaft das ‚einfache’ bäuerliche Leben häufig (klischeehaft) als rückständig und konservativ klassifiziert, so entlarvt Kathan umgekehrt unsere heutige hoch entwickelte und spezialisierte Lebensform als vergleichsweise arm und reduziert. Während die Kleinbauern überhaupt nur überleben konnten, wenn sie untereinander und mit der Natur auf Tuchfühlung waren, so leben wir Zeitgenossen abgespalten von einem nachvollziehbaren Sinnzusammenhang. Vielleicht kann man es so sagen: Heute überlebt man im Allgemeinen ohne Mühe, dafür gerät man leicht   in die Gefahr zu vegetieren.
     Dazu ein Zitat: „Die kleinen Bauern bedienten sich vielfältigster Körpergesten. Sie teilten sich aber auch mit den durch Werkzeuge verursachten Geräuschen mit, etwa mit Hilfe eines Dengelhammers. Motorbetriebene Maschinen eröffneten diesbezüglich neue Artikulationsmöglichkeiten. […] Heutigen Dörfern ist die Musikalität früherer Jahrhunderte abhanden gekommen. Heute kennen auch sie den Lärm, den des Straßen- oder Flugverkehrs, den von Traktoren und Rasenmähern. Irrtümlicherweise wird Lärm vor allem mit Lautstärke assoziiert. Tatsächlich werden Geräusche nur dann als Lärm empfunden, hat sich das gemeinsame Sinngefüge aufgelöst.“ (S. 29)
     Bernhard Kathans eigenwillige Dokumentation ist allen zu empfehlen, die sich für den Alpenraum und seine Kulturgeschichte interessieren, sei es von innen betrachtet oder von außen, von einem anderen Landstrich, her blickend. Daneben ist das Buch auch als paradigmatische Reflexion über den Zusammenhang von Lebensbedingung und Lebensform wichtig. Es ist weiters eine Geschichte über die Menschen, eine Sammlung von Begebenheiten und Kuriositäten, die nicht nur schmunzeln lassen, sondern auch die eine oder andere philosophische Betrachtung anzuregen vermögen. Dieses Buch liest man nicht nur einmal, man kann es immer wieder aufschlagen und mittendrin zu schmökern beginnen. Und vielleicht findet man darüber einen Zugang zu anderen Arbeiten Bernhard Kathans, was sehr lohnend wäre. Kathan entwickelt schon seit vielen Jahren Projekte im Schnittfeld zwischen Kulturhistorie, Kunst im öffentlichen Raum, Poesie und Spiritualität, wobei keiner dieser Bereiche im herkömmlichen, sondern im Kathan’schen Sinn zu verstehen ist. Siehe zum Beispiel: HIDDEN MUSEUM

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Klaus Händl, Stücke.

Mit einem Nachwort von Helmut Schödel
Graz: Literaturverlag Droschl 2006 

Wo alles schon besser gesagt ist, möchte man schweigen und kann es nicht. 

Selten hat mich ein Buch in so gute Stimmung versetzt wie dieses. Trotzdem erübrigt sich eine konventionelle BeSprechung desselben dadurch, dass Helmut Schödel in seinem  Nachwort über Händls Stücke alles schon besser gesagt hat als ich es zu sagen vermöchte. Geradezu ein Glücksgriff des Droschl-Verlags, allerdings könnte ein derart stichfestes Wort zur Literatur engagierten Rezensenten die Motivation nehmen, dem noch etwas hinzuzufügen. Womit die publicity ausbliebe, die dem Werk jedoch zustünde. Was einer begeisterten Rezensentin also bleibt, ist eine Empfehlung, mehr noch ein Appell: Man muss das Buch unbedingt haben und lesen! So könnte ich meine Besprechung auch schon enden lassen. Oder noch klarer zum Ausdruck bringen: Der Händl Klaus ist wirklich saugut! Und Punkt.
     Soll ich wirklich nicht mehr dazu sagen? Doch, doch, es juckt mich da noch mein Naseweis und sucht nach der einen und anderen klugen Bemerkung. Aber ich kann meine persönliche Leseerfahrung nur durch Fragen vermitteln: Wie macht der Händl das? Es ist großartig und kommt doch nicht großartig daher! Wie kann ein bisschen durchgehaltene Lakonie dermaßen unter die Haut gehen? Es ist doch nicht wuchtig und verschraubt wie eine Jelinek oder so herrlich verschroben wie ein Jonke! Wie geht das? Wenn die Sätze doch eigentlich so nüchtern bleiben, wo kommt da dieser spezielle Dreh her? Und wie kann Theater spannend sein, wenn es zwischen zwei Buchdeckel gezwängt wird? Das möchte man ja nicht glauben…
     Doch dieses Theater IST spannend, sogar in Buchform. Und überzeugend! Sprachkunst und doch richtiges Theater! Nicht Rollentheater, aber doch nicht ganz nicht! Nicht leichte Kost, aber dennoch unbändig leicht! Atmosphärisch dicht! Eindeutig uneindeutig und ohne Belehrung! Skurril und im richtigen Moment wieder nicht! Tief anrührend spielt es mit Rührung! Es spielt und sticht treffsicher in ein Nest, das man nur ahnt. Es will gar nichts Besonderes, so scheint’s. Es bringt die Dinge nicht einmal auf den Punkt, man erfährt kaum Sicheres, weiß nichts Genaues nicht! Gewölk, wo man hinschaut! Aber warum wirkt es dann nicht vage? Welches Wort suggeriert mir Leserin Brutalität? Welches kleine Dings bringt mich auf   Manipulation? Worin zeigt sich der Abgrund? Warum hab ich beim Lesen diesen Schmerz, mit einem Mal? Weshalb lässt mich der Eindruck nicht los: Die da sprechen, lieben doch eigentlich? Wieso stellt sich bei dem vielen Eis auch noch eine fröhliche Gestimmtheit bei mir ein? Alles halb so wild, da es doch wild zugeht und das Dunkel lockt?
     Es ist Menschengestrüpp, das mir da als Gunter-Emil-Hedy-Bruno-Olivia-Corinna und Co. in diesen drei Stücken entgegentritt. Aber: Könnte ich so sein wie diese Menschen? Ja sicher, und doch wieder nicht. Etwas scheint mir verloren gegangen zu sein, und das verursacht so etwas wie Schmerz. Händls Stücke deuten auf meine riesigen Lebenslastengeschichten hin, die ich immer allesamt mit mir herumschleppe, statt einfach am Abgrund entlang zu existieren wie diese Personen, die bei allem Gestrüpp doch unvergleichlich sie selbst zu bleiben scheinen.  Dabei haben sie nicht einmal einen je eigenen Satz, geschweige denn einen charaktergerechten Jargon. Sie sprechen quasi im Chor, oder im Staccato nacheinander, sie teilen sich die Sätze, als gäbe es davon nicht allzu viele. Sie bleiben sich treu durch die Unmittelbarkeit ihres Sprechens, durch die Lastlosigkeit, Ideologielosigkeit ihres Handelns. Punkt und Beistrich setzen sie nach keiner Grammatik. Vielleicht sind sie letztlich Marionetten ihrer abgeworfenen Geschichte, aber trotzdem freier als ich, die ich allerhand durchschauen möchte und nicht kann, ich Naseweis.
     Zum Beispiel: Flick. Ja, warum heißen die Wilden alle ausgerechnet Flick? Sollte das gar ein Zufall sein, oder ist das die Verführung des Inszenators? Nirgendwo, in keiner der diversen Homepages, treffe ich auf einen entsprechenden Hinweis. Ach so, der Schlingel, er möchte mich aufs Glatteis führen! Ich soll mich in die Flick-Geschichte verheddern, wo doch eigentlich nur ein trauriger gescheiterter Arzt auf eine Verwahrlosung trifft und in ihr verschwindet. Ich habe sie mir noch einmal angelesen, die Flicks allesamt mit ihrem Bluterbe und ihrem Bemühen, die Gewalt ihrer Vorfahren aus dem Gedächtnis zu tilgen mit etwas schicker Kunst, damit sie nicht selbst in den Geruch kommen. Und die Schwester des Flick-Erben, diese kluge andere Frau, habe ich auch noch auf Deckung mit Hedy gebracht, weil sie als zweifache Schwester in Händls Stück die ist, die das Blut nicht wegwischen will, es trockenen lassen will, der Flick-Fleck darf, ja soll da bleiben! Und so weiter, da wären noch Parallelen zu finden, bis hin zu: Bleiburg ist gleich Rüstungsindustrie. Ja, ich gebe es zu, ich hätte gern etwas Sicheres gehabt, eine Anspielung auf die „reale“ Geschichte entdeckt, und gewiss hätte der Händl Klaus auch gar nichts dagegen einzuwenden, weil er eh nicht vorschreibt, was ich mit seinem Stück anzufangen habe und was nicht. Ich selbst war es, die mitten im Tun und Machen plötzlich ein Gefühl der Lächerlichkeit überkam.
     Nun, ich kann die oben gestellten Fragen zu den drei Stücken nicht beantworten, ich habe keine Ahnung, wie er es macht. Aber interessant wäre es schon zu wissen, meldet sich wieder mein Naseweis: Warum etwa zwei lange Monologe im alpinen Eis mit einigen Toten so gar nicht langweilig werden, obwohl sich kaum etwas herausfinden lässt, zudem keine Metaphern festzumachen sind, höchstens Assoziationen in meine Lektüre schwirren, Assoziationen, die sich im nächsten Moment zu ihrem Gegenteil verkehren, und immer so weiter, sodass ich am Ende nur sagen kann: Sie hat Charme, diese Rede. Die Lektüre hat mir etwas gebracht, aber fragt mich jetzt bloß nicht, was. Sollte da noch etwas erklärt werden müssen?
     Ich weiß, es ist vermutlich sehr blöd, angesichts von „Eisgeliebten“ an den gesellschaftlichen Umgang mit schwuler Erotik zu denken, oder an unser derart vereistes Menschendasein, dass sogar die Gletscher noch weicher erscheinen als wir, die wir dann und wann zwar auf Schmelzen zu reden kommen und weit davon entfernt sind, auch nur etwas Freundschaft im wahren Sinn des Wortes Hand zu haben. Wir gehen doch allesamt aneinander vorbei! Wann schon betet einer von uns einen Freund an? Noch dazu einen im Eis gefundenen Toten, und dann auch noch seitenlang. Das kann nur ein Gott sein, der da spricht, kommt mir vor, aber o schnöde Suche, o sinnlose Spekulation! Lassen wir’s besser bei der Feststellung, dass Händl mit seinem „Ich ersehne die Alpen; So entstehen die Seen“ etwas anrührt - und Punkt.
     Helmut Schödel schreibt in seinem Nachwort einen guten Satz: „Er [Händl] pflegt eine liebevolle Beziehung zum Ungeheuerlichen, zu Katastrophen, Schmerz und Tod.“ Frappierend ist in der Tat die Freundlichkeit, mit der Händl in das Gestrüpp vordringt und, immer kurz vor dem Kippen ins Monströse, den Humor, die Liebenswürdigkeit durchscheinen lässt. Damit behübscht er keineswegs, doch überzieht er seine Beobachtungen nicht mit Denunziation. Genau diese Leichtigkeit seiner Texte betont das ins Wanken geratene Gleichgewicht als eine Realität, die nicht dort, bei anderen, zu suchen ist. Eben dieses Wanken wird durch nichts fühlbarer gemacht als durch einen konsequent schwebend gehaltenen Text. Am meisten Bodenhaftung hat noch der dritte Text in dem Band, das neueste Händl-Stück. Doch kein Thema wird als Schild voraus getragen, es ist eine vordergründig banale und doch geheimnisvolle Welt, die einen da wohin zieht. Besser als Schödel es tut, ist „Dunkel lockende Welt“ nicht zu summieren, ein Stück, das der Rowohlt-Verlag als „Tryptichon der Liebe, die ihren Empfänger nicht erreicht, Fragmente einer Sprache der Entfernung“ promoviert hat. „Aber die großen Begriffe verwischen selber auch nur die Spuren zu Händls Texten. Wie leicht man sich täuschen kann“, sagt Schödel. So ist es.
     Ich muss gestehen, ich hatte mich getäuscht. Als ich das Buch aufschlug, hatte ich nicht so viel Interessantes erwartet. Den sympathischen Zeitgenossen Händl, den ungespielt freundlichen, leicht schrulligen jungen Mann sollte man als Diagnostiker einer dunkel lockenden Welt nicht unterschätzen. Der mittlerweile erfahrene Stückeschreiber, mehrfach ausgezeichnet und aufgeführt, rangiert in der jungen Theaterwelt zu Recht weit vorne. Seine persönliche Fasson, außerdem die Leichtigkeit und das nicht Greifbare, das Unbestimmte seiner Stücke (tja, wie macht er das nur?) könnte dazu führen, dass man ihn für harmloser hält als er tatsächlich ist.

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Alois Hotschnig, Die Kinder beruhigte das nicht.
Erzählungen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006 

Beginnt man, über Alois Hotschnigs neues Buch zu schreiben, so drängt sich dessen Rhythmus beinahe auf. Oder: Vielleicht sucht man unwillkürlich nach dem Ton dieser Geschichten, um sie annähernd erfassen zu können, liegt doch in der Sprache - in Rhythmus und Tonfall eben - die nachhaltige Wirkung der Texte. Freilich wird auch Außergewöhnliches erzählt, in dem Sinne, dass Hotschnig das vordergründig Gewöhnliche in genau bemessenen Schritten auf seine tiefere Dimension hin untersucht und vor dem Leser ausbreitet. Darin liegt die Spannung der Geschichten, von denen Peter Bichsel im Klappentext sagt, sie seien „in die alltägliche Langeweile eingebettet“. Und, so Bichsel: „Hotschnigs Geschichten werden mir beim Lesen zu meiner eigenen Erinnerung.“
     Man hat den Eindruck, der Autor habe sich schreibend vorangetastet, um etwas zu erkunden, wovon er zunächst selbst nur vage Kenntnis besessen hat. Ich stelle mir vor, dass das erzählende Ich ohne spezielle Absicht (etwa, die oder jene Figur einer Geschichte abgeben zu sollen oder zu wollen) durch die Welt spaziert, schließlich einen Eindruck davon mit nach Hause zurückbringt. Möglicherweise hat sich ihm das Gesicht einer vorbei gehenden Person eingeprägt, oder es hat sich ihm die Bauweise eines Hauses aufgedrängt, oder es ist das Verhalten eines Tieres, das einen Moment lang fesseln konnte. Ich stelle mir also vor, dass der Erzähler etwas von dem aufgreift, was sich tagtäglich hundert Mal vor unseren Augen abspielt und gar nichts Besonderes darstellt. Vielleicht geht dieser Erzähler nicht einmal aus dem Haus, sondern sieht sich dort, in seiner eigenen Umgebung um, vielleicht schiebt er bloß den Vorhang zur Seite und schaut einmal mehr zum See hinaus, sieht dort einen Mann in seinem Boot mit einer Taschenlampe ins nächtliche Schilf leuchten. Plötzlich kommt dem Erzähler vor, der Mann hat eine erzählenswerte Geschichte, die überdies in Verbindung zu seiner eigenen Stimmung steht, die sich im Moment der Wahrnehmung eingestellt hat. Noch ahnt er diese Geschichte nur. Er kennt sie nicht und befindet sich doch schon mittendrin. Der Erzähler sucht in seinem Inneren nach der hintergründigen Dimension der eigenen Gestimmtheit.
     Alois Hotschnigs Geschichten, das will ich sagen, verschmelzen die gewöhnliche Wahrnehmung im Außen mit dem Inneren dessen, der erzählt, der die gemeinsame Geschichte des Außen und Innen durch konsequente Intuition herausschält. Das Wahrgenommene wird nicht verlassen, nicht zurückgelassen, um etwa der Phantasie des Erzählers allen Raum zu geben. Andererseits wird auch nicht der Logik des Außen gefolgt und dabei das innere Wissen vernachlässigt. Die beiden gehen Hand in Hand, die ganze Geschichte lang, und so wird das Erzählte tatsächlich zur gemeinsamen Erinnerung.
     Freilich sind solche Mutmaßungen einer Rezipientin spekulativ. Doch hat man beim Lesen des Buches  den Eindruck eines literarischen Verfahrens, das sich bewusst auf dem schmalen Grat zwischen Überprüfbarem und Phantastischem bewegt und beidem gerecht wird. Zwei Menschen etwa, die tagtäglich, von morgens bis abends, in ihren Liegestühlen auf einem Steg am See sitzen und nichts anderes tun, als dem Erzähler Gelegenheit zur Irritation zu geben, sind ein exemplarischer Fall: Die beiden Leute werden wahrgenommen in ihrer ganz eigenen Art, einen Sommeraufenthalt zu gestalten, die Beobachtung würde für sich gesehen nicht mehr besagen als nur das. Die Irritation des Beobachters aber macht das Beobachtete zur Geschichte. Ähnlich verhält es sich mit dem Text über ein Insekt, das im Zoomverfahren beim Sterben betrachtet wird. Hundertfach hat man so etwas gesehen und es doch nicht gesehen. Hotschnigs Erzähler aber sieht, er lotet das Geschehen als Erfahrung aus. Er verbindet die Bemühungen des Tieres, trotz allen Bedrohtseins noch das Terrain des Lebens zu erobern, mit dem inneren Wissen um den Todeskampf als Lebensimpuls. Dabei hat der Erzähler die Erfahrung nicht eigentlich gemacht, er könnte ja sonst nicht davon berichten. Aber es gibt ein Wissen um die elementaren Dinge, es gibt sie als innere Erfahrung jenseits individuell gemachter Erfahrungen, doch freilich muss sich ein jeder erst dorthin vortasten, die Schraube des Universalen tiefer und tiefer ins eigene Fleisch drehen.
     Das Beeindruckende der Erzählweise Hotschnigs liegt darin, dass bei der „äußeren Wahrheit“ geblieben wird, dass das Phantastische, das über die sogenannte Realität Hinausgehende nur in der Lust des Erzählers liegt, genau zu sein, Lupe und Zeitlupe einzusetzen und dabei das eine oder andere Mal eine Zuspitzung zu wagen. Großartig sind jene Texte, die bei Letzterem nicht zu weit gehen, die nicht zu weit von jenem schmalen Grat abweichen, der die bloße Wahrnehmung mit der inneren Schraube verknüpft. Die Sprache entspricht dem Verfahren, sie ist so präzise, wie Sprache nur sein kann, doch ist sie nicht kühl, auch nie manieriert, sie kreist nicht in sich, sondern steht dem zu Erzählenden zur Verfügung.
     Wunderbar ist zum Beispiel ein Text („Morgens, mittags, abends“), in dem einer durch die Straßen geht, um einen Arzt aufzusuchen und das dabei Registrierte aufzeichnet, den gewöhnlichsten Dingen durch genaues Hinsehen zu Recht verhilft. Der Arztbesuch kommt zunächst so beiläufig daher wie nur was, er ist nur der Anlass zum Gehen und darum nicht wichtig. Tabletten gegen Halsweh werden abgeholt, und nun geht es den gleichen Weg wieder zurück, nun werden die (durch die vergangene Zeit logisch folgernden) Verschiebungen des zuvor Wahrgenommenen protokolliert. In diesen Verschiebungen oder, so könnte man auch sagen, Entwicklungen liegt die Spannung in der (nicht ausgesprochenen) Erkenntnis: alles ist noch da, aber schon hat es sich verändert. Am Ende eine Überraschung: Der beiläufige Anlass für den Spaziergang rückt plötzlich in den Mittelpunkt, der Arztbesuch wird durch ein nur angedeutetes, späteres Ereignis doch noch ganz wichtig. Drei Kreuze hat der Arzt auf die Medikamenten-Packung für die empfohlene Einnahme (morgens, mittags, abends) gekritzelt. Und dann stirbt er bei einem Autounfall, seine Mutter und seine Frau saßen bei ihm im Wagen.
     So ist es, das Leben, doch ohne Alois Hotschnig hätten wir es so nicht gesehen. Nicht so magisch, nicht so verstrickt, nicht so ausgesetzt, nicht so sehr dem Unbegreiflichen unterworfen, gleichzeitig in allem auch nicht so liebens- und lebenswert. Denn in der Unterschicht liegen die eigentlichen Beweggründe.
     Überall in Hotschnigs neuen Erzählungen lauern unter der Alltäglichkeit unbegreifliche Unruhe, untergründige Bedrohung, Aufruhr und Frage - der Erzähler schiebt den Schleier zur Seite, manchmal benennt er die Unrast, doch nie wertet er sie. In der Irritation scheint der Motor für die Veränderung zu liegen, nach der das Lebendige immer strebt. Beruhigen lässt sich da nichts. Und so ist auch die Titelerzählung vielleicht zu verstehen: Was die Kinder, die noch unmittelbarer fühlen, nicht beruhigt, das sollte auch den Lebensgewohnten nicht beruhigen. Geht man direkt auf die Beunruhigung zu, so zeigt uns die Titelgeschichte, geht man sogar geradewegs in die Beunruhigung hinein und lässt sich auf sie ein, so erfährt man etwas über sich, so lässt man Entwicklung zu und lebt darum intensiv.

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Heinz D. Heisl, Wohin ich schon immer einmal wollte. Eisenbahngeschichten.

Innsbruck: Haymon 2005

Ganz schön skurril!

Heinz D. Heisl ist ein Magier und Tricktaschenspieler, ein verwegener Kundschafter und Reisebegleiter (oder Reiseführer?) in fremde Welten, die so fremd eigentlich gar nicht sind. Die Geschichten in dem neu erschienenen kleinen Band fließen aus einer Quelle, die man nicht genau anzusiedeln weiß – sie befindet sich irgendwo zwischen Himmel und Erde, nur das ist gewiss. Diese Texte sind durch und durch luftig und haben doch auch etwas Bodenständiges an sich.
            „Wohin ich schon immer einmal wollte“ – der Titel klingt lapidar und ist, wie man bald erfährt, ein Understatement, doch in der Sache nicht irreführend. Alle in dem Band versammelten Geschichten handeln vordergründig von Bahnreisen, von nicht überaus aufregenden Bahnreisen noch dazu, fährt doch das erzählende Ich meist bloß zwischen Innsbruck, Zürich und Wien hin und her. Auf diesen Reisen aber geschieht immer Unvorhersehbares, manchmal ereignet es sich sogar noch bevor der Reisende die Reise angetreten hat. Soll heißen: Die faktische Zugfahrt ist nur auf einer Ebene das Thema der Texte. Dahinter, daneben und dazwischen finden Kopfreisen statt, ereignen sich seltsam traumhafte Begebenheiten und skurrile Zusammentreffen unordentlich daherkommender Individuen. Nichts bleibt in diesen Geschichten normal, alles wird herumgewirbelt, dem Banalen enthoben und in eine Sphäre des Hintergründigen befördert. Man muss sich schon richtig darauf einlassen, will man mit den Texten Schritt und Tempo halten.
            Heisls Geschichten lassen sich auf nichts Bestimmtes festlegen oder in einfache Schablonen pressen. Darauf hat es der Autor wohl in erster Linie angelegt, dass man einmal – lesend – Gewöhnliches hinter sich lässt und Erfahrungen des  konkret Sonderbaren macht. Des konkret Sonderbaren wohlgemerkt. Denn das Außergewöhnliche bleibt bei Heisl auf angenehme Weise bestimmbar und benennbar. Metaphysik im eigentlichen Sinn bleibt draußen. Mystik nistet in den Ritzen des Alltäglichen, da braucht man nicht Weithergeholtes zu bemühen. Als Magier beschränkt sich der Autor darauf, Bekanntes neu zu mischen und damit eingerostete Sehweisen aufzubrechen. Man fühlt sich mit Exotischem konfrontiert, man lernt ganz neue Farbschattierungen kennen, macht Bekanntschaft mit Unmöglichem. Überraschungseffekte überall, doch tragen sie nicht weiß-Gott-wohin, sondern bleiben in der unmittelbaren Umgebung, tragen dazu bei, diese Umgebung mit neuen Augen zu betrachten.
            So öffnet man zum Beispiel das Zugfenster und blickt in einen Kleiderschrank. Wie üblich auf Bahnhöfen steigen viele Reisende zu, doch sehen sie alle gleich aus. Oder man steigt nicht ein, hat aber das Geräusch des fahrenden Zuges im Reisekoffer. Das Närrische liegt Heisl ganz offenbar in der Feder, und so ist der Ort der Sehnsucht nicht etwa Zürich, Innsbruck oder Wien, sondern ein Ort hinter den Dingen. Der Sehnsucht zu folgen bedeutet, so scheint es, gedankliche Katakomben und Stollen aufzusuchen, um am anderen Ende in einer freieren Atmosphäre   wieder aufzutauchen und die Flügel auszubreiten. Das eine oder andere Mal hat man aber auch eine Niederung betreten und kommt von dort nicht mehr heraus, erkennt man vielmehr im Skurrilen das Abgründige und schaudert. So etwa wenn „Feriengäste“ allesamt ungarische Juden sind, die nach St. Anton am Arlberg wollen, um nachzusehen, was „die St. Antoner mit dem Gold und den Schmuckgegenständen, den Ringen und den Diamanten und so weiter angestellt hätten, nachdem damals alles vergraben oder im Gebälk einsam stehender Scheunen versteckt und wieder gefunden worden war.“ (S. 24)
            Langweilig wird dieses Buch nie, es sei denn, man möchte alles auf dem Silbertablett serviert bekommen und als Leser keine Spalten und Bruchstellen selbst überspringen müssen. Die Verweigerung des Autors, hergekommene Erwartungen zu bedienen, offenbart sich auch in der Sprache, gleichzeitig ist gerade die Sprache dazu angetan, die Lesenden vergnügt zu stimmen. Die Sprache ist nicht komplex konstruiert, sie hält einen gemächlich Trab und führt in meist kurzen Sätzen von einem zum anderen Ort, gerade so, als gäbe es da nichts Besonderes zu vermitteln. Als Leser darf und soll man sichs bequem machen und das Erzählte genießen. Dann plötzlich wird ein Haken geschlagen. Mitten in den trabenden und („normal“) dahin schreitenden Sätzen erscheint etwa eine Neuschöpfung (z.B. Eisenverstrebungsgewölbehimmel“, S. 52), eine ungewohnte Verknüpfung (z.B. „leuchteten hingebettet kaum bekleidete Mädchen“ und „verschütteten junge muskulöse Männer ein Lächeln“, S. 50) oder ein zweideutiges Kompositum (z.B. „Schokoladenfabriksgebäude“, S. 47), was ein Aufblicken, ein nachdenkliches Aha, ein Schmunzeln oder auch lautes Lachen evoziert. Und schon hat man den Faden verloren, just in dem Moment, als man anfing faul zu werden und sich bedienen zu lassen, wurde man herausgerissen und muss den Anschluss wieder suchen.
            Sowohl auf der Ebene des Geschilderten, der Ereignisse, welche eine Geschichte vorantreiben, als auch auf der sprachlich-semantischen Ebene merkt man Heisls Bahnhofsgeschichten an, dass ihr Verfasser einen Hang zur Musik hat, dass er zu improvisieren und mehrschichtige Töne zu spielen weiß. Tatsächlich war Heisl einmal in früheren Jahren Musiker. Er war aber auch einmal von Berufs wegen Zahntechniker, was der Grund dafür sein mag, dass er bei aller Bereitschaft zum Abheben auch weiß, wie man beim Schreiben den Boden wieder findet. Luftig und bodenständig, verspielt-poetisch und konkret, augenzwinkernd, närrisch und doch auch ernst sind diese Geschichten, die dem Reisen in Zeiten breitester Mobilität wieder das Geheimnisvolle, ja Abenteuerliche zurückgeben.

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Elias Schneitter, Frühstück mit Sonnenbrille. Roby und seine Freunde.
Roman
Innsbruck: Skarabäus 2005

Elias Schneitter, Zirler Autor kabarettistischer, jedenfalls humorvoll-satirischer Texte, hat jüngst einen kleinen Schelmenroman vorgelegt, der an einem langen und gemütlichen Abend ausgelesen werden kann und der ein inneres Nicken oder Schmunzeln zurücklässt. Jaja, so ist es: Wenn man sich mit Sonnenbrille zum Frühstückstisch setzt, zumal in einem geschlossenen Raum, so hat das gewiss mit einem ‚Kater’ zu tun. Entweder hat das Baby wieder durch geschrieen oder man hat die Nacht durch gezecht. Auch ein blaues Auge könnte der Grund für die Tarnung sein. Oder was sonst? Ausgestattet mit einer gewissen Neugierde macht sich die durch den Titel angezogene Leserin an die Geschichte von „Roby und seinen Freunden“ (man beachte das Augenzwinkern, nämlich die Anspielung ans Kinderbuch)  und wird nicht enttäuscht. Tatsächlich gibt es in dem Roman nicht nur eine durchzechte Nacht und auch nicht nur ein blaues Auge. Tatsächlich wird in dem Text geschluchzt, wenngleich bloß wegen des Films „Doktor Schiwago“. Und auch an anderen Katastrophen fehlt es durchaus nicht, es sind die typischen Katastrophen des ‚kleinen Mannes’. Nur, sie kommen bei Schneitter so unernst, häufig auch torkelnd daher, dass einem gar nicht bang wird dabei.

Roby, die Hauptfigur, lebt - aus bürgerlichem bzw. kleinbürgerlichem Blickwinkel betrachtet - eine randständige Existenz auf dem Dorf: Er geht kaum einer Arbeit nach, wohnt in einer Garage, repariert dann und wann Autos oder Motorräder und widmet sich hauptsächlich den täglichen Trinkgelagen mit seinen Kollegen aus der „Kugellagerbar“ oder mit seiner Freundin Rosy, einer ehemaligen Fernfahrerin. Aus der Sicht des Protagonisten selbst aber stellt sich die Sache etwas anders dar: Er sieht sich auf sympathische Weise als Nabel der Welt, er erfreut sich seines Lebens von der Hand in den Mund, gibt sich unbekümmert und widersteht jeder Reglementierung von außen. Sein einziges Problem ist seine ledige Tochter, für die er nicht Alimente zahlen konnte und kann, da er sonst seinen Lebensstil ändern müsste. Diese Tatsache, anzusiedeln zwischen Unfähigkeit und Unwillen, bringt ihn immer wieder für einige Monate in die „Völserstraße“ (= Adresse des Innsbrucker Gefängnisses). Die Geschichte beginnt damit, dass Roby wieder für ein halbes Jahr einsitzen soll, durch die Intervention eines Freundes aber einen Sommer lang Haftaufschub bekommt. Roby will sich in dieser Zeit aus dem Staub machen, was ihm nicht gelingt, weil er an Geldmangel und Alkohol scheitert. Am Ende bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich vor dem Staat zu beugen. Der Taxilenker aber, ein Student, der ihn in der Völserstraße abliefert, geht noch in derselben Nacht mit Rosy auf Zechtour, was eine Parallelhandlung ergibt.

Das Buch erhebt, so versteht man bald, nicht den Anspruch, ein Werk von ausgeprägter literarischer Qualität abzugeben. Vielmehr entzieht es sich geradezu dem Etikett ‚Werk’, veräppelt derartige Kategorien sogar ganz gehörig. Denn obwohl der Roman hauptsächlich von Säufern, Häfnbrüdern und quasi jenseits der dörflichen Idylle lebenden Individuen bevölkert wird, kommt unversehens doch auch ein Schriftsteller ins Spiel, zumindest ein Möchte-gern-Schriftsteller. Der Mann ist ein zunächst etwas kummervoller und zum Alkohol neigender Schulprofessor, der sich vornimmt, das Leben des von ihm bewunderten Lebenskünstlers Roby aufzuzeichnen, nicht zuletzt um dessen (von Roby tunlichst nie gezeigte) verletzliche Seite literarisch herauszuarbeiten. Man ahnt, dass das Vorhaben unerfüllt bleiben, dass der Professor, der sich in erster Linie nur von seiner gescheiterten Ehe ablenken will, die Geschichte nimmer beenden wird. Tatsächlich gibt es am Ende kein Buch im Buch, Robys Geschichte kann dennoch gelesen werden. Ein reizvoller Kunstgriff des Autors, der den Drang nach literarischer Verarbeitung auf die Schippe nimmt? Ein Kunstgriff, der den Protagonisten vor der beabsichtigten ‚Seelenenthüllung’ des Professors in Schutz nimmt? Oder einfach nur das Spiel mit der Möglichkeit / Unmöglichkeit, eine fremde Wirklichkeit nachzuzeichnen? Letzteres ist wahrscheinlich, denn das Buch beginnt mit einer Zirler Weisheit, die da lautet: „Alles erstunken und erlogen!“

Doch genau dagegen wird mit dieser Geschichte im Grunde angeschrieben, und das macht sie auch so lesbar und unterhaltsam. Sie ist nämlich (trotz der einen oder anderen Übertreibung) treffend, wahrer als so manches nach Wahrheit suchende Buch. Schneitter erzählt geradeheraus, mit einer Sprache, die manchmal etwas zu wünschen übrig lässt und doch eigentlich passt, mit einer Haltung, die naiv erscheint und doch eigentlich nur zeigt, wie sehr der Erzähler seine Figuren mag. Er mag sie in ihrem Schillern zwischen Lebenskunst, Beschränktheit, Selbstzerstörung und Heiterkeit. Er mag sie in ihrer Uneindeutigkeit. Er zollt ihnen Respekt. Die vorrangige Qualität dieses Textes ist, dass der Autor, neben all dem Unernst, seine außerhalb bürgerlicher Normen lebenden Typen ernst nimmt.  Als unbedarfte Leserin greift man sich an den Kopf darüber, dass in einem Text von kaum hundert Seiten derart viel gesoffen und so viel Unsinn geredet werden kann, spürt aber zugleich die unbändige Herzlichkeit des erzählenden Ichs. Die Klischees, die Schneitter bemüht, liegen am Ende alle platt und man freut sich darüber, eine leichte Lektüre nicht ohne jeden Tiefgang und einigen Lachern genossen zu haben.

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Joseph Zoderer,
 Wir gingen / Ce n’andammo.
Erzählung
Bozen: Raetia Verlag 2004 

„Ich habe einen Bock geschossen!“ Diesen Satz, dessen Bedeutung er zuerst gar nicht gekannt habe, habe er mit sich durch das Leben getragen, berichtet der Erzähler zu Beginn. Er sei 4 Jahre alt gewesen, als sein Vater diesen Satz aus sich herausbrüllte, und lange Zeit habe er nicht nach seinem Sinn gefragt. Die Worte hätten ihn nicht beschwert, vergessen habe er sie aber nie.
     Eine Südtiroler Familie - Vater, Mutter, drei Kinder, die Frau ist im sechsten Monat schwanger - wird am Bahnhof von Verwandten verabschiedet. Der Bruder trägt Lackschuhe und friert, aber es ist kein Festtag und es geht auch nicht in die Ferien. Eine Familie wird ausgesiedelt. Es ist das Jahr 1939, der Vater hat für Deutschland optiert. Ein schwerer Irrtum, ein „geschossener Bock“, wie er später begreifen wird.
     Mit „Wir gingen“ erzählt Joseph Zoderer keine einfache Familienchronik, sondern von der Suche nach einer Vergangenheit, nach einer Identität. Die Position des Erzählers ist die des zunächst Unwissenden, des sich allmählich Herantastenden, der sich kaum an etwas erinnern kann und, da die Eltern schon tot sind, den älteren Bruder befragt. Die Informationen sind aus zweiter Hand und das vergangene Geschehen wird aus Bruchstücken nur ungefähr zusammengesetzt. Doch die natürliche Distanz, die sich zwischen der Gegenwart des Erwachsenen und den Fakten, Beweggründen und Emotionen von damals ergeben, ermöglichen jene Leichtigkeit und beinahe Heiterkeit, mit der hier ein Stück lastender Geschichte erzählt wird.
     Südtirol gehörte seit 1919 zu Italien, nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Vertrag von St. Germain die Teilung Tirols zur Folge. 20 Jahre später, die Achse Rom – Berlin hatte sich gerade etabliert, soll das Südtirolproblem einer endgültigen Lösung zugeführt werden: Jeder Südtiroler musste entscheiden, ob er Italiener sein (damit würde er in der Heimat bleiben, aber seine Sprache verlieren) oder Deutscher werden wolle (demnach würde er die Heimat verlassen, aber seine Sprache behalten).        
     In seiner knappen Erzählung macht Joseph Zoderer deutlich, dass die „Option“ der unmenschliche Zwang zur freien Entscheidung war. Er arbeitet die Absurdität, ja Unmöglichkeit einer solchen Wahl heraus und nimmt den Wählern dennoch nicht die Verantwortung ab. Heimat, Sprache, Kultur waren neben den faschistischen Praktiken auf beiden politischen Seiten für manche Betroffene nur schwache Kategorien. Sie blieben abstrakt angesichts der Tatsache, dass viele Optanten zu den Besitzlosen zählten und eine Besserung ihre Situation zu erlangen hofften. Freilich vergebens. „Ich habe einen Bock geschossen!“ heißt vermutlich auch: „Es hat uns nicht einmal etwas gebracht!“ Doch die Protagonisten der Erzählung konnten die Auswanderung und Neuansiedlung mit all ihren Folgen niemand anderem als sich selbst zuschreiben. „Wir gingen“ heißt: „Wir haben uns so entschieden“.
     Der Vater des Erzählers, ein Meraner Hilfskurgärtner, Diener eleganter Gäste aus dem In- und Ausland, hat, weil er seine Kinder ernähren muss, eine mussolini-faschistische Uniform zu Hause, optiert aber für Hitler. Er tut es mit dem Bewusstsein, befreit zu werden. Doch er wird von der italienischen Stadtverwaltung sofort entlassen und gehört, da er nun als Arbeitsloser von den Reichsdeutschen lebt, zu den ersten, die tatsächlich ausgesiedelt werden. Er hofft, nicht  nach Polen zu kommen, denn dort hat Hitlers Feldzug begonnen. Die Familie kommt nach Graz, ist erleichtert darüber und wird in der Fremde nicht glücklich.
     Deutsch bleiben oder Italiener werden, das ist für arme Leute letztlich nicht die Entscheidung („eravamo nullatenenti“). Joseph Zoderer schildert diesen Tatbestand mit einem bestechend einfachen und kurz gehaltenen Text und mit der Sprache des Suchenden, dessen, der sich einer Beurteilung enthält. Es gibt in dieser Geschichte kein „Richtig“ und kein „Falsch“, und es ist vor allem die Geschichte beider Volksgruppen, die heute in Südtirol zusammenleben. Das Kapitel Option kann nur als etwas Gemeinsames betrachtet werden, scheint Zoderer sagen zu wollen. Und so erzählt er das „Weggehen“ seiner Familie konsequenterweise in beiden Landessprachen.
     Man kann das kleine Buch, von zwei Seiten beginnend, auf Deutsch und auf Italienisch oder umgekehrt lesen, in der Mitte aber kommt der Text zusammen. Zoderer, der sich literarisch stets im Schnittfeld beider Kulturen bewegt hat, geht hier auf die Wurzeln, auf das Wechselseitige und Verbindende dieser Geschichte zurück. „Ce n’ andammo“ klingt im Italienischen mindestens so wahr wie im Deutschen, die Geschichte ist konkret in Südtirol verankert, hat aber auch universelle Aspekte.
     Mit der Erzählung „Wir gingen“, von der der Verlag richtigerweise sagt, sie gehöre zur Lektüre in alle Südtiroler Schulen, ist dem bekannten Autor eine Miniatur der ganz besonderen Art gelungen: Wiewohl persönlich gehalten, bleibt der Text bei der Geschichte, schweift er nicht ab in Nebenschauplätze oder Fiktionen. Er macht darüber hinaus deutlich, wie sehr wir alle von Geschichte, der Geschichte unseres Landes, unserer Mütter und Väter geprägt sind: „Mein Vater war kompromissbereit, er wurde ein Mitläufer und ich zum Sohn eines Mitläufers.“
     Dem damals Vierjährigen ist jedenfalls eine Eigenschaft erhalten geblieben: Mit der Neugierde eines Kindes befragt er den Bruder und stellt damit eine verschüttete Beziehung wieder her. Er zwingt den Älteren, sich, zumindest ein Stück weit, ebenfalls mit der gemeinsamen Geschichte auseinanderzusetzen. Das für Optanten wie Dableiber schmerzhafte Ende kennen wir aus den Geschichtsbüchern, die vielen kleinen Schritte aber, die zur Entscheidung führten, bleiben im allgemeinen verborgen. Joseph Zoderer hat sich in seinem neuen Text dem Kleinen und Konkreten zugewandt und damit die Geschichte der Option in Südtirol, besser als jedes historische Buch es könnte, begreifbar gemacht. 

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Gotthard Bonell, Hautgrenze.
Mit Texten von Marion Piffer Damiani, Monika Knofler, Heinrich Schwazer, Peter Weiermair, Peter Paul Kainrath / Hautgrenze von
 Martin Pichler
Wien/Bozen: Folio, 2004

Durch das gesamte Schaffen des Südtiroler Künstlers Gotthard Bonell (Jg. 1953) hindurch zieht sich die Auseinandersetzung mit organischen und anorganischen Strukturen, mit dem Thema Existenz & Verfall. Der zwischen 2000 und 2003 entstandene und in dem vorliegenden Buch präsentierte (außerdem durch Textbeiträge von Kunstexperten kommentierte)Bilderzyklus stellt in dieser Hinsicht den bisher zentralsten Werkblock dar (Knofler). Beeindruckend und berührend, mitunter aber auch abstoßend treten dem Betrachter seltsame Geschöpfe in meist extremer Nahsicht entgegen: menschliche Körperteile, deren Hautstruktur oder Fleisch überdeutlich festgehalten wird, inszeniert durch ihre Position, da und dort wie Pakete verschnürt; oder Früchte bzw. an Früchte erinnernde menschliche Körperformen; pelzige, haarige oder glatt glänzende Oberflächen, deren Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen ahnbar ist, deren Herkunft und Bedeutung aber letztlich rätselhaft bleiben. Die erotische Komponente und deren Verknüpfung mit einer Atmosphäre von Vergänglichkeit und Verfall, also die unentwegt sich vollziehende Auflösung der organischen Struktur und die darin verborgene Schönheit, treten in den Mittelpunkt des Interesses. Der Titel des Buches – „Hautgrenze“ – signalisiert jene Grenze, welche das Innen und Außen entweder verbindet oder gegeneinander verschließt, womit weniger ein psychologischer Aspekt als eine leibliche Realität angesprochen, womit auch an eine Tradition angeknüpft wird. „Die Spannweite der hervorgerufenen Gefühle zieht sich von verwundbar, schützend, sinnlich, vergänglich, verbergend, spannend bis zu fast abstoßend. Bonell nennt diese Arbeiten ‚inszenierte Haut-Stilleben-Landschaften’. Es werden dabei die großen Themen der Malerei – Landschaft, Akt Portrait, Stilleben – überprüft, neu ausgelotet, miteinander verbunden oder in Ausschnitten neu definiert.“ (Knofler) Es handelt sich um eine klassisch orientierte Konzeption, die das menschliche Dasein umkreist, dabei aber den exhibitionistischen Blick nicht scheut und auch den animalischen Kampf nicht ausklammert. „In Bonells neuen Bildern haben die Erotik und der Tod ein dauerhaftes Lager nebeneinander aufgeschlagen.“ (Schwazer)
            Das vielteilige, aus zahlreichen „Votivtafeln“ bestehende Werk soll, so möchte der Künstler, zusammenbleiben und es wird auch in dem Buch – schlicht, aber ästhetisch sehr ansprechend - als ein Ganzes vorgestellt. Einbezogen und damit über seine Existenz hinaus festgehalten wird auch der Raum, in dem Bonell den Zyklus ausstellte: eine zum Abbruch vorgesehene Kunstschmiede und Schlosserwerkstatt. Der im Verhältnis zu den Bildern überdimensionale (1.000 Quadratmeter große) und vollkommen leere Raum, seine roh belassenen Wände, verkörpern nur noch die Haut oder die Schale der ehemaligen Produktionsstätte (Piffer Damiani) und unterstreichen so das Thema der Bilder.
            Eine weitere Dimension eröffnet der literarische Text von Martin Pichler, der ein interessant komponiertes Stück Prosa darstellt. In 5 Abschnitten wird die Geschichte einer Familie skizziert, das Verhältnis der Eltern zueinander und zu deren erwachsenen Kindern bruchstückhaft vorgeführt. Jeder Abschnitt eröffnet eine neue Perspektive, Mutter, Vater, Sohn, Tochter schauen in unterschiedlicher Weise und aus den je eigenen Emotionen heraus auf das Familiengefüge. Erzählt wird aus großer Distanz, denn die Familie, so erfährt man allmählich, ist in Auflösung begriffen, die Mutter stirbt und am Ende, im 5. Abschnitt, schließt ein unbeteiligter Erzähler gewissermaßen die Tür, kommentiert das Geschehen als universellen Vorgang: die Figuren der Geschichte sind blaß geworden, es gibt nur noch das Haus, die Erinnerung an einen Mittagstisch, an eine gemeinsame Zeit, es gibt „den Anrufer“, „jemanden“, „ein Orakel“. Doch obwohl Martin Pichler die Beziehungen der Menschen und das Geschehen alles in allem als flüchtig darstellt, erschafft er doch in einzelnen Abschnitten konkrete Situationen, so etwas wie ein Stück Alltäglichkeit. Die Krankheit der Mutter, ihr Sterben, die Unbeholfenheit des Vaters, die Wut des (angedeutet homosexuellen) Sohnes, die um Zusammenführung bemühte Tochter -  all das bleibt nicht abstrakt, sondern tritt plastisch hervor, es rückt so nahe, dass man es beinahe greifen kann. Aber eben nur beinahe. Im wiederkehrenden Bild des Telefons, das verbindet und wieder auseinanderreißt, das hinterher schellt, aber nicht erreicht, thematisiert Pichler – punktuell in große poetischer Dichte - seine „Hautgrenze“, die Unmöglichkeit eines wirklichen Zueinander-Kommens.  Es ist die Allgegenwärtigkeit des Todes, die Beziehung verhindert, die den Einzelnen auf sich zurückwirft und jene Egozentrik bedingt, die Annäherung und Kontakt verhindert.
            Gemeinsam ist Bonell und Pichler das Streben nach großer Detailtreue bei gleichzeitigem Streben nach einer universellen Aussage. Was Pichler, so könnte man interpretieren, mit dem akustischen Bild des Telefons herstellt, nämlich die gescheiterte Suche nach einem Miteinander, bringt Bonell durch seine Nahsichten auf Hautstrukturen, Hautpakete und Schnürobjekte auf den Punkt: Kommunikation und Austausch reichen nicht weit, Verschmelzung bleibt eine Utopie. Doch ob dies bedauert werden muß, bleibt offen.
 

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Andreas Hapkemeyer, Language in Art.
 Sprachliche Strukturen in der Gegenwartskunst.
Beispiele aus dem Museion – Museum für moderne und zeitgenössische Kunst Bozen.
Regensburg: Lindinger + Schmid, 2004

Sprachskulpturen

 

Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Direktor des Museions in Bozen, Andreas Hapkemeyer, mit einem Gebiet der Kunst, das nach der Aufbruchstimmung der sechziger und siebziger Jahre wieder mehr in den Hintergrund gerückt ist: mit der visuellen oder optischen Poesie und mit der Konzeptkunst. Nun hat er ein Buch vorgelegt, das anspruchsvolle und hochinteressante Ansätze wichtiger Exponenten dieser Kunst vorstellt, wobei sich auch auf dem Gebiet wenig bewanderte Leser angesprochen fühlen dürfen. Hapkemeyer geht in angenehmer, weil zurückhaltend persönlicher Weise an seine Sache heran und läßt die komplexe Materie plastisch und lebendig werden. Das Buch ist auch für Nicht-Experten leicht lesbar und durch Abbildungen anschaulich gestaltet. Die meisten der behandelten künstlerischen Arbeiten waren im Bozner Museion zu sehen, einige davon wurden für das Haus, das sich auf „sprachliche Strukturen in der Gegenwartskunst“ spezialisiert hat, angekauft. Die Tatsache, dass Hapkemeyer manche Künstler zum Teil seit vielen Jahren persönlich kennt und begleitet, gibt den Lesern immer wieder Einblick in den Prozeß der Entstehung eines konzeptuellen Kunstwerkes. Für Literaturinteressierte können sich anhand der versammelten Aufsätze grundsätzliche Fragen einer Textproduktion klären, die jenseits traditioneller Erzählweisen angesiedelt ist. Freilich steht, wie der Autor im seinem ausführlichen Vorwort schreibt, die bildende Kunst, stehen nicht Sprache und Literatur im Mittelpunkt des Buches. Das Experiment aber ist ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil auch der Literatur und speziell der Lyrik, vieles von dem, was Hapkemeyer über die bildende Kunst zu sagen hat, öffnet den Blick für die Intentionen der modernen, vom Konzept geleiteten Textproduktion. Abgesehen davon ist gerade das Fallen der Grenzen zwischen künstlerischen Disziplinen ein Wesensmerkmal der zeitgenössischen Kunst generell, die Auseinandersetzung mit prinzipiellen Fragen und strukturellen Prozessen in der Kunst jenseits von Gattungen erhellend.
        Wie Literatur und Kunst zusammenfinden, wird eingangs näher ausgeführt. Immer mehr Künstler bedienen sich der Sprache, um die Leerstellen der bildenden Kunst zu decken. Die documenta in Kassel und die Biennale in Venedig geben immer wieder Zeugnis davon, welch große Bedeutung die Sprache und ihre Möglichkeiten für bildende Künstler der Gegenwart einnimmt. Dabei geht es nicht nur um Bild-Text-Relationen, nicht nur um die Auslotung der Grenze zwischen Text und Bild/Skulptur, sondern um die Auseinandersetzung mit den „Nullpositionen“ der Sprache einerseits, des Bildes andererseits. Während die Sprache unfähig ist, „die visuell wahrnehmbare Wirklichkeit erschöpfend wiederzugeben“, kommt dem Bild „durch die Sprache Bedeutungen zu, die es aus sich heraus nicht an den Tag legen könnte“ (S. 18). Während etwa „die fotografische Abbildung eines Tisches sich auf einen ganz konkreten Tisch bezieht“, bringt das Wort „die Kategorie Tisch“ zum Ausdruck, „also alle möglichen Objekte, die unter den Begriff Tisch subsumiert werden können.“ [...] „Das Bild zeigt sich selbst bzw. den Gegenstand oder die Gegenstände, auf die es sich bezieht. Alles, was darüber hinaus gehen soll, bedarf der Intervention der Sprache“, gewissermaßen als Instrument der Generalisierung. Gleichzeitig schafft die Sprache „Eindeutigkeit“, während „ein Bild, das nicht auf die eine oder andere Weise in einem sprachlichen Zusammenhang steht, [...] offen und vieldeutig“ bleibt (S. 19). Und weiter: „Das Problem der Temporalität kann das Bild nur durch Bildfolgen bzw. die simultane Darstellung von Bewegungsabläufen lösen“,  auch „ist es Bildern nicht möglich, eine Negation oder eine Alternative darzustellen, ebensowenig Fragen und Befehle zu formulieren. Logische Schlüsse vermag das Denken nur mit Hilfe der Sprache auf der Grundlage von deren grammatikalischer Verfassung zu artikulieren.“ (S. 19f) Die bildende Kunst versucht, „die Grenzen des Aussagbaren durch Einbeziehen eines anderen Mediums weiter hinauszuschieben“, womit „eine Steigerung der Komplexität von Kunst“ erreicht werden soll (S. 20). Anhand der hier nur auszugsweise zitierten Ausgangsanalysen zu den Möglichkeiten von Sprache einerseits, bildender Kunst andererseits wird klar, weshalb Sprache in der zeitgenössischen Kunst eine so große Rolle spielt. Das Thema „Kunst und Sprache“ beleuchtet nicht etwa literarische Quellen, die hinter einem bildenden Kunstwerk stehen können, sondern Erscheinungsformen wie: „dem Werk vorgelagerte Texte und ihre Funktion, Sprechen als künstlerische Strategie, Skulpturen aus Sprache, das Oszillieren zwischen Bild und Schrift.“ (S. 21)  
        Das Buch versammelt 15 Aufsätze zu einzelnen Künstlerpersönlichkeiten oder Gruppen. Bezeichnenderweise widmet Hapkemeyer seinen ersten Beitrag dem amerikanischen Künstler Lawrence Weiner, dessen Textinstallationen Beispiele für Skulpturen aus Sprache sind. Weiner strebt das Maximum an Abstraktion an, die sprachliche Umsetzung von Material, völlig ungeachtet semantischer Bedeutungen oder symbolischer Konnotationen. Diese Arbeit ruft die Vorstellung des Betrachters in Bezug auf die Materialien, aus welchem die Skulptur realisiert werden soll, wach. Die „Beziehungen dieser Materialien zueinander haben keine metaphorische Bedeutung, meinen also nicht eigentlich etwas anderes, jenseits der Materialien Liegendes, sondern verweisen – in Fortsetzung des Traditionsstrangs der Konkreten Kunst oder auch des Minimalismus – nur schlicht und einfach auf sich selbst.“ (S. 39) Der künstlerische Ansatz gipfelt darin, dass das Werk gar nicht ausgeführt zu werden braucht, dass ein zeichnerisches oder schriftlich niedergelegtes Konzept genügt, weil es nur um die Vorstellung, also um einen geistigen Prozeß geht.
        Ausgehend von Weiners extremer Position faltet Hapkemeyer weitere konzeptuelle Ansätze auf, die doch in stärkerem Maß sinnlich ansprechen. Maurizio Nannuccis Schriftinstallationen spielen mit dem Zusammenfallen von Aussage und Darstellung, wobei der Rätselhaftigkeit der Aussage, unterstrichen durch das Medium Licht, wesentliche Bedeutung zukommt. Nannucci ist ein Dichter, der sich mit Sätzen, Wörtern und Buchstaben auseinandersetzt, nicht zuletzt um deutlich zu machen, „wie inadäquat Sprache im Verhältnis zur Wirklichkeit sein kann.“ (S. 55) Völlig evident wurde diese Absicht in einer bei der Biennale in Venedig 1978 präsentierten Arbeit: Nannucci ließ auf dem Himmel ein von einem Flugzeug gezogenes Transparent mit dem Schriftzug „Image du ciel“ erscheinen.
        Jochen Gerz’ „Mahnmale aus Sprache“ bringen die – anderweitig verborgene, aber doch immer anwesende - politische Dimension der Konzeptkunst deutlicher ins Spiel, wobei bei dem deutschen Künstler die dialogische Absicht noch stärker als bei Weiner und Nannuccis zutage tritt. Der Künstler eröffnet mit seinem Konzept einen Dialog mit der Gesellschaft und braucht seine Umgebung zur Vollendung des Werkes. Der Dialog und die gedankliche Präsenz treten an die Stelle des sichtbaren Objektes, sie sind das eigentliche Kunstwerk. Ein Denkmal kann der „Verweis auf etwas Abwesendes“ sein, die Reflexion, der Prozeß ist der Gegenstand. Die hier mitschwingende Gegenüberstellung von „Kunst und/oder Leben“ deutet auf die gesellschaftspolitische Relevanz der in den sechziger Jahren zu neuen Ufern aufbrechenden jungen Kunst. Hier wären auf internationaler Ebene etliche Beispiele, konkrete Arbeiten und konkrete Künstlerpersönlichkeiten, zu nennen, in Österreich sind es etwa Arnulf Reiner und Heimrad Bäcker, denen Hapkemeyer jeweils einen Aufsatz widmet, in Italien ist es u.a. der weitgehend unbekannte Gianpietro Sono Fazion, der vorgestellt wird.
        Sympathisch ist, dass ein heute nicht mehr in der Szene agierender Künstler wie Fazion in Hapkemeyers Buch ausführliche Beachtung erfährt, zeigt der Autor doch damit, dass es ihm um die Auslotung unterschiedlichster Spielarten, bei aller Exemplarität um die Präsentation eines möglichst breiten Spektrums und nicht um das Bedienen gängiger Erwartungen geht. Fazion, so stellt Hapkemeyer dar, hat bereits in den frühen 70er Jahren als junger hoffnungsvoller Konzept- bzw. Landartkünstler der Szene den Rücken gekehrt und die Frage „Kunst und/oder Leben“ mit dieser persönlichen Entscheidung radikal beantwortet. Das aus Fotoarbeiten, konzeptuellen Landkarten und einer Anzahl poetischer Texte bestehende Werk Fazons kreist um das Thema „Handlung/Nicht-Handlung“ und um den oft rücksichtslosen menschlichen Zugriff auf die Natur. In der „Sensationslosigkeit“ des Kunstwerkes und in der Verweigerung gegenüber Vermarktung jeder Art sah Fazion das Wesentliche. So durchstreifte er z.B. die Landschaft und vergrub an besonders unwegsamen Stellen Texte, den ungefähren Ort verzeichnete er auf Karten. Die Texte sollten nicht auffindbar sein, die Kunst ist der bloße Verweis auf das Verhältnis von Mensch und Natur (Serie „Non Luoghi/Nicht-Orte” 1967-86). Fazions Austritt aus dem Kunstbetrieb, die Hinwendung zu religiöser Praxis wertet Hapkemeyer als „Übergang in die Bilderlosigkeit“, als „konsequente Fortsetzung des Vorhabens, Kunstpraxis in Lebenspraxis zurückzuführen.“ (S. 112, 116)
        „Von der Schönheit des Denkens“ als zentrales Moment der Kunst des Tirolers Heinz Gappmayr handelt ein weiterer Aufsatz in dem Band. In der Affinität zur Philosophie und der Rückbezüglichkeit seiner Sprachpraxis („Wörter sind sinnlich wahrnehmbare Zeichen für Begriffe. Begriffe wiederum sind Vorstellungen“, S. 157) liegen die Grundanliegen dieses konkreten Poeten, der schon früh den Übergang der Schrift als physisches Zeichen zum Gedachten als eigentlichen Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit sah und sich in seiner Arbeit über Jahrzehnte hinweg im Spannungsfeld zwischen Gedanken und Zeichen aufhielt. In der Eröffnung eines nicht kontrollierbaren Leerraumes, dem indirekten Verweis auf Unsichtbares und Unausgesprochenes, liegt der Reiz von Gappmayrs nüchtern wirkenden Sprachgebilden und Raumkonzepten.
        Matt Mullican, Emilio Vedova, Hiroshi Sugimoto und andere: Mit jedem Beitrag wird einem einerseits die philosophische Tiefe der Konzeptkunst, andererseits ihre im Grundsatz verankerte gesellschaftskritische Dimension deutlicher vor Augen geführt. Die hier herausgegriffenen Beispiele mögen zum Lesen anregen, denn Hapkemeyers Buch ist, so sehr es auch von der konkreten Museumsaktivität in Bozen ausgeht, dazu angetan, die prinzipiellen Züge der konzeptuellen Kunst begreifbar und in all ihren Spielarten nachvollziehbar zu machen. Die „sprachlichen Strukturen in der Gegenwartskunst“ sind ein spannendes Kapitel der kreativen Welterkundung, das viel zum Verständnis der zeitgenössischen Kunst generell, auch in ihren konventionelleren Ausformungen, beiträgt.
 

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Sabine Gruber, Die Zumutung.
München: C.H.Beck, 2003, 221 Seiten

Ein Verlangen nach Hören, nach Antworten

Sabine Gruber hat mit ihrem neuen und zweiten Roman „Die Zumutung“ einen bestechenden Text über das Ich und sein Körpergedächtnis geschrieben. Die Sterblichkeit ist eine Gewissheit, mit der jeder Mensch mehr oder weniger bewusst durchs Leben geht. Doch Marianne, die Protagonistin des Romans, ist dem Tod näher als ihre Freunde, ihr Körper ist schon in jungen Jahren nicht intakt. Eine zunächst nicht geklärte Krankheit, die sich schließlich als Nierenschrumpfung herausstellt und in der Notwendigkeit regelmäßiger Blutwäsche an der Maschine mündet, dominiert Mariannes Lebensgefühl. Sie steht auf einem brüchigen Boden, sie kämpft mit lähmender Angst und einer zuweilen alles erfassenden Schwäche und macht sich doch jeden Tag aufs Neue auf, einen normalen und letztlich auch lebendigen Alltag zu leben. Die wiederkehrende Frage scheint zu sein, wie nahtlos sie sich mit ihrem Körper identifizieren will, ja muss.
Was die Schwäche der Hauptfigur in „Die Zumutung“ ausmacht, ist zugleich auch ihre Stärke. Marianne kennt die Perspektive des Todes. Und sie lebt diese Perspektive aus, spielt sie mit all ihren ernsten, aber auch offensichtlich humorvollen Seiten durch. „Als sie mich hinaustrugen“ (S. 10) ist das Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman zieht. Es ist dies das bewusste zu-Ende-Denken des eigenen Lebens, das mutige Hereinlassen des Todes, und zwar aus einem klar formulierten Grund: „Er arbeitet weniger schnell, wenn man mit ihm spricht“ (S. 7). Und so macht sich Marianne vertraut mit ihm, imaginiert in immer neuen Anläufen ihre eigene Bestattung. Derartige Inszenierungen kennt die Literatur durchaus, doch Sabine Grubers Ansatz hat nichts Morbides, Todessehnsüchtiges an sich. Der Tod gibt Perspektive auf unterschiedliche Lebensarten, er kennt kein Gefühl, aber er ist hellsichtig und registriert genau, was geschieht. „Wie die Wolken drängten sich die Trauernden aneinander“ (S. 10), und die tote Marianne sieht durch die Fassade der Menschen, die ihrer Beerdigung beiwohnen, hindurch, sie nimmt wahr und beschreibt, was vorgeht. Sie kennt die abschweifenden, in den eigenen Alltag hinausziehenden Gedanken der anwesenden Menschen genauso gut wie die Ehrlichkeit ihres Verlustgefühls, ihre Verwirrung nicht weniger als die in der Situation aufblitzenden Erkenntnisse.
Die mit der Wendung „als sie mich hinaustrugen“ eingeleiteten Beerdigungsszenen deuten auf die Weisheit dessen, der das, was die Lebenden anrührt und gefangen hält, hinter sich gelassen hat. Doch da ist nichts Mystifizierendes, schon gar nicht etwa Esoterisches in diesen Passagen. Vielmehr eröffnet dieser Erzählstrang dichte Wahrnehmungen, leicht und ungekünstelt, präzise und berührend. Wie sich die Erzählerin generell jeder Schönrederei über Krankheit als Schicksal und Chance enthält, so geht sie auch mit dem Tod nicht erhaben und bedeutungsvoll um. Sie führt eine bestechend einfache Perspektive vor, die wiederkehrenden Beerdigungsszenen durchsetzen den Romantext mit einem heiteren Ernst. Es sind vielfach poetische, oft schräge und manchmal geradezu witzige Miniaturen, die Sabine Grubers sonst realistische, am Alltag Mariannes orientierte Erzählung in einer wunderbaren Schwebe halten.
Marianne geht auf ein Fest und lernt Beppe, einen übergewichtigen und unbeholfen wirkenden Mann kennen. Ihr Gefährte Paul ist für längere Zeit in Rom und kommt nur selten in die gemeinsame Wohnung zurück. Beppe wirbt hartnäckig um Marianne und gewinnt ihre Liebe, weil er über die Fähigkeit des wachen, ungeteilten Zuhörens verfügt. Marianne erzählt Beppe – und damit auch den Lesern – ihre Körpergeschichte, die Geschichte ihrer Erkrankung und letztlich auch die Geschichte ihrer Sehnsucht nach Einverstandensein mit dem, was ihr widerfährt. Im Prozess des Erzählens nähert sich Marianne wieder ihrem fremd gewordenen Körper an, gewinnt ihn gewissermaßen zurück. Subtil wird allmählich eine Erotik des Sprechens und Zuhörens offen gelegt, ein zentrales Beziehungsmotiv des Romans. Marianne hat Freunde, die sie lieben, aber sie wehren ihr wichtigstes Anliegen unwillkürlich ab, keiner ihrer Freunde vermag wirklich hinzuhören, zuzuhören. Und so muss Marianne die Liebe der Menschen in Frage stellen. Die Freundin Erna, der ehemalige Liebhaber Leo, der gegenwärtige Geliebte Paul, der Schriftsteller Holztaler und andere sind mit ihrem eigenen, gesunden Leben beschäftigt. Sie planen neue Liebschaften und neue Romane, sie verlieren sich in Nebensächlichkeiten, geben sich scheinbar ungeheuer wichtigen Beschäftigungen hin. Sabine Gruber gelingt es, die unterschiedlichsten Charaktere vorzuführen und zu durchleuchten, ohne sie jedoch zu diffamieren. Mariannes Freunde sind durchschnittlich egozentrisch und damit durchaus auch liebenswürdig, sie denken und handeln wie Menschen das im allgemeinen eben so tun. Beppe aber richtet sich auf Marianne aus und hört stundenlang zu. Es ist ausgerechnet dieser Mann, der selbst nicht an körperlicher Liebe interessiert ist, der Mariannes Erotik und Sexualität weckt.
Sabine Gruber webt die verschiedenen Erzählstränge ineinander und erzählt so komplex und überzeugend die Geschichte einer Frau, die angesichts zunehmender Bedrohung durch ihre Krankheit hart an der Grenze des Zumutbaren lebt und erst allmählich wieder an Terrain - vielleicht ein gewisses Zutrauen ins Leben und in ihre eigene Kraft - gewinnt. Die Entwicklung vollzieht sich im Kontext des ganz normalen Lebens im künstlerisch-intellektuellen Milieu einer Stadt. Der Blick der Erzählerin auf die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der Lebenden, der Gesunden und vielfach Unbewussten ist glasklar und kritisch, aber nicht ohne Verstehen. In der deutlichen Distanzierung gegenüber der sie umgebenden Kunstszene, in Abgrenzung auch zu den Freunden und in der gleichzeitigen Öffnung gegenüber Beppe erlangt Sabine Grubers Hauptfigur ein Stück Selbstgewissheit zurück. Mariannes Gratwanderung kommt ernst, aber nicht tragisch daher, sie ist eingebettet in Alltag - Essen, Schlafen, Trinken, Freunde-Treffen, Arbeiten - und trotz allen Ernstes auch leicht und stellenweise ironisch. Vor allem aber ist da viel Humor im Detail. Dieser Humor, der sich mitunter zu witzigen und skurrilen Sequenzen zuspitzt, bereichert Sabine Grubers schon von früheren Texten her bekannte Fähigkeit zu geschliffenen Miniaturen und kleinen, poetisch aufgefädelten Beobachtungen.
„Die Zumutung“ ist in Summe ein ausgewogenes und genau kalkuliertes Lebensbild, das zum Nachdenken herausfordert, aber nicht nur. Der Roman unterhält, indem er den Faden der Spannung von Anfang bis Ende niemals verliert. Die Dialoge stimmen, die Brüche und Neuanfänge kommen zur rechten Zeit, die Konstruktion des Romans ist vielschichtig, aber keineswegs schwer. Ein leicht und luftig formulierter Text, der gerade deshalb im rechten Sinne auf die ernsten, existentiellen Dinge des Lebens zugreift.

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Bernhard Sandbichler (Hg.), Andreas Hofer 1809. Eine Geschichte von Treue und Verrat.

Ein Lesebuch.
Innsbruck: Tyrolia, 2002, 168 Seiten

andre zeiten, gleiche hofer

„wos tuin heint mitn ander hofer“, lautet ein Vers in Joseph Zoderers Gedicht „statt die hantl foltn di faischt zoagn“(S. 124) aus dem Jahr 1974. Gute Frage, denkt sich die Leserin, und schlägt Bernhard Sandbichlers Lesebuch über einen offenbar unsterblichen Tiroler Mythos, Andreas Hofer, mit der festen Absicht auf, ein wenig darin zu lesen. Nicht zu lange, es gibt schließlich lohnendere Lektüre, denkt sie, aber: Sie hat sich vor nicht langer Zeit „1809 – Die Freiheit des Adlers“ im Kino angeschaut, ein Film von Xaver Schwarzenberger nach dem Drehbuch von Felix Mitterer. Schon da hat sie sich gefragt, wieso um alles in der Welt sie diesen Film nicht als maßlos langweiliges Machwerk sofort zur Seite legen konnte. Was war da an dieser Geschichte, die trotz der Unmöglichkeit angesichts von Geschichte auch auf sie eine gewisse Faszination ausübte?
„Wos tuin heint“ mit einer so abgegriffenen und gewiss auch missbrauchten historischen Persönlichkeit wie Andreas Hofer? Die Frage bleibt grundsätzlich bestehen. Bernhard Sandbichler aber hat - das lässt sich zu Beginn der Lektüre, die nun doch eine längere zu werden scheint, schon sagen - eine interessantere und auch überzeugendere Perspektive eingenommen als Mitterer und Schwarzenberger. Er hat Texte verschiedenster Autorinnen und Autoren aus zwei Jahrhunderten gesammelt, die sich alle mehr oder weniger direkt mit Hofer beschäftigen. Er hat Hofer durch die Brille anderer betrachtet und damit eine neue Geschichte erzählt, eine Geschichte von Anziehung und Abstoßung. Von der Hymne über die Analyse bis zur Schelte ist in Sandbichlers Lesebuch alles zu finden. In diesem Licht erscheint der zunächst klischeehaft anmutende Untertitel des Buches – „von Treue und Verrat“ – nicht nur zutreffend, er verweist auch auf den ironisch distanzierten Hintergrund des Herausgebers. Denn gerade diese beiden in Zusammenhang mit der Geschichte der Tiroler Freiheitskriege gern absolut gesetzten Begriffe sind mehr der Rezeptionsgeschichte als der historischen Wahrheit selbst zuzurechnen.
Mit einem informativen Kommentar, der sich einer Bewertung weitgehend enthält, führt Sandbichler die Leser durch diese Rezeptionsgeschichte hindurch und erhellt so die Mechanismen, die wohl zu jeder Mythenbildung gehören: Es wird immer auch Eigenes in die Geschichte hineingewoben, der Standpunkt der Betrachtung färbt die Realität, setzt Akzente und unterschlägt Aspekte. Ältere Texte wie die von Friedrich Hölderlin, Joseph von Eichendorff, William Wordsworth, Bettine von Arnim oder Heinrich von Kleist stehen neben ganz jungen wie die von Claudio Magris, Felix Mitterer, Barbara Hundegger, Herbert Rosendorfer oder Georg Paulmichl, gemeinsam ergeben sie ein buntes Muster von Betrachtungsweisen. Nicht in jedem Text ist Hofer und sein Bauernkrieg der klar auszumachende Gegenstand des Textes, manche Texte setzen sich bloß mit vergleichbaren Phänomenen auseinander und deuten indirekt auf das nämliche Kapitel der Tiroler Geschichte. Allein schon die Überschau lässt die Leser ahnen, wo Wahrheit zu suchen und Lüge aufzudecken wäre. Aber mehr als einen spannenden Ausflug scheint diese Textsammlung nicht bieten zu wollen, wenn man wissen will, wie die Geschichte tatsächlich war, so muss man sich einem anderen Studium hingeben. Wie es aber zum Mythos Andreas Hofer gekommen sein mag, wird schon eingangs angedeutet: „1809 organisiert sich im Land der Widerstand gegen die Segnungen der Französischen Revolution und ein Tiroler Bauernheer siegt über die kriegserfahrenen Generäle und gedrillten Soldaten des Franzosenkaisers. (...) Mit der endgültigen Niederschlagung der Erhebung (...) rückt der Kriegsschauplatz Tirol wieder aus dem Blickwinkel Napoleons. Für Momente aber waren Tirol und sein Oberkommandant und kurzfristiger Landesregent Hofer Sand im Getriebe der Weltgeschichte“ (Klappentext). Wo einmal Bedeutung erlangt wurde, wo man einmal in die Mitte gerückt ist, da ist fruchtbarer Boden für lang anhaltende Ereiferung, für Machtphantasien, für die Fortschreibung scheinbar volksimmanenter Kraft und Aufmüpfigkeit, sprich für Legendenbildung.
„Eine Geschichte von Treue und Verrat“ ist ein Lesebuch, das solche Auslegung ermöglicht, nicht aber mit dem Finger darauf zeigt oder gar denunziert. Trotz seines schwergewichtig klingenden Themas kommt es leichtfüßig daher und vermag durchaus zu unterhalten. Die manchmal bewusst kontroversielle Zusammenstellung von mehr als 40 Texten aus zwei Jahrhunderten sowie der Kommentar liefern in der Summe viel Information, ein wohltuendes Augenzwinkern schwingt immer mit. So steht etwa Julius Mosens Text „Sandwirt Hofer“, von Leopold Knebelsberger vertont und damit zur Tiroler Landeshymne erhoben, neben den Zeilen eines H. C. Artmann, die alles Hymnische veräppeln. Verkitschte Hofer-Bilder werden nicht unterdrückt, differenzierenden oder satirischen Auseinandersetzungen wird andererseits Gehör verschafft. Sandbichler erweckt an keinem Punkt der Darstellung den Eindruck, große oder gar letzte Worte verkünden zu wollen. „‚s isch Zeit!’ sagt man in Tirol noch heute“, heißt es im Klappentext, aber der Kommentator lässt sich anders als viele Zeitgenossen an keinem Punkt zu derartig missglückten Aktualisierungen verführen.
Die Leserin, die weit öfter als je beabsichtigt das Buch zur Hand nimmt, sucht während ihrer Lektüre immer wieder nach einer Erkenntnis: ANDRE ZEITEN – ANDRE HOFER lautet ein Wortspiel des Südtiroler Autors Matthias Schönweger, das ihr seit der vor nunmehr etlichen Jahren deutsch-italienisch-ladinisch ausgeschriebenen Kulturinitiative „Wörter zu Tirol“ (DENKart/PENSart/PENSert) in Erinnerung geblieben ist. Wo sind sie, die anderen Hofer? In diesen Texten von Jacques Le Goff bis Christian Berger findet sie immer nur die gleichen. Große, moralisch erhabene Helden, kleinere Helden zuweilen, kaputte Helden manches Mal, schwach gewordene Helden zwar, aber eben immer noch Helden. Selbst bei Barbara Hundegger, die in ihrem Gedicht „innsbruck lassen 1“ ein Heer von Frauen – „bäurinnen aus dem oberland und breite senninnen mit selten gewordenen tieren“ – auf das O-Dorf zumarschieren und „schwestern aus ihren küchenhochzellen“ herabwinken läßt, um Revolution zu machen, etwa „den herwig den alois den hans wie sie heißen aus rathaus gasthaus haus“ zu holen, scheint die Suche der Leserin zunächst erfolglos zu sein. Selbst hier sind nur die Rollen vertauscht, die Zeiten verkehrt. Selbst hier zeichnet sich kein Hofer jenseits Tiroler Eigenart und ohne Kriegsgeschrei ab. Allerdings: In Hundeggers Gedicht liefert der Schlussvers „auf euch, autonome, konnten wir nicht mehr warten“ zumindest einen Ausblick. Hier deutet die Literatur zumindest die Möglichkeit an, daß Kämpfe, für welche Sache auch immer, anders geführt werden könnten.
Doch die Möglichkeit bleibt schwach, ungewiss, und die Leserin schließt Bernhard Sandbichlers Textsammlung mit der Schlussfolgerung, daß Schönweger vermutlich keine anderen, bloß weitere Hofer im Auge gehabt haben musste.

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