Die Leiche im Keller: Birgit Müller-Wielands „Flugschnee“

Sitzt da etwa ein Peter Weiss-Liebhaber in der diesjährigen Jury des Deutschen Buchpreises? Gleich zwei der Romane der Longlist weisen eklatante intertextuelle Bezüge zum  epischen Jahrhundertwerk des deutsch-schwedischen Schriftstellers auf. Während der Verweis bei Franzobels „Das Floß der Medusa“ indirekt ist – sowohl die „Ästhetik des Widerstands“ als auch dieser Roman beziehen sich auf das gleichnamige Gemälde von Théodore Géricault –, verweist Birgit Müller-Wieland in ihrem neuen Roman „Flugschnee“ gleich mehrfach und alles andere als subtil auf das Hauptwerk von Peter Weiss.

Die Handlung von „Flugschnee“ setzt im Dezember, kurz vor Weihnachten ein. Das traditionelle Familienfest steht kurz bevor, doch die Familie der Ich-Erzählerin Lucy, einer Germanistikstudentin aus Berlin, ist zerrüttet: Die Eltern haben sich schon vor Jahren scheiden lassen, die Mutter Vera lebt als einsame Künstlerin, der Vater Arnold hat eine neue Frau, mit der er vor kurzem noch ein Kind bekommen hat, der Bruder Simon ist seit einigen Wochen spurlos verschwunden.

Vielleicht begann alles in jener Nacht, nach der du mich fragtest bei unserem letzten Treffen, in jener Nacht in Hamburg vor zwanzig Jahren, als der Schnee zu fallen begonnen hatte…

In der Rahmenerzählung begibt sich Lucy auf die Suche nach Simon, trifft und befragt Freunde seines Bruders, besucht seine Wohnung und sucht nach Spuren, lässt das letzten Treffen und Gespräche Revue passieren. Die Ich-Erzählerin klammert sich an eine Bemerkung des Bruders, in der er auf ein Weihnachtsfest bei den Großeltern väterlicherseits, die in Hamburg leben, hinweist. Das Problem: Lucy war damals zu klein, um sich zu erinnern. Die Binnenerzählung rekonstruiert die Ereignisse rund um jenes Weihnachtsfest vor zwanzig Jahren aus den verschiedenen Erzählperspektiven der anderen beteiligten Figuren, der Eltern Vera und Arnold, der Großeltern Lorenz und Helene, und den geheimnisvollen Besuchern aus Italien.

Munter springt Müller-Wieland dabei in kurzen Kapiteln von einer personellen Erzählperspektive zur nächsten, und eben so munter springt sie von Thema zu Thema. „Flugschnee“ erzählt nicht nur die Geschichte einer Familie, erzählt nicht nur von dem Geheimnis um das Verschwinden von Simon, das übrigens auch am Ende nicht aufgelöst wird, sondern zusätzlich von der Demenz der Großmutter, einer Abtreibung, von akademischem Karrieredruck, vom geflüchteten WG-Mitbewohner Lucys, den bürokratischen Problemen der Asylbeantragung und Homosexualität.
Wenig kunstvoll ist dabei die orthografische Verlautschriftlichung der zahlreichen Dialoge, welche die Handlung vermutlich besonders authentisch oder unmittelbar erscheinen lassen soll – „Frühstück“ mit 4 „ü“’s vorne und 5 „ü“’s hinten zu schreiben, ist jedoch kein Kunstgriff, sondern albern und stehen in hartem Kontrast zu dem sonst eher pathetischen Erzählton, der in „Flugschnee“ angeschlagen wird.

Bei der meist wahllosen Aneinanderreihung der verschiedensten Sujets, die an Hauptsache-Für-Jeden-Was-Dabei erinnert, haben die Figuren eins gemeinsam: Sie haben eine besondere Beziehung zu Peter Weiss’ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“. So liest die Großmutter Helene den Roman, weil sie sich an ihre Berliner Heimat erinnert fühlt, die Mutter Vera – die eigentlich aus Österreich, davor noch aus Siebenbürgen stammt und durch ein tragisches Schicksal familienlos ist – entscheidet sich nach der Lektüre für den Neuanfang in Berlin, lernt auf einer Zugfahrt über den Roman auch Lucys Vater Arnold kennen, der sie schwer beeindruckt, als er eine Passage frei rezitiert, und auch Simon hat den Roman von Weiss gelesen.

Es verwundert kaum, dass Birgit Müller-Wieland über „Die Ästhetik des Widerstands“ promovierte, wie auf der Verlagswebsite nachzulesen ist. In ihrer Besprechung für die österreichische Zeitung Die Presse vermutet Johanna Öttl, die Autorin versuche das Erzählprinzip von Weiss’ Roman auf „Flugschnee“ zu übertragen: „Am Beginn der ‚Ästhetik‘ beschreibt Weiss den Pergamonaltar als fragmentiertes Gewimmel von Objekten, von Menschlichem und Tierischem. Es ist erst der Blick aus der Distanz, der es ermöglicht, die Gesamtkomposition des Reliefs zu erfassen. Ähnlich verhält es sich mit den Erinnerungen der Figuren, die sich Mosaikstückchen ähnlich langsam zum Bild dieser Familie und ihrer Geschichte zusammensetzen lassen.“ Ganz so ist es jedoch nicht – bei Müller-Wielands stellt sich kein wirkliches Gesamtbild ein, die Mosaikstückchen lassen eine Konzeption erkennen, aufgehen tut diese jedoch nicht. Es scheint, als habe die Autorin sich an ihrem großen Idol verhoben.

Zudem versucht „Flugschnee“ durch viele Andeutungen und Cliffhanger in den abwechselnden Erzählperspektiven Spannung zu erzeugen, die auf die Ereignisse jenes Weihnachtsfest vor 20 Jahren hinausläuft und welches auf den letzten dreißig Seiten des Romans aufgelöst wird. Das Ende ist so ernüchternd wie plakativ: Jede Familie hat eine Leiche im Keller, wie Antje Weber bereits in der Süddeutschen Zeitung bemerkte. Was diese Auflösung des Rätsels wiederum mit dem Verschwinden des Bruders Simon zutun hat, wie zuvor angedeutet wurde, bleibt fraglich.

Nicht Dunkelheit, nicht Krabbeltiere, weder Krokodil noch schwarzer Mann, nein, meine Ängste kommen von da her: aus diesem hellen Nichts aus Flocken.

„Flugschnee“ – das ist das titelgebende Bild, das Müller-Wieland für jene Familienerinnerungen findet, die wie jener Flugschnee so fein sind, dass sie sich immer ihren Weg bahnen.
Schnee, sehr viel Schnee, der bedeckt und begräbt, die Realität tilgt und die Erinnerung erst ermöglicht, Schnee, der für den Tod steht und zur Urangst wird: Die Autorin überspannt in ihrem Roman das so traditionsreiche Motiv, sodass es in Plakative umschlägt. Ähnlich ist es mit den vielen verschiedenen Themengebieten, die der Roman tangiert – alles bleibt plakativ, manchmal stereotyp, und deshalb wenig genau. Kenner der „Ästhetik des Widerstands“ können sicher noch mehr eindeutige Verweise auf das Hauptwerk von Peter Weiss in „Flugschnee“ erkennen – so zum Beispiel in der künstlerischen Arbeit von Vera, die als Bildhauerin den Marmor bearbeitet, der in Form des Pergamonaltars die „Ästhetik“ eröffnet –, die restliche Leserschaft aber bleibt nach der Lektüre wohl eher ratlos zurück.


Wir danken dem Otto Müller Verlag für das Rezensionsexemplar.

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