Obsessionen eines Studenten: Aljoscha Brells „Kress“

Nein, mit Kress, dem Protagonisten des gleichnamigen Debütromans von Aljoscha Brell, kann man beim besten Willen nicht sympathisieren. Der Student der Literaturwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität Berlin ist ein Einsiedler, ein Wutbürger, ein Besserwisser, der niemandem seinen Vornamen verrät. Kress ist ein Misanthrop – bis er auf Madeleine trifft. Auf dreihundertdreißig Seiten erstellt Brell das Psychogramm eines obsessiven Charakters.

Der aus personaler Perspektive erzählende Roman stellt auf seinen ersten neunzig Seiten den von Obsessionen geleiteten Protagonisten vor. Kress, der aus einer Kleinstadt nahe Münster kommt, lebt seit Beginn seines Studiums vor einigen Jahren in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung in Berlin-Neukölln. Den einzigen Besuch, den er empfängt, ist Gieshübler, eine Taube, die täglich auf seiner Fensterbank landet.

Aber in keinem der Sätze sehe ich Sie, Herr Kress. Ihre eigene Stimme fehlt.

Kress nimmt nichts ernster als sein geisteswissenschaftliches Studium. Als angehender Goethe-Experte verbringt er jede freie Minute mit seiner Goethe-Gesamtausgabe, selbst den hohen Ton seiner Lektüre hat er sich – möglicherweise auch aufgrund der mangelnden menschlichen Gesprächspartner – angeeignet: „Es wird um Ruhe gebeten“, ermahnt Kress seine Kommilitonen im Seminar oder er konstatiert „Ich schätze die Bibliothek sehr.“ Genau deswegen, und vermutlich auch aufgrund der mangelnden Sozialkompetenz, wird er auch von Professor Schleicher, seinem akademischen Vorbild, abgelehnt, als er sich auf die ausgeschriebene Hilfskraftstelle am Lehrstuhl bewirbt, da seine Ersparnisse aufgebraucht sind.

Indes trifft Kress in einem Seminar Madeleine Fischer, die mit Verspätung zum Seminar erscheint. Eigentlich ist dieser Fauxpas für Kress Grund genug, ihr bodenlose Verachtung entgegenzubringen, aber Madeleine fasziniert ihn so sehr, dass er gleich ein Internetcafé aufsucht, um sie zu googlen, Informationen über ihre (wissenschaftliche) Vergangenheit herauszufinden, ein Foto auszudrucken und es sich über den Schreibtisch zu pinnen.
Als er sie zufällig in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni trifft, sucht er das Gespräch, aber schnell wird klar, Kress ist Madeleine suspekt. Unbefangener ist da ihre Freundin Mona, die sich kurzerhand mit Kress für den Heimweg verabredet. Als sie ihm zum Spaß in der Buchhandlung einen Ladendiebstahl anhängt, werden sie erwischt. Doch statt Mona zu beschuldigen, nimmt Kress, der Misanthrop, die Schuld auf sich: nicht aus Ritterlichkeit, sondern um sich über Mona bei Madeleine gut zu stellen.

Gemeinsam mit den beiden Freundinnen und vielen ihrer Freunde fährt der Einsiedler Kress zum Zelten an einen brandenburgerischen See. Hier, im zweiten Kapitel von Brells Roman, nimmt die Geschichte Fahrt auf, als der Protagonist erst Madeleine seine Liebe gesteht, einen Korb kassiert und daraufhin mit Mona schläft – und am nächsten Morgen verschwindet.

Von nun an geht es bergab mit Kress. Der bis hierher geschilderte Literaturfanatismus erscheint harmlos im Gegensatz zur Obsession, welche Brells Protagonist für Madeleine entwickelt. Bei seiner Arbeit in der Wirtschafts- und Rechnungsstelle und dem Referat für besondere Personalangelegenheiten, in der Kress die Post für die jeweiligen Institute sortiert, fällt ihm ein Brief an Madeleine in die Hände, der von Schleicher stammt, und entwendet ihn. Als er den Brief öffnet, erfährt er, dass sie anstatt seiner die Hilfskraftstelle bewilligt bekommen hat.

Im Besitz ihrer Adresse beginnt Kress, Madeleine aufzulauern, er folgt ihr und ihren Freunden in einen Club, sieht sie dort mit einem anderen Mann und ist so erschüttert, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben betrinkt. Und nun erfährt der Leser endlich, was der Grund für das merkwürdige Verhalten des Herrn Kress ist: seine Mutter war Alkoholikerin. Als er am Morgen nach der durchzechten Nacht erwacht und den entwendeten Brief sucht, den er in Madeleines Briefkasten geworfen zu haben glaubt, findet er ihren Haustürschlüssel. Die Obsession für „die Verspätung“, wie er sie nennt, wächst ins Unermessliche. Er bezieht eine Ruine gegenüber ihrer Wohnung, er beobachtet sie, und wenn sie das Haus verlässt, betritt er ihre Wohnung. Das Stalking-Motiv wird nicht ansatzweise so ausbuchstabiert wie bei Clemens Setz, aber steigert sich von Seite zu Seite und führt schließlich zu einer völligen Verwahrlosung des Protagonisten. Kress wird paranoid: er dichtet Madeleine eine Affäre mit Schleicher und eine Schwangerschaft an.

Wie Kress endet, ist ab etwa der Hälfte des Romans für den Leser vorhersehbar. Auf den letzten Seiten erfährt der Leser auch – wie könnte es anders sein – das größte Geheimnis des Protagonisten: seinen Vornamen. Schade, konsequenter wäre es gewesen, ihn zu verschweigen. Im Ganzen wirkt Kress etwas konstruiert, etwas mehr Subtilität hätte dem Roman, der primär von seiner Handlung lebt, gut getan. Dass das Motiv der Alkoholsucht der verstorbenen Mutter nicht breitgetreten, sondern fast nebenbei eingeworfen wird, und Kress nach dem einmaligen Rausch nicht selbst zum Trinker mutiert, ist dem Text hoch anzurechnen.

„Es erklärt einem niemand, wie man einen Roman schreibt“, sagt Aljoscha Brell dem Tagesspiegel, und ja,  sprachlich gesehen ist sein Debüt zugegebenermaßen teils noch etwas ungelenk und eindimensional. Auffällig viele Nebensätze werden von der Konjunktion „dass“ eingeleitet [„Was ihm gerade heute besonders auffiel, war, dass…“, Kress‘ Unglück bestand darin, dass…“], es schwingt ein erklärender Ton des Erzählers mit, den der Text durch seine personale Erzählsituation eigentlich nicht braucht.  An einigen Stellen scheint jedoch durch: diese junge Stimme der Gegenwartsliteratur hat Potenzial:

Die Dunkelheit, die das riesige Insekt umgab, war nicht irgendeine Dunkelheit, sondern die perfekte Dunkelheit, die Art von Dunkelheit, die nicht bloß das Gegenteil von Helligkeit ist, sondern die jede Helligkeit in sich tilgt und sich von ihr ernährt. Die Fliege war nicht wegen der Verspätung erschienen oder wegen Schleicher oder wegen irgendetwas anderem, sondern für ihn war sie erschienen, nur für ihn, und nicht ers heute Nacht war sie erschienen, sondern die ganze Zeit über war sie da gewesen, seit er hier oben auf dem Dachboden wohnte, und – wer wusste es – womöglich viel länger.


Wir danken Ullstein für das Rezensionsexemplar.