Vladimir Vertlib, der in Sankt Petersburg geborene Schriftsteller, welcher in seiner Kindheit mit seinen Eltern aus Russland emigrierte und sich schließlich in Österreich niederließ, publiziert seit rund zwanzig Jahren regelmäßig Romane und Erzählungen. Lucia Binar und die russische Seele ist kein literarisches Debüt, sondern der Text eines handwerklich versierten Autors, dem man seine Erfahrung anmerkt: keine Experimente, sondern einfache, solide Erzählprosa – das ist Lucia Binar.
Vertlibs bisherige Veröffentlichungen verhandeln überwiegend die Frage und Suche nach der jüdischen Identität, den russischen Wurzeln und dem Leben im Exil. Sein neuer Text streift diese Themen nur periphär. Lucia Binar und die russische Seele ist ein Roman über das Wien der Gegenwart: eine Stadt im Wandel, das einen Kompromiss zwischen Traditionsbewusstsein und Moderne sucht. Im Zentrum steht die titelgebende Seniorin Lucia Binar, die sich gegen die Gentrifizierung in ihrer Straße wehrt.
In der Großen Mohrengasse wurde ich geboren. In der Großen Mohrengasse werde ich sterben.
Das ist das Mantra der Protagonistin, nach der Vertlibs neuer Roman benannt ist. Lucia Binar ist mit ihren dreiundachtzig Jahren die Letzte ihrer Generation. Alle Gleichaltrigen, die sie in ihrem Leben kannte, sind bereits verstorben. Zu ihren zwei Kindern hat sie nur sporadischen Kontakt. Gesellschaft leisten ihr vor allem Dichter und Gedichte, die sie ständig und zu allen Gelegenheiten zitiert und die ihr als Weltzugang und Erklärungsmuster dienen. Ihr letzter Wunsch ist es, dort sterben zu können, wo sie zu Hause ist: in der Großen Mohrenstraße im zweiten Wiener Bezirk.
Der Plan wird jedoch zweifach durchkreuzt. Zum einen startet ihr junger Nachbar Moritz von Lucia eine Petition, um den politisch unkorrekten Straßennamen zu ändern – zuerst sollen alle Befürworter nicht mehr die „Große Mohrengasse“, sondern die „Große Möhrengasse“ als Adresse angeben, später soll dann eine Umbenennung in Nelson-Mandela-Gasse durchgesetzt werden –, zum anderen versucht der Hauseigentümer Willi Neff die Mieter mit verschiedenen Schikanen zum Auszug zu drängen, um das Haus mieterfrei renovieren und gewinnbringend verkaufen zu können. Er schaltet den Strom ab und quartiert Asylsuchende und Drogenabhängige in das Haus ein. Rassismus und Gewalt halten Einzug in der Großen Mohrengasse. Sowohl die „political correctness„-Debatte als auch die Gentrifizierungsthematik inszenieren den Wandel der Stadt Wien, die ihren Platz zwischen Tradition und moderner Metropole sucht.
Lucia Binar steht nicht allein im Fokus des Texts. Der Roman, der in drei Teile bzw. die Monate März, April und Mai gegliedert ist, umfasst zwei Erzählstränge mit unterschiedlicher Narrationsperspektive, die im Verlauf immer näher ineinander verwoben werden. Zum einen erzählt das Ich, Lucia Binar, im Präsens von den Veränderungen in ihrer Straße und ihrem Haus, zum anderen wird die Geschichte von Alexander und Elisabeth aus auktorialer Perspektive im Perfekt wiedergegeben. Narratologisch ist das interessant: mittelbares und unmittelbares Erzählen wechseln sich ab, die beiden Handlungsebenen, die in unterschiedlichen Zeitmodi wiedergegeben sind, werden verschränkt.
Alexander und Elisabeth treffen im zweiten Romankapitel aufeinander. Als sie zufällig im selben Aufzug fahren, überleben sie nur knapp einen Unfall und fühlen sich so vom Schicksal zusammengeführt. Elisabeth Klamm, eine verwitwete Mutter, die im Sozial-Callcenter arbeitet und der Anruferin Lucia Binar bereits im ersten Kapitel eine unverschämte Antwort gab, kündigt ihre Arbeit und beginnt ihr neues Leben mit dem aus Russland stammenden Alexander Borisowitsch. Dieser erzählt seine Geschichte ausführlich im zweiten Teil des Romans, die, wie das Haus von Lucia in der Großen Mohrengasse, von Rassismus und Gewalt geprägt ist. Gemeinsam arbeiten Elisabeth und Alexander für Viktor Viktorowitsch:
Mit Viktor Viktorowitschs russischer Seele zum Weltgeist vordringen. Metaphysische Wege zu sich selbst. […] Alles fließt! Blockaden lösen, sich selbst im Weltgeist entdecken. Eine russische Seelenreise mit Viktor Viktorowitsch und seinem metaphysischen Quartett.
Die Figur und die Arbeit Viktorowitschs stehen in Opposition zum realistischen, wirklichkeitsnahen Erzählen von Lucia Binar und der Familiengeschichte von Alexander. Es bleibt bis zum letzten Teil des Romans nicht klar, was genau die Profession des „siegenden Siegers“ ist.
Erst beim Besuch einer vermeintlichen Zaubershow, der Lucia und der studentische Nachbar beiwohnen, wird klar, dass der Leser es mit einer Bulgakow’schen Teufelsfigur à la Meister und Margarita zutun hat: Zuschauer werden an ferne Orte gezaubert, ein sprechendes Kaninchen moderiert die Show, Prophezeihungen werden Realität. Als alle Teilnehmer sich etwas wünschen sollen, hofft Lucia auf ein baldiges Ende der Querelen in ihrem Haus – und prompt entpuppt sich ein Zuschauer als rechtmäßiger Erbe der Immobilie, dessen Verwandte im Zuge des Zweiten Weltkriegs enteignet wurden. Am nächsten Tag ist das Haus wie verwandelt und der Roman zu Ende.
Was also ist genau diese russische Seele, in der im Romantitel die Rede ist? Die Antwort fällt nicht leicht, der letzte Teil des Romans mit der Zaubershow von Viktorowitsch fügt sich nicht recht in das zuvor Erzählte ein. Möglicherweise meint die Phrase das magische Moment, die Fantasie, die der österreichischen Tradition vermeintlich fehlt? In Alexanders Familiengeschichte heißt es, die russische Seele manifestiere sich im Wort „nado“, „man muss“, „man meistert das Elend“, und: „Wer nicht betroffen war, hielt die Türen geschlossen und mischte sich nicht ein.“ Genau das tut Lucia Binar nicht. Sie kämpft für ihr Recht, in „ihrem“ Haus zu sterben und lässt sich schließlich dazu versehentlich mit dem Teufel ein.
Lucia Binar und die russische Seele ist ein kurzweiliger Text, der irgendwo zwischen erzählter Wirklichkeit und magischem Realismus einen Teil seiner Überzeugungskraft einbüßt.
Aus Gründen der Transparenz sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Besprechung auf einem Rezensionsexemplar basiert, das uns vom Deuticke Verlag freundlicherweise kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde. Dies hat selbstverständlich keinen Einfluss auf die Rezension des Romans.
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