November 1918. Helle, der eigentlich Helmut Gebhard heißt, wohnt in der Ackerstraße, der ärmsten Straße des Wedding. Hier wohnen die Menschen auf engstem Raum in hohen Mietskasernen, in feuchten, schimmeligen Kellerwohnungen, zugigen Dachkammern, in Schuppen auf den dunklen Hinterhöfen, Tbc-krank, frierend, hungrig: Der Krieg dauert schon vier Jahre. Hier erlebt Arbeiterkind Helle, etwa dreizehn Jahre alt, die Novemberrevolution, jene „gescheiterte Revolution“ –

Klaus Kordon: „Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter“; Beltz Verlag, Weinheim; 487 S., 24,80 DM.

Der Autor greift damit ein Stück deutscher Geschichte auf, die in der Literatur für junge Leute im Gegensatz zu der, die das Dritte Reich behandelt – bisher nahezu vergessen worden ist. Die aber zum Verständnis der Nazizeit so wichtig, ja unumgänglich ist.

Helles Vater kehrt von der Front zurück, verletzt an Körper und Seele, verändert, illusionslos. Er war „stolz und lachend“ in den Krieg gezogen, um sein Vaterland zu verteidigen. Er hat auf dem Schlachtfeld das Grauen und die Sinnlosigkeit kennengelernt, weiß, daß „die wahren Nutznießer eines Krieges nur die sind, die an ihm verdienen – die Industrieherren“, die Kanonen, Bomben, Granaten herstellen. Auch das hat sich bei Helles Vater geändert: Aus einem gemäßigten Sozialdemokraten ist ein radikal denkender und handelnder Sozialist geworden. Er schließt sich den Spartakisten um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an, nimmt teil an Demonstrationen und Kämpfen, um „den Kaiser fortzujagen und den Krieg zu beenden“. Es sind schwere Kämpfe von Dezember 1918 bis Januar 1919, angeführt und ausgelöst durch die Kieler Matrosen, die auch nach Berlin kamen. Bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe, an deren Ende zunächst der Sieg (Arbeiter- und Soldatenrat, „Rat der Volksbeauftragten“) stand, dann aber doch „die Niederlage“. Denn mit einem Friedrich Ebert, der mit dem Militär paktierte, wollten die Spartakisten nichts zu tun haben.

Helle erlebt, beobachtet, hört alles mit, im Haus, auf der Straße, in Verstecken, beim Marsch aufs Schloß, beim Verteilen von Flugblättern und der Besetzung der Zeitungsgebäude. Er wird hautnah konfrontiert mit den Grausamkeiten der Straßenschlachten, lernt den Tod kennen, das Leben im Untergrund, den Mut und die Verzweiflung der Kollegen seines Vaters. Er erlebt die Liebe, Freundschaft und Solidarität in der Familie, von Freunden und Nachbarn.

Für Helle ist besonders wichtig, daß er fragen kann: In seiner Familie diskutiert man offen, trägt Konflikte aus, auch Helles Zweifel und Widersprüche werden ernst genommen. Das ist nicht selbstverständlich – sein Freund Fritz, bürgerlicher Beamtensohn und Gymnasiast, wird zu Hause nur mit Phrasen abgespeist oder mit Stubenarrest und Schlägen bestraft. Gerade um diese Freundschaft, gegen alle väterlichen Widerstände, bemühen sich die beiden. Obwohl so viel Fremdes zwischen ihnen steht: große Mietskaserne, winzige Räume, stinkende Abflüsse mit Ratten, Petroleumbeleuchtung, ein Klo für mehrere Mietparteien – das ist Helles Realität.

Treppengeländer mit Engelsköpfen, Fenster mit bunten Glasstücken, bleigefaßt, elektrisches Licht, Wohnungen mit hohen Fenstern, Balkon, weißen Tischdecken, gehäkelten Deckchen, Bildern an den Wänden, Sofas mit bestickten Kissen – das gehört zu Fritz. Nach aller Mühe umeinander endet diese Freundschaft mit der bitteren Erkenntnis, daß die Unterschiede unüberbrückbar sind.