Die Geschichte von Lena Christ ist schon lange zu Ende. Die Schriftstellerin starb vor 85 Jahren in München. Damals war sie berühmt, vor allem wegen ihrer ergreifenden Autobiografie Erinnerungen einer Überflüssigen, in der sie ihre Jugend als misshandeltes Kind beschreibt. Es gibt nicht viele Misshandlungsopfer, die im Erwachsenenalter die Kraft haben, ihre Vergangenheit aufzuschreiben.

Lena Christ wird unehelich geboren, wächst zunächst bei den Großeltern auf dem Lande auf und begegnet ihrer Mutter erst mit fünf Jahren. Die betreibt mit ihrem neuen Ehemann in München ein Gasthaus und nimmt das Kind zu sich. Für Lena endet damit die gute Zeit ihres Lebens. Den Rest ihrer Jungend verbringt sie in Angst oder auf der Flucht vor ihrer Mutter.

"Geliebt hat mich meine Mutter nie; denn sie hat mich weder je geküsst noch mir irgendeine Zärtlichkeit erwiesen", schreibt Lena Christ, "aber nach der Geburt ihres ersten ehelichen Kindes behandelte sie mich mit offenbarem Hass. Jede, auch nur geringste Verfehlung wurde mit Prügeln und Hungerkuren bestraft, und es gab Tage, wo ich vor Schmerzen mich kaum rühren konnte." Lena gehört einer kleinbürgerlichen Wirtsfamilie an, die von der Anstrengung, nach oben zu kommen und dabei einen guten Eindruck zu machen, vollkommen in Anspruch genommen ist. Manchmal darf sie mehrere Tage nicht aus dem Zimmer, weil die Leute ihre Hämatome und Striemen nicht sehen sollen. Immer wieder reißt Lena von zu Hause aus. Einmal bricht sie dabei auf der Straße ohnmächtig zusammen, ein anderes Mal wird sie von der Polizei aufgegriffen und schwer krank ins Hospital gebracht. Aber niemand hilft ihr aus der Not.

Mit 20 Jahren rettet sich Lena Christ in die Ehe mit einem Mann, den sie kaum kennt. Die Mutter wünscht ihr zur Hochzeit: "Du sollst keine glückliche Stund haben, und jede gute Stund sollst mit zehn bitteren büßn müssn." Und so kommt es auch. Die Ehe wird eine Katastrophe: Der Mann ist gewalttätig, verspielt alles und wird schließlich in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht. Lena Christ kommt so herunter, dass die Stadt München sie ins Krankenhaus einweist und ihre Kinder ins Kloster steckt.

Alles scheint sich zum Guten zu wenden, als die 30-jährige Lena Christ 1911 auf den unbekannten Schriftsteller Peter Benedix trifft. Er ist hingerissen von ihr und ihrer Erzählkraft. Er bewegt sie dazu, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, die alsbald veröffentlicht wird. Danach erscheinen weitere Romane, die ein bewegendes und lebendiges Bild Bayerns um 1900 überliefern und von der Gnadenlosigkeit und der Komik des Bauernlebens handeln. All ihre Geschichten, ihre Figuren, den tiefen Humor und die Fähigkeit zur Freude schöpft die Schriftstellerin allein aus den ersten glücklichen Jahren ihrer Kindheit.

1912 heiratet Benedix schließlich Lena Christ und merkt nun, wie schwer die mütterliche Grausamkeit das ganze Wesen der jungen Frau geschädigt hat. Tiefe Depressionen wechseln sich mit Abwesenheitszuständen ab, wie sie für misshandelte Kinder typisch sind. "Das psychische Leiden, von dem meine Frau befallen war, äußerte sich in Bewußtseinstrübungen, ja bis ans Irresein grenzenden Störungen", schreibt er später über sie. "Sie sah nichtvorhandene Dinge und Menschen", zum Beispiel immer wieder ein Kind, das vom gegenüberliegenden Dach zu stürzen drohte. Nachts stößt Lena Christ lautes Stöhnen und Hilferufe aus, weil sie von ihrer Mutter träumt. "Sie war beständig auf der Flucht vor sich selbst oder ihren Dämonen", schreibt Benedix. "Es geht solchen Leuten nicht anders als einem Flüchtling, der durch einen finsteren Wald läuft und hinter sich die Stimmen der Verfolger hört."

Doch die Dämonen holen sie ein. Es gelingt Lena Christ nicht, den Traumatisierungen ihrer Kindheit zu entkommen. 1918 muss Benedix in den Krieg ziehen, die Einsamkeit hält Lena Christ nicht aus. Sie stürzt sich in eine aussichtslose Leidenschaft mit einem viel jüngeren und charakterlich instabilen Mann. Im Abschiedbrief an Benedix schreibt sie: "Ich bin so elend beisammen, so zermürbt, dass ich nicht mehr kann. Dass das Glück sich von mir wenden wird, weiß ich bestimmt. Ich falle eben doch dem Schicksal anheim, welches mir meine Mutter gewünscht hat."

Als Benedix seine Frau ein Jahr später wiedertrifft, ist sie durch Betrügereien straffällig geworden und völlig ruiniert. Seine Hoffnung, sie kehre vielleicht zu ihm zurück, zerschlägt sich. Lena Christ will nur noch sterben. Als er sie davon nicht abbringen kann, tut er ihr einen letzten Liebesdienst und besorgt bei einem Chemiker Zyankali. Am 30. Juni 1920 begleitet er sie auf den Münchner Waldfriedhof, wo sich die 38-jährige Schriftstellerin auf ein Grab legt und das Gift schluckt. Dem Ehemann hinterlässt sie ihre beiden Kinder und ein Lichtbild ihrer Mutter. "Der Ausdruck dieses an sich wohlgebildeten Gesichtes", schreibt Benedix über das Foto, "ist so böse, ja grausam, dass daraus die Leidensgeschichte eines unehelichen Kindes unmittelbar abzuleiten ist."